Sachsen um das Jahr 1830: In den Städten rauchen bereits die Schlote der ersten Fabriken, das Bürgertum ist die treibende Kraft des Fortschritts, überall blühen Kunst und Literatur, und von der Wissenschaft erhoffen sich die Menschen die Gesundung der Welt. Auf dem Land aber herrscht noch immer das tiefe Mittelalter. Der Frondienst lässt den Bauern kaum noch das Nötigste, die Gesetze der Zünfte knechten das Handwerk, und in den Bergen essen die Tagelöhner Kastanien und backen Brot aus gemahlenem Holz. Ein Kind zählt hier weniger als eine Ziege im Stall. So groß ist die Not, dass die Menschen in Scharen ihre Heimat verlassen, um einen Platz zu ergattern auf einem Segler, der sie nach Amerika bringt. Vor diesem Hintergrund erzählt Christoph Scheuring die Biographien dreier Jungen. Jeder mit einer besonderen Begabung gesegnet. Jeder dazu bestimmt, Großes zu vollbringen. Aber keiner scheint stark genug zu sein für ein Leben in dieser Welt. 'Zeichen der Zeit' ist ein Roman aus einer der spannendsten Phasen der deutschen Geschichte. Er beschäftigt sich mit den großen Fragen der Zeit: Gibt es Gerechtigkeit? Was ist Schönheit? Wie schafft es der Mensch, eins zu sein mit sich und der Schöpfung? Die Antworten haben auch 200 Jahre später nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2016Drei Leben auf der Suche nach sich selbst
Christoph Scheurings Roman "Zeichen der Zeit" über Sachsen um 1830
Am Anfang steht der Tod. Am Ufer der Elbe, flussabwärts von Dresden, werden zwei Leichen gefunden, eine Frau und ein Mann. Es ist das Jahr 1832, und was passiert ist, bleibt zunächst rätselhaft. Am Schluss ist es dann wieder 1832, und wir werden wissen, was geschah. Die Dresdner aber immer noch nicht, mit Ausnahme von zwei zugezogenen jungen Männern.
Christoph Scheuring legt seinen Roman "Zeichen der Zeit" wie einen historischen Krimi an. Doch das ist er nicht. Er ist vielmehr ein Querschnitt durch eine Epoche, der drei individuelle Schicksale in einem engen geographischen Rahmen freilegt. Der freilich vor zwei Jahrhunderten so eng gar nicht war, denn das damalige Königreich Sachsen hatte nach dem Wiener Kongress zwar den Großteil seines Territoriums eingebüßt, aber angesichts der bescheidenen zeitgenössischen Infrastruktur war es immer noch ein weites Land. Vor allem aber eines, in dem blühende Städte einem verelendeten Landleben gegenüberstanden, bei dem Heimarbeit für die ganze Familie die Regel war, wenn man überhaupt überleben wollte. Auf dieser Grundlage - Ausbeutung - fand die sächsische Industrialisierung statt, die zumindest den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Königreichs ermöglichte. Und den Glanz der Residenzstadt Dresden.
Der Roman erzählt vom Traum dreier Menschen, die es alle nach Dresden ziehen wird, wo sie sich miteinander befreunden. Jakob Schindler, Adam Globig und Ferdinand Adolph Lange sind jeweils im Jahr 1815 geboren, dem Jahr des Neubeginns für Sachsen nach den Napoleonischen Kriegen. Schindler ist ein uneheliches, Globig ein Waisenkind, Lange der Sohn eines geschiedenen Ehepaars - jeweils keine guten Voraussetzungen in der damaligen Zeit. Dennoch machen alle drei ihren Weg, aber auf unterschiedliche Weise. Schindler ist durch seine Kindheit im Erzgebirge mit den Abgründen von Menschen und Natur vertraut und hat kein Vertrauen in die Welt. Umso genauer beobachtet er sie, und als besondere Fähigkeit besitzt er ein fotografisches Gedächtnis (wenn man das vor Erfindung der Fotografie so nennen darf), die ihm eine Laufbahn als Urkundenfälscher eröffnet, ohne dass er verstünde, was er da schreibt. Globig dagegen sieht im Schreiben den höchsten Zweck der Menschheit: "Denn alle Schrift dem Wissen zu Dienste ist dem Menschen nütze zu seiner Freiheit", notiert er in der kirchlich geleiteten Schule und bekommt dafür vom Diakon nicht nur die Frage gestellt, ob er sich über die Heilige Schrift lustig mache, sondern auch eine Karzerstrafe aufgebrummt. Die Wissenslust des Jungen aber leidet nicht darunter. Und Ferdinand Adolph Lange . . .
