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»Vieles liegt hinter mir. Nach der Seefahrt - welche Landreisen! Der Weg vom Atlantischen zum Stillen Ozean. Nicht in einem Hieb, sondern mit Wanderfahrten, Wunderfahrten kreuz und quer.« Alfred Kerr. Nach über 90 Jahren wiederentdeckt: Im Frühling 1924 reiste Alfred Kerr von New York bis Los Angeles und schrieb einen literarisch brillanten Text, der zugleich eine kritische Momentaufnahme darstellt. Trotz etlicher von ihm konstatierter »Untergangsmöglichkeiten für Amerika« stimmt er eine Hymne auf die viel gescholtene Nation an und lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was er an Land und Leuten so…mehr

Produktbeschreibung
»Vieles liegt hinter mir. Nach der Seefahrt - welche Landreisen! Der Weg vom Atlantischen zum Stillen Ozean. Nicht in einem Hieb, sondern mit Wanderfahrten, Wunderfahrten kreuz und quer.« Alfred Kerr. Nach über 90 Jahren wiederentdeckt: Im Frühling 1924 reiste Alfred Kerr von New York bis Los Angeles und schrieb einen literarisch brillanten Text, der zugleich eine kritische Momentaufnahme darstellt. Trotz etlicher von ihm konstatierter »Untergangsmöglichkeiten für Amerika« stimmt er eine Hymne auf die viel gescholtene Nation an und lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was er an Land und Leuten so verehrt - atemberaubendes Naturschauspiel, Wagemut, Pragmatismus ohne Zaudern und bürokratische Hürden, anhaltende Offenheit für Überraschungen und Wunder. »Eigentlich ist es schade um jede Zeile, die man über Alfred Kerr schreibt, anstatt einfach seine Texte abzudrucken.« Evelyn Roll, Süddeutsche Zeitung
Autorenporträt
Alfred Kerr, der einflußreichste deutsche Kritiker und Essayist, wurde 1867 in Breslau als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studierte in Breslau und Berlin, wo er seit 1887 lebte und für große Zeitungen und prominente Zeitschriften seine maßstabsetzenden Theaterkritiken schrieb: für das "Magazin für Literatur", den "Tag" und das "Berliner Tagblatt" wie für die "Neue Deutsche Rundschau". Seine Bücher wurden 1933 von den Nazis verbrannt und er floh über die Schweiz und Paris nach London. Kerr starb 1948 in Hamburg.Von seinen Werken seien genannt: Die Welt im Drama (1917); Die Welt im Licht (1920); Es sei wie es wolle,/Es war doch so schön (1927); Die Diktatur des Hausknechts (1931).Günther Rühle, Herausgeber von Kerrs Berliner Briefen, wurde 1924 in Gießen geboren. Er arbeitet 25 Jahre als Kulturredakteur der FAZ, bevor er 1974 deren Feuilleton übernahm. 1985-1990 war er Intendant am Schauspiel Frankfurt und anschließend Feuilletonchef des Berliner "Tagesspiegel

s". Seit 1995 lebt er in Bad Soden. Günther Rühle ist Autor umfangreicher Publikationen zum deutschen Theater und Herausgeber der Gesammelten Werke von Marieluise Fleißer und Alfred Kerr.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2020

Amerikas Mangel an Verschwommenheit

1924 besuchte der deutsche Kritiker Alfred Kerr die Vereinigten Staaten. Sein Reisebuch hat vor allem einen Gegenstand: den Reisenden selbst.

Er ist ein schrecklicher Aufschneider. Allerdings hat er auch etwas, womit sich prahlen und angeben lässt: seine Sprachgewalt. Sein Einfallsreichtum, seine Kreativität, seine schamlos-gierig um sich greifende Lust am eigenen Einfall sind ungeheuer. Andere schreiben - Seite um Seite. Alfred Kerr dekoriert - Schaufenster um Schaufenster. Er ist der geniale Arrangeur alles Überbordenden, Unmäßigen, Effektversessenen. In Amerika fühlte er sich zu Hause. Das Land war wie er. Deshalb hätte er dort auf Dauer nicht leben wollen.

