20 Jahre nach seinem Tod: Die Wiederentdeckung des meistgelesenen Schriftstellers Marokkos, der jahrzehntelang wie Salman Rushdie auf der berüchtigten schwarzen Liste der Islamisten stand.
Ein Leben im Marokko der 1950er Jahre: Der zwanzigjährige Erzähler ist ein Rauf-, Sauf- und Hurenbold und zugleich ein ängstliches, einsames Kind. Nun ist er begierig darauf, lesen zu lernen. In 27 Kapiteln erzählt er, direkt und schonungslos, von einem Leben auf Messers Schneide, von den Tagen in der Schule in Larache und fiebrigen Nächten in Tanger. Darin verwoben die Gefühle und Erinnerungen: die zitternden Hände bei den ersten Schreibversuchen, die Jagd nach Essbarem, die Kälte und die Sehnsucht nach Rausch und Leidenschaft. Um zu Geld zu kommen, lässt er sich auf krumme Geschäfte ein. Das Geld braucht er nicht in erster Linie für Essen und Bleibe, sondern für Haschisch, Wein und Prostituierte. Doch immer mehr dringt Mohamed in die für ihn neue Welt der Bücher ein, und unmerklichgeht eine Wandlung in ihm vor.
»Mohamed Choukris Leben ist spannender, poetischer, verzweifelter und wilder, als jeder Roman sein könnte. Und er hat es in blendenden Bildern festgehalten, die das Lesen zu einem Erlebnis machen - zu einem Erlebnis, das aufwühlt, das im Schrecken fasziniert.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Ein Leben im Marokko der 1950er Jahre: Der zwanzigjährige Erzähler ist ein Rauf-, Sauf- und Hurenbold und zugleich ein ängstliches, einsames Kind. Nun ist er begierig darauf, lesen zu lernen. In 27 Kapiteln erzählt er, direkt und schonungslos, von einem Leben auf Messers Schneide, von den Tagen in der Schule in Larache und fiebrigen Nächten in Tanger. Darin verwoben die Gefühle und Erinnerungen: die zitternden Hände bei den ersten Schreibversuchen, die Jagd nach Essbarem, die Kälte und die Sehnsucht nach Rausch und Leidenschaft. Um zu Geld zu kommen, lässt er sich auf krumme Geschäfte ein. Das Geld braucht er nicht in erster Linie für Essen und Bleibe, sondern für Haschisch, Wein und Prostituierte. Doch immer mehr dringt Mohamed in die für ihn neue Welt der Bücher ein, und unmerklichgeht eine Wandlung in ihm vor.
»Mohamed Choukris Leben ist spannender, poetischer, verzweifelter und wilder, als jeder Roman sein könnte. Und er hat es in blendenden Bildern festgehalten, die das Lesen zu einem Erlebnis machen - zu einem Erlebnis, das aufwühlt, das im Schrecken fasziniert.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Kein Gott kann in diesen Gossen irgendetwas retten
Mohamed Choukris autobiographische Erzählungen stellen eine arabische Welt vor, die keinem Klischee entspricht.
Von Lena Bopp
Von Lena Bopp
Mohamed Choukri zählt zu den bekanntesten Schriftstellern der arabischen Welt. Vor allem sein Buch "Das nackte Brot" war schon, kurz nachdem es 1982 in arabischer Sprache erschienen war, ebenso berühmt wie berüchtigt - so roh und direkt, so voll irrer Lust und unbändiger Gewalt war selten, vielleicht noch nie in aller Öffentlichkeit über das Leben in Armut berichtet worden. Erschwerend kam hinzu, dass der Marokkaner Mohamed Choukri in dem Buch keine Fiktion, sondern, jedenfalls weitgehend, seine eigene Lebensgeschichte erzählte. Es enthält den ersten Teil seiner später drei Bände umfassenden Autobiographie. Allein im ersten Teil erzählt er von seinem (Über-)Leben in Tetuan, Oran und in den Straßen von Tanger, wohin Choukris aus dem Rif-Gebirge stammende Berberfamilie in den Vierzigerjahren aufgebrochen war, um Lohn und Brot zu finden. Gleich auf den ersten paar Seiten tötet der Vater in einem Anfall von betrunkenem Wahnsinn erst seinen jüngsten, von Krankheit und Hunger geschwächten Sohn und verprügelt dann seine Frau.
