Vor der Jahrtausendwende blühen weltweit alle Arten von Sekten auf, falsche Propheten künden vom Weltuntergang. Einem Mann jedoch folgen so viele Menschen nach, dass selbst der Papst unruhig wird und mit den Politikern Strategien entwirft. Er heisst Ben Alef. Er trägt ein Zeichen, und er wirkt Wunder. Und er zieht durch Deutschland... Eine Satire auf Geschichte, Religion und Glauben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.1999Armaggedon im Disneypark
Wohlfeiles Weltende: Melvin Bukiet schlägt am Totenglöckchen
Die Apokalypse naht. Doch nicht Kälber ohne Kopf oder blutige Regentropfen lassen Schlimmes ahnen, sondern die Vorankündigungen der Verlage. Nie war ein Bestseller besser zu planen. Das muß auch der junge New Yorker Autor Melvin Jules Bukiet gedacht haben, der versucht, über dem Weltenbrand sein literarisches Süppchen zu kochen. Sein erfolgversprechendes Grundrezept für Mytheneintopf mit Unterhaltungsbeilage variiert er mit einem guten Schuß Ressentiment, der deutschen Lesern bewußt einiges Magengrimmen verursachen soll.
Am Anfang ist bei jeder Suppe das Wasser. Eine Sintflut sucht im Spätherbst 1999 die norddeutsche Küste heim und ermöglicht einer zwölfköpfigen Gruppe von Schwerverbrechern, darunter ein greiser KZ-Scherge namens Eisenheim, die Flucht von dem Gefängnisschiff "Farnhagen". Ein geheimnisvoller, nie unter Hunger und Müdigkeit leidender Mitgefangener namens Ben Alef wirkt dabei einige Wunder und gilt so zunächst unter den schweren Jungs, bald auch bei den Küstenbewohnern, als wiedergekehrter Messias. Der Zug der rasch um einen zwölften Mann ergänzten Jüngerschar nach Hamburg löst angesichts der Jahrtausendwende eine Massenhysterie aus, die sowohl den Papst als auch Staatsoberhäupter in aller Welt auf den Plan ruft.
Während die sogenannten Alefiten Selbstverstümmelung betreiben und wilde Massenorgien unter freiem Himmel ("Fuck for God!") veranstalten, lassen die Kriminellen ihren Mordtrieben freien Lauf, zetteln zur Weihnachtszeit antisemitische Pogrome an und dezimieren sich nach und nach selbst, wobei SS-Mann Eisenheim seine Mördernatur endlich wieder ausleben darf. Höhe- und Wendepunkte gibt es reichlich, so wenn der Jude Ben Alef ausgerechnet den Nazi Eisenheim von den Toten erweckt oder das letzte Abendmahl im Haus des gemütlichen Rentners Adolf Hitler stattfindet. Leider hat die blasphemische Völlerei bereits alle Geschmacksnerven betäubt. Wer schließlich zum Judas wird, soll nicht verraten werden, um der trotz seiner wirren Umwege absehbaren Geschichte nicht das letzte bißchen Spannung zu nehmen. Pünktlich zum Millennium muß jedenfalls Ben Alef den Löffel abgeben, mit dem er zuvor die Weisheit gefressen zu haben schien.
Über eine gewagte theologische Konstruktion mag man Golgatha und Auschwitz als zwei entgegengesetzte Pole einer aus dem Ruder gelaufenen Heilsgeschichte ansehen. Bukiet müht sich aber nicht mit Erklärungen ab, sondern quetscht Kreuzigung und Judenvernichtung in einen einzigen Plot. Ob Kristallnacht oder Mai '68 - Geschichte ist ewige Wiederkehr. Abschließend garniert er es mit ein paar Zitaten, um den Unbedenklichkeitsstempel "postmodern" zu erhalten. Dostojewskis Großinquisitor aus den "Brüdern Karamasow" läßt grüßen, wenn der Papst (nämlich der freßsüchtige Nachfolger Johannes Pauls II.) aus Angst vor den Unruhen in der Kirche seinen Sonderemissär schickt, damit dieser dem Unwesen ein Ende mache. Die Anlehnung an Thomas Pynchon dagegen, den sich Bukiet im Atmosphärischen und etlichen Details der Handlung zum Vorbild nimmt, ist ein klares Eigentor, da seine Schwächen im Vergleich noch deutlicher ins Auge fallen.