Ja, Lange ist derjenige des Trios im Roman, dessen Name man kennen könnte. Bei der Schilderung dieses Lebensweges orientiert sich der 1957 geborene Scheuring an der Biographie des berühmten sächsischen Uhrmachers, dessen Manufaktur in Glashütte noch heute besteht und zu den weltweit führenden Unternehmen auf diesem Sektor gehört. Langes Jugend ist im Vergleich mit der seiner beiden Freunde die noch am meisten begünstigte, aber er muss sich ebenfalls erst hocharbeiten, muss seine Faszination für die Feinmechanik entdecken, muss gefördert werden und sich auch fördern lassen.
Drei Lebensläufe, drei Lebensentwürfe, drei Lebensauffassungen. Scheuring stellt sie ohne moralische Bewertung nebeneinander und prüft deren jeweilige Tauglichkeit durch Konfrontation mit den Lebensbedingungen. So entsteht das Panorama einer Epoche, die heute unter Biedermeier erfasst wird, dem hier aber zunächst einmal alles Heimelig-Schöne ausgetrieben wird. Wir lernen das Köhlerhandwerk kennen, den drakonischen Strafvollzug jener Epoche, das autoritäre Schulsystem. Aber dann auch die Lesezirkel, das Handwerksethos, die Philosophie. Bis kurz vor Ende des Romans jeder der drei seinen Platz in der Welt gefunden hat und derjenige, um dessen Platz darin wir heute noch wissen, zu seiner Maxime gefunden hat: "Wer Schönes tut, macht die Welt besser. Und umgekehrt", erläutert Lange seinen beiden Freunden.
Das klingt nun wie ein Jugendbuch, und etwas davon hat "Zeichen der Zeit" auch: das Belehrende. Aber warum nicht, wenn es so geschickt eingebettet ist, dass es nichts Bemühtes hat? Wir lernen lesend, und nur gelegentlich lässt Scheuring seiner Freude am Detailwissen zu sehr die Zügel schießen. Dann glaubt man sich leider nicht mehr auf Zeitreise ins neunzehnte Jahrhundert, sondern auf Bildungsreise, und das zerstört für ein paar Zeilen den Charme dieses Buchs, das doch in weit besserem Sinne ein Bildungsroman ist. Es sind sogar drei Bildungsromane in einem.
ANDREAS PLATTHAUS
Christoph Scheuring: "Zeichen der Zeit". Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 392 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Scheurings Roman "Zeichen der Zeit" über Sachsen um 1830
Am Anfang steht der Tod. Am Ufer der Elbe, flussabwärts von Dresden, werden zwei Leichen gefunden, eine Frau und ein Mann. Es ist das Jahr 1832, und was passiert ist, bleibt zunächst rätselhaft. Am Schluss ist es dann wieder 1832, und wir werden wissen, was geschah. Die Dresdner aber immer noch nicht, mit Ausnahme von zwei zugezogenen jungen Männern.
Christoph Scheuring legt seinen Roman "Zeichen der Zeit" wie einen historischen Krimi an. Doch das ist er nicht. Er ist vielmehr ein Querschnitt durch eine Epoche, der drei individuelle Schicksale in einem engen geographischen Rahmen freilegt. Der freilich vor zwei Jahrhunderten so eng gar nicht war, denn das damalige Königreich Sachsen hatte nach dem Wiener Kongress zwar den Großteil seines Territoriums eingebüßt, aber angesichts der bescheidenen zeitgenössischen Infrastruktur war es immer noch ein weites Land. Vor allem aber eines, in dem blühende Städte einem verelendeten Landleben gegenüberstanden, bei dem Heimarbeit für die ganze Familie die Regel war, wenn man überhaupt überleben wollte. Auf dieser Grundlage - Ausbeutung - fand die sächsische Industrialisierung statt, die zumindest den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Königreichs ermöglichte. Und den Glanz der Residenzstadt Dresden.