Kerr, 1867 im schlesischen Breslau geboren und der einflussreichste Theaterkritiker seiner Zeit, reist 1924 zusammen mit seiner Frau Julia, der Tochter des preußischen Staatssekretärs Robert Weismann, durch die Vereinigten Staaten. Im August 1933 wird Weismann zu den ersten Deutschen gehören, denen die Nazis die Staatsbürgerschaft aberkennen - wie Tucholsky, Heinrich Mann, Ernst Toller und wie sein Schwiegersohn. Aber jetzt, neun Jahre zuvor, wird Alfred Kerr im Weißen Haus vom amerikanischen Präsidenten empfangen und durchstreift dank einer Sondererlaubnis den eigentlich um diese Jahreszeit für Besucher geschlossenen Yellowstone-Nationalpark. Er ist kein Tourist wie tausend andere, und es ist ihm wichtig, dies seinen Lesern in Deutschland möglichst rasch deutlich zu machen. Aber es ist ihm nur nebenbei wichtig. Privilegien sind schön und gut, vielleicht sogar unentbehrlich, aber sie sind auch selbstverständlich, wenn man sich für Alfred Kerr hält. Und Kerr, das war nach Kerrs Vorstellung: Kerr, der Schöpfergott, ein deutscher Demiurg. Was er über die Literatur und das Theater sagte, sagte er über die ganze Welt: "Meine Kritik zeigt, . . . wie man etwas, das jemand gebaut hat, von sich her abermals baut." Jetzt, zwischen dem 21. April 1924 und Ende Juni desselben Jahres, erschafft Kerr die Neue Welt neu. Er bereist das Land, um es zu rezensieren. Amerika entsteht aus seinen Worten.

Noch auf der "Deutschland", während der Passage von Hamburg nach New York, macht Kerr die Bekanntschaft mit einem Menschenaffen, was ihn nachhaltig beeindruckt: "Ich hab' ihn besucht und war erschüttert. Er ist ja ein schwarzer Negermensch. Ein tiefschwarznackter Nigger, etwas haarbewachsen. Er hat einen ernsten Menschenkopf. Als er mir entgegentritt, sag' ich fast: ,Angenehm, mein Name ist . . .' Unerforschter Hüne. Mehr breitbrüstig und muskelstark als irgendein ,Gottessohn'. Boxerhaftes Rätselgeschöpf - noch mit den Gepflogenheiten eines Kindes. Halbkauernd reicht er mir zur Uhr. Dann legt er einen Arm um meinen Hals, berührt mit dem Mund meine Stirn. Schauerlich."

Nachts, in seiner Kabine, träumt Kerr von dem Gorilla. In zwei Jahrmillionen könnte ein Journalist aus ihm geworden sein, sein "Gegner in rechtsstehenden Blättern". Jetzt aber, während sich die Deutschland vom Land des heraufziehenden Rassenwahns entfernt und sich dem Land der wahnhaften Rassentrennung nähert, nennt Kerr den Gorilla seinen "benachteiligten Bruder".

Es ist seltsam, gehört aber zum Wesen von Kerr und zur Qualität seiner Texte: Er, der so unerbittlich urteilt, bemüht sich um Vorurteilslosigkeit. Er, der so gerne Eindruck macht, lässt sich auch gern beeindrucken. Seine Mitreisenden untersucht er auf Aussehen, Verhalten und die jeweilige Absicht ihrer Reise: "Diese Menschen alle verfolgen auf der Fahrt einen greifbaren Zweck - ich aber will nur sehn, kennen, atmen . . . und schreiben. Seltsam."

Was ist daran so seltsam? Natürlich wundert sich Kerr nicht über Kerr. Er will nur, dass der Leser sich über ihn wundert. Kerr wird dem Leser Naturwunder und Wunder von Menschenhand ausmalen und detailgenau schildern. Aber zuvor will er ihm - dezent, verblüffend dezent - zu verstehen geben, dass zu den größten Sensationen dieses gewaltigen Landes er selbst zu zählen sei, der reisende, sehende, schreibende Kerr.