Klischee türmt sich auf Klischee. Über Deutschlands geopolitische Lage erfahren wir etwa: "Die Nordküste Deutschlands war die Verbindung der Nation zur Welt. Im Osten lag der Trümmerhaufen des ehemaligen Eisernen Vorhangs, im Westen die kulturelle Kluft zu Frankreich, im Süden, jenseits der Alpen, lediglich die fade Rechtschaffenheit von Schweizer Uhrmachern." Selbst beim bloßen Blick auf eine Europa-Karte hätte Bukiet auffallen sollen, daß man von Hamburg nach Paris zu Fuß länger als ein paar Tage braucht. Nun buchen wir das - statt als Zeichen von Schlamperei - als ein weiteres Wunder. Nicht nur die Wege, auch die Bewegungen des Herrn sind unergründlich.
Am besten kennt sich Bukiet offenbar in Euro-Disney aus, wo das große Finale einschließlich der zeitgemäßen Entsprechung der Kreuzigung stattfindet. Das wirft immerhin einige virtuose, Trivialität und Grauen effektvoll verschränkende Passagen im Pynchon-Ton ab, mit denen Bukiet sicher einen Creative-writing-Kurs gewinnen könnte. Wenn sich das putzige Walt-Disney-Hündchen Pluto in seinen Namensgeber, den Gott der Unterwelt, zurückverwandelt, gewinnt der Roman vorübergehend jene diabolische Qualitäten, die er sonst lediglich im Fundus schlechter Hollywood-Nazistreifen ausleiht. Die ganze Idee ist allerdings geklaut: Bukiets Vorbild ist der Nazi-Freizeitpark "Zwölfkinder" aus "Die Enden der Parabel".
Trotz dieses Endspurts nach lahmem Rennen bleibt der Leser unbefriedigt zurück. Nicht nur reißen viele Handlungsfäden unvermittelt ab, bleiben viele Figuren, darunter Ben Alef selbst, vollkommen schablonenhaft. Das Deutschland-Bild läuft auf eine Art verschärfter Goldhagen hinaus, indem Antisemitismus und ein Hang zur Massenhysterie zum unverbesserlichen Nationalcharakter erklärt werden. Hinzu kommt eine Zivilisationskritik, die Disneyland zum Schauplatz des Endkampfes zwischen Gut und Böse macht. Bei einem Roman, der so deutlich effektheischerische Verfahren des Unterhaltungsromans benutzt (und keineswegs nur zitiert), wirkt das recht pharisäisch. Für ein ironisches Spiel mit Mythen benutzt Bukiet viel zu schwere Zeichen, für ein ernstzunehmendes Statement macht er es sich zu leicht.
RICHARD KÄMMERLINGS
Melvin Jules Bukiet: "Zeichen und Wunder". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Benjamin Schwarz. Luchterhand Verlag, München 1999. 528 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wohlfeiles Weltende: Melvin Bukiet schlägt am Totenglöckchen
Die Apokalypse naht. Doch nicht Kälber ohne Kopf oder blutige Regentropfen lassen Schlimmes ahnen, sondern die Vorankündigungen der Verlage. Nie war ein Bestseller besser zu planen. Das muß auch der junge New Yorker Autor Melvin Jules Bukiet gedacht haben, der versucht, über dem Weltenbrand sein literarisches Süppchen zu kochen. Sein erfolgversprechendes Grundrezept für Mytheneintopf mit Unterhaltungsbeilage variiert er mit einem guten Schuß Ressentiment, der deutschen Lesern bewußt einiges Magengrimmen verursachen soll.
Am Anfang ist bei jeder Suppe das Wasser. Eine Sintflut sucht im Spätherbst 1999 die norddeutsche Küste heim und ermöglicht einer zwölfköpfigen Gruppe von Schwerverbrechern, darunter ein greiser KZ-Scherge namens Eisenheim, die Flucht von dem Gefängnisschiff "Farnhagen". Ein geheimnisvoller, nie unter Hunger und Müdigkeit leidender Mitgefangener namens Ben Alef wirkt dabei einige Wunder und gilt so zunächst unter den schweren Jungs, bald auch bei den Küstenbewohnern, als wiedergekehrter Messias. Der Zug der rasch um einen zwölften Mann ergänzten Jüngerschar nach Hamburg löst angesichts der Jahrtausendwende eine Massenhysterie aus, die sowohl den Papst als auch Staatsoberhäupter in aller Welt auf den Plan ruft.
