Der preisgekrönte afrikanische Autor Nuruddin Farah hat fünfundzwanzig Jahre seines Lebens im Exil verbracht. In dem Buch Yesterday, Tomorrow gibt er seinen Leidensgenossen, den Flüchtlingen vor dem tyrannischen System des postkolonialen Somalia, seine Stimme. Sie erzählen von unterbrochenen und neu beginnenden Lebensläufen, von einem Leben, das die Fremde als einzige Heimat hat. Vor dem Leser entfaltet sich das Kaleidoskop globaler Flüchtlingsschicksale, und er begreift die Flüchtlinge als unfreiwillige Nomaden einer postkolonialen Moderne. Ihre Geschichten fügen sich unter der Hand des Autors zu kunstvollen »short cuts«, die gleichberechtigt neben seinen epischen Hauptwerken stehen.
»Durch seine überragende Kunst gibt er der Tragödie in den entferntesten Winkeln der Welt eine Stimme, und mit ihr spricht Farah direkt zu unseren Herzen.« Chinua Achebe
»Durch seine überragende Kunst gibt er der Tragödie in den entferntesten Winkeln der Welt eine Stimme, und mit ihr spricht Farah direkt zu unseren Herzen.« Chinua Achebe
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2004Von Huren und Schleusern
„Einer von Euch kann nur ein Bandit oder ein Flüchtling sein” – das hören Somalis im Exil fast jeden Tag
NURUDDIN FARAH: Yesterday, Tomorrow – Stimmen aus der somalischen Diaspora. edition suhrkamp, Frankfurt 2003. 306 Seiten, 12 Euro.
Regelmäßig im Frühherbst, wenn die Verleihung des Literaturnobelpreises ansteht, wird seit einigen Jahren der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah als Kandidat für die Auszeichnung gehandelt. Farahs Romane, mit denen er seiner von Diktatur und Clankriegen geschundenen Heimat ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt hat, spielen ausnahmslos in Somalia, obwohl der Autor das Land vor beinahe 30 Jahren verlassen musste.
Nach einem Auslandsaufenthalt hatte er vom Flughafen in Rom zu Hause angerufen, um seine Rückkunft anzukündigen. Die Verwandten warnten ihn, er solle nicht zurückkehren, weil ihm politische Verfolgung drohe. „Von heute auf morgen wurde ich vom Durchreisenden auf dem Heimweg zum Exilanten, dem sprichwörtlichen Buckligen, der sich mit seiner Missbildung abfinden muss.” Seitdem ist Nuruddin Farah ein Wanderer zwischen Europa, Nordamerika und Afrika, ein „nomadisierender Weltbürger”. Der Schriftsteller verfügte also über reichlich eigene Erfahrung, als der Chefredakteur der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter ihn und seine Frau 1993 bat, Afrikaner in dem skandinavischen Land zu interviewen.
Aus dem Auftrag entwickelte sich ein journalistisches Projekt, das den Literaten in die Schweiz, nach Italien, Großbritannien und Kenia führte, immer auf der Spur seiner Landsleute im Exil und auf der Flucht. Als selbst betroffener Beobachter begab sich Farah in die somalischen Mikrokosmen inmitten europäischer und afrikanischer Gesellschaften.
In Italien, vor dessen Küste erst unlängst ein Boot mit somalischen Flüchtlinge kenterte und zahlreiche Todesopfer forderte, traf Farah auf verlotternde Landsmänner, die mit den in Somalia üblichen männlichen Privilegien zugleich auch jene Korsettstangen aus Selbstsicherheit und Umtriebigkeit verloren hatten, die ihrer Existenz Halt gaben. Die für gering qualifizierte, dunkelhäutige Männer offen stehenden Jobs erscheinen ihnen unter ihrer Würde, und so verbringen sie die Tage in von weiblichen Verwandten finanzierten Wohnungen mit Drogenkonsum und illegalem Handel mit Ausweispapieren.
Die Frauen dagegen sind sich nicht zu schade für die Tätigkeit als Dienstmädchen, die für ihresgleichen vorgesehen ist. Sie verdienen Geld, mit dessen Hilfe sie Familienmitgliedern die Flucht ermöglichen und sich selbst kleine Annehmlichkeiten leisten können, allerdings um den Preis, von ihren Brüdern als „Huren” beschimpft zu werden.
Farah trifft einen der jungen Schlächter von Mogadischu, die sich, voll gepumpt mit Drogen, als Herren der Hauptstadt aufspielten und der seine Untaten auch Jahre später nicht zu bereuen vermag. Dem Schriftsteller gelingt der Zugang zum klandestinen Netz somalischer Schleuser. Ein Menschentransporteur mit besonders hoher Erfolgsquote entpuppt sich als ehemaliger Universitätsprofessor für Biochemie, der anstelle seiner Hochschulkarriere nun das Ziel verfolgt, seinen Kunden gegen angemessene Bezahlung zur Flucht in einem friedlichen Land des Nordens zu verhelfen.