Der Roman erzählt vom Traum dreier Menschen, die es alle nach Dresden ziehen wird, wo sie sich miteinander befreunden. Jakob Schindler, Adam Globig und Ferdinand Adolph Lange sind jeweils im Jahr 1815 geboren, dem Jahr des Neubeginns für Sachsen nach den Napoleonischen Kriegen. Schindler ist ein uneheliches, Globig ein Waisenkind, Lange der Sohn eines geschiedenen Ehepaars - jeweils keine guten Voraussetzungen in der damaligen Zeit. Dennoch machen alle drei ihren Weg, aber auf unterschiedliche Weise. Schindler ist durch seine Kindheit im Erzgebirge mit den Abgründen von Menschen und Natur vertraut und hat kein Vertrauen in die Welt. Umso genauer beobachtet er sie, und als besondere Fähigkeit besitzt er ein fotografisches Gedächtnis (wenn man das vor Erfindung der Fotografie so nennen darf), die ihm eine Laufbahn als Urkundenfälscher eröffnet, ohne dass er verstünde, was er da schreibt. Globig dagegen sieht im Schreiben den höchsten Zweck der Menschheit: "Denn alle Schrift dem Wissen zu Dienste ist dem Menschen nütze zu seiner Freiheit", notiert er in der kirchlich geleiteten Schule und bekommt dafür vom Diakon nicht nur die Frage gestellt, ob er sich über die Heilige Schrift lustig mache, sondern auch eine Karzerstrafe aufgebrummt. Die Wissenslust des Jungen aber leidet nicht darunter. Und Ferdinand Adolph Lange . . .
Ja, Lange ist derjenige des Trios im Roman, dessen Name man kennen könnte. Bei der Schilderung dieses Lebensweges orientiert sich der 1957 geborene Scheuring an der Biographie des berühmten sächsischen Uhrmachers, dessen Manufaktur in Glashütte noch heute besteht und zu den weltweit führenden Unternehmen auf diesem Sektor gehört. Langes Jugend ist im Vergleich mit der seiner beiden Freunde die noch am meisten begünstigte, aber er muss sich ebenfalls erst hocharbeiten, muss seine Faszination für die Feinmechanik entdecken, muss gefördert werden und sich auch fördern lassen.
Drei Lebensläufe, drei Lebensentwürfe, drei Lebensauffassungen. Scheuring stellt sie ohne moralische Bewertung nebeneinander und prüft deren jeweilige Tauglichkeit durch Konfrontation mit den Lebensbedingungen. So entsteht das Panorama einer Epoche, die heute unter Biedermeier erfasst wird, dem hier aber zunächst einmal alles Heimelig-Schöne ausgetrieben wird. Wir lernen das Köhlerhandwerk kennen, den drakonischen Strafvollzug jener Epoche, das autoritäre Schulsystem. Aber dann auch die Lesezirkel, das Handwerksethos, die Philosophie. Bis kurz vor Ende des Romans jeder der drei seinen Platz in der Welt gefunden hat und derjenige, um dessen Platz darin wir heute noch wissen, zu seiner Maxime gefunden hat: "Wer Schönes tut, macht die Welt besser. Und umgekehrt", erläutert Lange seinen beiden Freunden.
Das klingt nun wie ein Jugendbuch, und etwas davon hat "Zeichen der Zeit" auch: das Belehrende. Aber warum nicht, wenn es so geschickt eingebettet ist, dass es nichts Bemühtes hat? Wir lernen lesend, und nur gelegentlich lässt Scheuring seiner Freude am Detailwissen zu sehr die Zügel schießen. Dann glaubt man sich leider nicht mehr auf Zeitreise ins neunzehnte Jahrhundert, sondern auf Bildungsreise, und das zerstört für ein paar Zeilen den Charme dieses Buchs, das doch in weit besserem Sinne ein Bildungsroman ist. Es sind sogar drei Bildungsromane in einem.
ANDREAS PLATTHAUS
Christoph Scheuring: "Zeichen der Zeit". Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 392 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieses Buch ist weit mehr als ein historischer Krimi, auch wenn die Rahmenhandlung den Eindruck nahelegt, versichert Rezensent Andreas Platthaus. Denn jenseits des mysteriösen Todes eines Paares, das an die Elbe gespült wird, folgt der Kritiker hier drei jungen Männern, die als Waise, uneheliches und Scheidungskind unter wenig vorteilhaften Bedingungen als Uhrmacher, Urkundenfälscher und Schriftsteller dennoch ihren Weg im industrialisierten Sachsen der 1830er Jahre gehen. Wie Scheuring die Lebensentwürfe seiner Figuren mit den Lebensbedingungen ihrer Zeit konfrontiert, findet der Rezensent bemerkenswert. Vor allem aber lobt er den Roman als "Panorama" der Zeit des Biedermeier - zunächst ganz ohne das "Heimelig-Schöne": Neben Köhlerhandwerk und dem autoritären Schulsystem der Epoche erfährt Platthaus hier allerdings auch einiges über Lesezirkel oder die Philosophie jener Zeit. Dass der Autor bisweilen ein wenig didaktisch daherkommt, verzeiht der Kritiker diesen "drei Bildungsromanen in einem" gern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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