Während die sogenannten Alefiten Selbstverstümmelung betreiben und wilde Massenorgien unter freiem Himmel ("Fuck for God!") veranstalten, lassen die Kriminellen ihren Mordtrieben freien Lauf, zetteln zur Weihnachtszeit antisemitische Pogrome an und dezimieren sich nach und nach selbst, wobei SS-Mann Eisenheim seine Mördernatur endlich wieder ausleben darf. Höhe- und Wendepunkte gibt es reichlich, so wenn der Jude Ben Alef ausgerechnet den Nazi Eisenheim von den Toten erweckt oder das letzte Abendmahl im Haus des gemütlichen Rentners Adolf Hitler stattfindet. Leider hat die blasphemische Völlerei bereits alle Geschmacksnerven betäubt. Wer schließlich zum Judas wird, soll nicht verraten werden, um der trotz seiner wirren Umwege absehbaren Geschichte nicht das letzte bißchen Spannung zu nehmen. Pünktlich zum Millennium muß jedenfalls Ben Alef den Löffel abgeben, mit dem er zuvor die Weisheit gefressen zu haben schien.
Über eine gewagte theologische Konstruktion mag man Golgatha und Auschwitz als zwei entgegengesetzte Pole einer aus dem Ruder gelaufenen Heilsgeschichte ansehen. Bukiet müht sich aber nicht mit Erklärungen ab, sondern quetscht Kreuzigung und Judenvernichtung in einen einzigen Plot. Ob Kristallnacht oder Mai '68 - Geschichte ist ewige Wiederkehr. Abschließend garniert er es mit ein paar Zitaten, um den Unbedenklichkeitsstempel "postmodern" zu erhalten. Dostojewskis Großinquisitor aus den "Brüdern Karamasow" läßt grüßen, wenn der Papst (nämlich der freßsüchtige Nachfolger Johannes Pauls II.) aus Angst vor den Unruhen in der Kirche seinen Sonderemissär schickt, damit dieser dem Unwesen ein Ende mache. Die Anlehnung an Thomas Pynchon dagegen, den sich Bukiet im Atmosphärischen und etlichen Details der Handlung zum Vorbild nimmt, ist ein klares Eigentor, da seine Schwächen im Vergleich noch deutlicher ins Auge fallen.
Klischee türmt sich auf Klischee. Über Deutschlands geopolitische Lage erfahren wir etwa: "Die Nordküste Deutschlands war die Verbindung der Nation zur Welt. Im Osten lag der Trümmerhaufen des ehemaligen Eisernen Vorhangs, im Westen die kulturelle Kluft zu Frankreich, im Süden, jenseits der Alpen, lediglich die fade Rechtschaffenheit von Schweizer Uhrmachern." Selbst beim bloßen Blick auf eine Europa-Karte hätte Bukiet auffallen sollen, daß man von Hamburg nach Paris zu Fuß länger als ein paar Tage braucht. Nun buchen wir das - statt als Zeichen von Schlamperei - als ein weiteres Wunder. Nicht nur die Wege, auch die Bewegungen des Herrn sind unergründlich.
Am besten kennt sich Bukiet offenbar in Euro-Disney aus, wo das große Finale einschließlich der zeitgemäßen Entsprechung der Kreuzigung stattfindet. Das wirft immerhin einige virtuose, Trivialität und Grauen effektvoll verschränkende Passagen im Pynchon-Ton ab, mit denen Bukiet sicher einen Creative-writing-Kurs gewinnen könnte. Wenn sich das putzige Walt-Disney-Hündchen Pluto in seinen Namensgeber, den Gott der Unterwelt, zurückverwandelt, gewinnt der Roman vorübergehend jene diabolische Qualitäten, die er sonst lediglich im Fundus schlechter Hollywood-Nazistreifen ausleiht. Die ganze Idee ist allerdings geklaut: Bukiets Vorbild ist der Nazi-Freizeitpark "Zwölfkinder" aus "Die Enden der Parabel".
Trotz dieses Endspurts nach lahmem Rennen bleibt der Leser unbefriedigt zurück. Nicht nur reißen viele Handlungsfäden unvermittelt ab, bleiben viele Figuren, darunter Ben Alef selbst, vollkommen schablonenhaft. Das Deutschland-Bild läuft auf eine Art verschärfter Goldhagen hinaus, indem Antisemitismus und ein Hang zur Massenhysterie zum unverbesserlichen Nationalcharakter erklärt werden. Hinzu kommt eine Zivilisationskritik, die Disneyland zum Schauplatz des Endkampfes zwischen Gut und Böse macht. Bei einem Roman, der so deutlich effektheischerische Verfahren des Unterhaltungsromans benutzt (und keineswegs nur zitiert), wirkt das recht pharisäisch. Für ein ironisches Spiel mit Mythen benutzt Bukiet viel zu schwere Zeichen, für ein ernstzunehmendes Statement macht er es sich zu leicht.
RICHARD KÄMMERLINGS
Melvin Jules Bukiet: "Zeichen und Wunder". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Benjamin Schwarz. Luchterhand Verlag, München 1999. 528 S., geb., 48,- DM.
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