Bei den für jeden Schleuserauftrag nötigen umfangreichen Recherchen kommen ihm die vier europäischen Sprachen zugute, die er beherrscht. Sein Broterwerb erfordert seine ganze Intelligenz, „weil Somalis von vornherein unter Verdacht stehen, mit gefälschten Papieren zu reisen.” Auch dies ein Satz eines Gesprächspartners, den Farah nur allzu gut kennt.
Der renommierte Schriftsteller weiß, wie es sich anfühlt, als Afrikaner mit dunkler Haut an jedem beliebigen europäischen oder nordamerikanischen Flughafen aus der Schlange an der Passkontrolle aussortiert, einem Verhör unterzogen und mitunter abgewiesen zu werden. Entwürdigung ist für Somalier unvermeidlich, wenn sie die Grenze ihres zerfallenen Staates überschreiten.
„In Kenia ist ein Somali ein Bandit oder ein Flüchtling”, beschied ihn einmal ein fetter Polizeioffizier, als er in Nairobi ein Haus für Familienangehörige mieten wollte, die vor einer weiteren Welle der Gewalt geflohen waren. Farah erhielt die Genehmigung nicht. Das erzählt er ohne Selbstmitleid, aber mit einer gehörigen Portion (Selbst-)Ironie, die dem Buch mit seiner Mischung von Interviews, Reportagen und Reflexionen einige wunderbar komische Passagen schenkt. Farah wäre nicht Farah, wenn er nicht auch bei dieser Auftragsarbeit Literatur geschaffen hätte.
Bekannt geworden durch seine Romane aus den kargen Hochebenen des Ogaden, den fiebrigen Straßen Mogadischus kurz vor dem Ausbruch neuer Kämpfe und der stickigen Hütte einer Gebährenden, lässt Farah nun seinen Landsleuten in englischen Hinterzimmern und Schweizer Flüchtlingslagern Raum für ihre Geschichten und verdichtet sie zu überaus berührenden Texten. In England trifft er einmal einen früheren Mitschüler, der wegen einer Depression sein Asyl in Schweden verlassen hatte und nach Mogadischu zurückgekehrt war, nur um erneut zu fliehen. Farah fragt ihn, was ihm im Exil am meisten fehle. „Ich vermisse die Windhosen”, erklärt der Mann. Wenige Monate später ist er tot.
GABY MAYR
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
„Einer von Euch kann nur ein Bandit oder ein Flüchtling sein” – das hören Somalis im Exil fast jeden Tag
NURUDDIN FARAH: Yesterday, Tomorrow – Stimmen aus der somalischen Diaspora. edition suhrkamp, Frankfurt 2003. 306 Seiten, 12 Euro.
Regelmäßig im Frühherbst, wenn die Verleihung des Literaturnobelpreises ansteht, wird seit einigen Jahren der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah als Kandidat für die Auszeichnung gehandelt. Farahs Romane, mit denen er seiner von Diktatur und Clankriegen geschundenen Heimat ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt hat, spielen ausnahmslos in Somalia, obwohl der Autor das Land vor beinahe 30 Jahren verlassen musste.
Nach einem Auslandsaufenthalt hatte er vom Flughafen in Rom zu Hause angerufen, um seine Rückkunft anzukündigen. Die Verwandten warnten ihn, er solle nicht zurückkehren, weil ihm politische Verfolgung drohe. „Von heute auf morgen wurde ich vom Durchreisenden auf dem Heimweg zum Exilanten, dem sprichwörtlichen Buckligen, der sich mit seiner Missbildung abfinden muss.” Seitdem ist Nuruddin Farah ein Wanderer zwischen Europa, Nordamerika und Afrika, ein „nomadisierender Weltbürger”. Der Schriftsteller verfügte also über reichlich eigene Erfahrung, als der Chefredakteur der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter ihn und seine Frau 1993 bat, Afrikaner in dem skandinavischen Land zu interviewen.
Aus dem Auftrag entwickelte sich ein journalistisches Projekt, das den Literaten in die Schweiz, nach Italien, Großbritannien und Kenia führte, immer auf der Spur seiner Landsleute im Exil und auf der Flucht. Als selbst betroffener Beobachter begab sich Farah in die somalischen Mikrokosmen inmitten europäischer und afrikanischer Gesellschaften.
In Italien, vor dessen Küste erst unlängst ein Boot mit somalischen Flüchtlinge kenterte und zahlreiche Todesopfer forderte, traf Farah auf verlotternde Landsmänner, die mit den in Somalia üblichen männlichen Privilegien zugleich auch jene Korsettstangen aus Selbstsicherheit und Umtriebigkeit verloren hatten, die ihrer Existenz Halt gaben. Die für gering qualifizierte, dunkelhäutige Männer offen stehenden Jobs erscheinen ihnen unter ihrer Würde, und so verbringen sie die Tage in von weiblichen Verwandten finanzierten Wohnungen mit Drogenkonsum und illegalem Handel mit Ausweispapieren.