Dazu muss er sich zurücknehmen. Es gelingt ihm - die meiste Zeit. Kerr gibt sich hin, den Sinneseindrücken wie seiner Formulierungslust. In immer neuen Anläufen schildert er Naturphänomene, Pflanzenpracht und das Schauspiel der Tierwelt, vom Kolibri, der nicht fliegt, sondern "libellt", bis zum Alligator, der in der Mündung des Mississippi auf sein Opfer wartet: "Undurchdringbar gelbgrau-strudelndes Wasser; lehmiges Gewurl. Entsetzlich. Ich möchte hier nicht schwimmen. Hinabgegurgelt würde man - und verlöre zudem die Weichteile, die Kaldaunen an ein Schnappscheusal. (Unverdienter Lebensausgang eines Schriftstellers.)"

Washington, New Orleans, Seattle und Salt Lake City, die Niagara-Fälle, der nicht genug zu bestaunende Grand Canyon oder der Yosemite-Nationalpark - Kerr findet überall Hinweise, die er aufsammelt wie Mosaiksteinchen, um daraus das Bild des amerikanischen Nationalcharakters zu entwerfen. Am Stillen Ozean, dem Zukunftsgewässer, wie er glaubt, besteigt er ein Ausflugsboot mit gläsernem Boden. Was er sieht, erscheint ihm als "himmlische Unterspiegelwelt . . . Nirgends in der Welt sieht man das. Nirgends wird es je so gezeigt." Fast mehr noch bewundert er jedoch die einträgliche Erfindungsgabe, die hier stets am Werk ist: "Der Yankee hat, wie keiner, das Genie des Verwertens - bei dem Glück des Besitzens."

Kerr, der genialische Brachial-Poet der Kritik, schwärmt von der praktischen Vernunft, die sich ihm in Amerika allenthalben präsentiert: "Im Wesen dieses (höchstkapitalistischen) Volks liegt immerhin etwas, das für die Gesamtheit auf der Erdkugel arbeitet. Sie schreien, gliedern, bauen, robotten, erfinden, raffen und stiften für sich. Aber letzten Endes, bewusst oder unbewusst, für den Planeten . . . Erringen sie einstens das Soziale, das ihnen fehlt: so wird es ein Über-Soziales, ein Erz-Soziales, ein Soziales mit hundert Stockwerken sein. Und ein Praktisch-Soziales, nicht ein Weinerlich-Soziales. Was haben sie voraus? Den glückhaften Mangel an Verschwommenheit."

Was er damit meint, bezeichnet er an anderer Stelle als "die helle Einfachheit des Wirkens". Europa, das einen großen Krieg hinter sich und einen noch größeren vor sich hat, soll von Amerika lernen: "Ballastlosigkeit erwerben! Den minderverzwickten, den starken, klaren Strich wiederfinden!" Dazu wird es nicht kommen. Als Kerr einen Ausflug über die Grenze nach Mexiko macht, spielt er auf heimische Verhältnisse an: "Zum ersten Mal in der sagenhaften Heimat politischer Verschwörungen durch Minderbegabte - was einen Deutschen pietätvoll an Bayern denken lässt." Gemeint ist Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle vom November des Vorjahres.

Im letzten Kapitel zählt Kerr auf, was alles Europa sich von Amerika erhoffen sollte, und verrät damit, was er selbst für die Alte Welt befürchtet. Sein Reisebericht aus "Yankeeland" erschien 1924 in zwanzig Fortsetzungen im Berliner "Tageblatt" und im folgenden Jahr als Buch. Im Februar 1933 floh der entschiedene Gegner der Nationalsozialisten nach Prag. Als Ort des Exils für sich und seine Familie wählte er London.

HUBERT SPIEGEL.

Alfred Kerr: "Yankee Land". Eine Reise durch Amerika 1924.

Aufbau Verlag, Berlin 2019. 243 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Sehr leicht war das wichtigste Gepäck, als Alfred Kerr im April 1924 zu seiner dritten Amerikareise aufbrach: sein Stil, erprobt an Buch und Bühne, Zeitbild und Reiseschilderung. Ein sehr punktierter Stil. Adjektiv-erfinderisch, pointenselig.« Lothar Müller Süddeutsche Zeitung 20191126