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Produktdetails
  • edition suhrkamp
  • Verlag: Suhrkamp
  • Abmessung: 19mm x 108mm x 177mm
  • Gewicht: 222g
  • ISBN-13: 9783518119235
  • Artikelnr.: 25150536
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.1995

Drittelgesellschaft
Das Sozialamt ist nicht Sackbahnhof, sondern Wartehalle

Stephan Leibfried u. a.: Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat. edition suhrkamp, Neue Folge Band 923. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 413 Seiten, 27,80 Mark.

Eine Zahl macht Karriere. Da meldete eine Zeitschrift 1994, ein Drittel aller Frankfurter sei arm, andere schrieben es ab, später tauchte die Quote in einer Fernsehreportage auf, und niemand ließ sich die Laune dadurch verderben, daß der erste Journalist kurzerhand die Zahl der Sozialhilfeempfänger verdoppelt hatte, weil der zuständige Stadtrat angeblich der Meinung war, es fehle derart vielen Menschen der Mut, einen Antrag zu stellen. Sein Dementi konnte die Zahl nicht mehr einholen.

So unbeschwert läßt sich über Sozialhilfe reden, und wie locker bekommt die Talk-Show-Gemeinde einen Abend rum, wenn erst einmal jemandem die "Zweidrittelgesellschaft" eingefallen ist und jeder von seiner letzten Begegnung mit einem richtigen Bettler erzählt. Allein, nichts Genaues weiß man nicht, denn die offizielle Sozialhilfe-Statistik ist dünn - wer widerspricht da demjenigen, der mit festem Blick behauptet, es gebe massenweise Ausgegrenzte, die in der Holzklasse der Gesellschaft ihrem Ende entgegendämmern? Die Gruppe um Stephan Leibfried hat den Lebenslauf jedes zehnten, der 1983 in Bremen einen Antrag auf Sozialhilfe stellte, über sechs Jahre hinweg verfolgt und eine Reihe dieser Menschen befragt. Zwar geraten heute mehr Personen in die "Holzklasse" als früher, weil die Lebensläufe immer bunter werden, so ihr Ergebnis, doch herrscht dort ein reges Kommen und Gehen: Sechs von zehn bleiben nicht einmal ein Jahr, nur jeder zehnte länger als sechs Jahre. Und keineswegs sitzen nur Resignierte auf den harten Bänken. Einige gehen mit Absicht dorthin - in der festen Überzeugung, eines Tages wieder auf gepolsterte Sitze wechseln zu können.

Anderen wiederum könnte die Holzklasse leicht erspart bleiben. Jeder dritte bezieht nur deshalb für einige Monate zur Überbrückung Sozialhilfe, weil es mit seinem Antrag auf Arbeitslosengeld oder Rente nicht vorangeht. Während diese Menschen Opfer der wuchernden Bürokratie des Sozialstaates sind, nutzen andere das System strategisch aus: Alleinstehende zum Beispiel, die sich vornehmen, eine bestimmte Zeit ihres Lebens von Sozialhilfe zu leben, vielleicht, bis die Kinder groß sind, vielleicht, bis sie sich beruflich neu orientiert haben.

Diese Gruppe spielte in den Betrachtungen über das soziale Netz bisher kaum eine Rolle, weil es für sie nie geschaffen wurde. Dabei haben sie es als einzige völlig verstanden. Sie sind eine besondere Form des Staatsbürgers: Sozialstaatsbürger. Sie haben nichts mit den - weniger gewordenen - Großmüttern gemein, denen das Sozialamt die Rente aufbessern muß, auch nicht mit den Bettlern, deren "Stütze" nicht für den Fusel reicht, eigentlich auch nicht mit denen, die es hinkriegen, Sozialhilfe zu beziehen und nebenbei schwarzzuarbeiten.

Wie es um diese letzteren steht, ist aus der Studie ohnedies nicht recht zu erfahren, weil den Autoren zum Stichwort Sozialhilfemißbrauch nur der platte Verweis auf Steuerhinterziehung einfällt und sie das Lohnabstandsgebot für ein "ideologisch bedingtes Kunstprodukt" halten - Bremer Tabus in einem sonst erhellenden Buch, das allerdings auch den in den vergangenen Jahren drastisch gestiegenen Bezug von Sozialhilfe durch Ausländer weitgehend ausklammert.

Die Analyse typischer Lebensläufe schärft das Bild einer wachsenden Gruppe von Menschen, die den Gemeinden erhebliche Kosten verursacht, und zeigt, wo eine Sozialhilfereform ansetzen könnte. Vor allem aber läßt sie von dem Märchen der "Zweidrittelgesellschaft" wenig übrig. Sicher, immer mehr Menschen gehen zum Sozialamt, doch ebenso richtig ist es auch, daß die Behörde für viele kein Sackbahnhof ist, sondern nur die Wartehalle des Sozialstaates.

Leider schickt es sich für Sozialwissenschaftler offenbar nicht, an dieser Stelle Schluß zu machen, und so quälen die Autoren noch mit allerlei Verbesserungsvorschlägen, deren wesentliches Merkmal hohe Kosten sind. Dafür holen sie ausgerechnet den alten Hut der Maschinensteuer hervor, der durch wiederholtes Herumzeigen auch nicht schöner wird. Doch vielleicht hat das ja einen tieferen Sinn: Den Talk-Shows dürfen schließlich nicht die Themen ausgehen. MANFRED KÖHLER

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