Die Frauen dagegen sind sich nicht zu schade für die Tätigkeit als Dienstmädchen, die für ihresgleichen vorgesehen ist. Sie verdienen Geld, mit dessen Hilfe sie Familienmitgliedern die Flucht ermöglichen und sich selbst kleine Annehmlichkeiten leisten können, allerdings um den Preis, von ihren Brüdern als „Huren” beschimpft zu werden.
Farah trifft einen der jungen Schlächter von Mogadischu, die sich, voll gepumpt mit Drogen, als Herren der Hauptstadt aufspielten und der seine Untaten auch Jahre später nicht zu bereuen vermag. Dem Schriftsteller gelingt der Zugang zum klandestinen Netz somalischer Schleuser. Ein Menschentransporteur mit besonders hoher Erfolgsquote entpuppt sich als ehemaliger Universitätsprofessor für Biochemie, der anstelle seiner Hochschulkarriere nun das Ziel verfolgt, seinen Kunden gegen angemessene Bezahlung zur Flucht in einem friedlichen Land des Nordens zu verhelfen.
Bei den für jeden Schleuserauftrag nötigen umfangreichen Recherchen kommen ihm die vier europäischen Sprachen zugute, die er beherrscht. Sein Broterwerb erfordert seine ganze Intelligenz, „weil Somalis von vornherein unter Verdacht stehen, mit gefälschten Papieren zu reisen.” Auch dies ein Satz eines Gesprächspartners, den Farah nur allzu gut kennt.
Der renommierte Schriftsteller weiß, wie es sich anfühlt, als Afrikaner mit dunkler Haut an jedem beliebigen europäischen oder nordamerikanischen Flughafen aus der Schlange an der Passkontrolle aussortiert, einem Verhör unterzogen und mitunter abgewiesen zu werden. Entwürdigung ist für Somalier unvermeidlich, wenn sie die Grenze ihres zerfallenen Staates überschreiten.
„In Kenia ist ein Somali ein Bandit oder ein Flüchtling”, beschied ihn einmal ein fetter Polizeioffizier, als er in Nairobi ein Haus für Familienangehörige mieten wollte, die vor einer weiteren Welle der Gewalt geflohen waren. Farah erhielt die Genehmigung nicht. Das erzählt er ohne Selbstmitleid, aber mit einer gehörigen Portion (Selbst-)Ironie, die dem Buch mit seiner Mischung von Interviews, Reportagen und Reflexionen einige wunderbar komische Passagen schenkt. Farah wäre nicht Farah, wenn er nicht auch bei dieser Auftragsarbeit Literatur geschaffen hätte.
Bekannt geworden durch seine Romane aus den kargen Hochebenen des Ogaden, den fiebrigen Straßen Mogadischus kurz vor dem Ausbruch neuer Kämpfe und der stickigen Hütte einer Gebährenden, lässt Farah nun seinen Landsleuten in englischen Hinterzimmern und Schweizer Flüchtlingslagern Raum für ihre Geschichten und verdichtet sie zu überaus berührenden Texten. In England trifft er einmal einen früheren Mitschüler, der wegen einer Depression sein Asyl in Schweden verlassen hatte und nach Mogadischu zurückgekehrt war, nur um erneut zu fliehen. Farah fragt ihn, was ihm im Exil am meisten fehle. „Ich vermisse die Windhosen”, erklärt der Mann. Wenige Monate später ist er tot.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Merklich "verstört" ist Angela Schader nach der Lektüre der Geschichten, die Nuruddhin Farrah aufgeschrieben hat. Der 1976 ins Exil gezwungene Schriftsteller aus Somalia hat in Interviews Schicksale geflohener Somalier eingefangen, die er in eine historische Skizze über das jeweilige Aufnahmeland und dessen Flüchtlingspolitik einbettet. Die Interviews habe er "weitgehend ohne Einordnung oder subjektive Wertung" geführt, so dass der Leser mit seinen Eindrücken und Urteilen allein gelassen werde. Dramatische Geschichten werden da berichtet, wie die Rezensentin eindrucksvoll belegt. Schader bemängelt zwar, dass einem keine Einführung über die Geschichte dieses Bürgerkriegslandes an die Hand gegeben würde. Aber das scheint nicht der einzige Grund zu sein, warum es schwer falle, in dem Buch "Halt und Orientierung zu finden". Sowohl in den traumatischen Erfahrungen in der Bürgerkriegssituation als auch in der Bewertung dessen, was sie im Exil erlebten, entstehe der Eindruck von "tiefster Zerrissenheit" - gegenüber der eigenen Herkunft, dem Aufnahmeland und nicht zuletzt der eigenen (verlorenen) Identität. Da tut auch die nicht besonders schmeichelhafte Charakteristik der Aufnahmeländer (hier erwähnt: die Schweiz) ihr Übriges.
© Perlentaucher Medien GmbH
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