Bevor das Buch auf Arabisch erschien (und in den Ländern dieser Sprache jahrelang verboten wurde), war es mithilfe von Choukris Freunden Paul Bowles und Tahar Ben Jelloun bereits auf Englisch und Französisch veröffentlicht worden. Nur ein paar Jahre später, Mitte der Achtziger, erschien auch die deutsche Übersetzung von Georg Brunold in der "Anderen Bibliothek" und fand sehr viel Beachtung. Weniger Aufmerksamkeit bekam hingegen die Fortsetzung von Choukris Autobiographie, was die Herausgeberin der "Anderen Bibliothek" nun veranlasst, beide Teile noch einmal neu aufzulegen - in schönen schmalen Bänden, die das Tor zu einer Welt öffnen, die aus Scham und Schande sonst weitgehend im Verborgenen blieb und bleibt. Choukri hat seine Texte in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu Papier gebracht. Er schreibt im Rückblick, aber meist im Präsens. Er pflegt einen lapidaren Ton, der wie abgestumpft wirkt gegenüber den Ungeheuerlichkeiten, von denen er berichtet, aber nicht unempfänglich für das Leid anderer. Er schreibt wie einer, der es gewohnt ist, nicht zu viel Energie mit Empathie zu verschwenden.
Sein zweiter Band, "Zeit der Fehler", setzt ein, als Choukri um die zwanzig Jahre alt ist und nach Larache aufbricht, um dort zum ersten Mal im Leben eine Schule zu besuchen. Seine Mitschüler sind Kinder, aber genauso arm und hungrig wie er, dem die Mahlzeiten nicht reichen, um satt zu werden. Statt im Internat schläft er lieber unter seinesgleichen in einem verlassenen Speicher, der mit einem uralten Radio, Postern aus Zeitschriften und Weinflaschen in eine dunkle Oase verwandelt wird. Während der Sommerferien kehrt Choukri in die Bars und Bordelle von Tanger zurück, das als "Internationale Zone" Reisende und Schiffbrüchige aus aller Welt anzieht. Er klaubt die Zigarettenstummel von den Straßen und lässt sich das eiternde Glied behandeln. Als er zu seiner an Schwindsucht erkrankten Mutter nach Tetuan gerufen wird, begegnet er in seinem Elternhaus kleinen Geschwistern, die er noch nie gesehen hat. Das Elend ist allumfassend und von einer Wucht, die jeder Barmherzigkeit hohnspricht. Kein staatlicher Amts-, kein religiöser Würdenträger taucht je in den Gossen auf, in denen Choukri zu Hause ist. Kein Gott kann hier irgendetwas retten.
Dafür lässt Choukri in fast jedem Kapitel neue Weggefährten aufkreuzen, gescheiterte Schriftsteller, Saufkumpane, Hehler und Huren, die allesamt so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Nichts hält sie, aber auch das Elend verbindet. Freundschaft und Liebe hängen stets am seidenen Faden. Frauen sind in Choukris Kosmos Prostituierte oder geschlagene Mütter, andere Rollen sind für sie nicht vorgesehen. Die einzige Figur, die etwas Licht in die Finsternis bringt, ist der blinde Muchtar El Haddad, der den Schüler Choukri ins Teehaus einlädt, damit dieser ihm dort vorliest. Victor Hugo und André Gide ebnen den Weg in die Welt der Literatur, die, je tiefer Choukri in sie vordringt, den Kontrast zu seiner Herkunft stetig vergrößert. Diese bald weit klaffende Kluft bestimmt sein Schreiben: "Ich weiß nicht, wie ich über die Milch von Vögeln, die liebkosende Berührung von Engelsschönheit, die Trauben des Taus, Katarakte des Schwarzen, Gesänge der Nachtigall schreiben soll. Ich weiß nicht, wie ich mit einem Besen aus Kristall im Kopf schreiben soll. Ein Besen ist Protest und nicht Schmuck." Die Welt, aus der Choukri schöpft, bringt einen literarischen Realismus hervor, der bitter schmeckt - selbst in seinen dem Wahnsinn oder dem Alkohol abgetrotzten magischen Momenten.
Mohamed Choukri:
"Zeit der Fehler".
Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. 259 S., geb., 48,- Euro.
Mohamed Choukri: "Das nackte Brot".
Aus dem Arabischen von Georg Brunold. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. 218 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mohamed Choukris autobiographische Erzählungen stellen eine arabische Welt vor, die keinem Klischee entspricht.
Von Lena Bopp
Von Lena Bopp
Mohamed Choukri zählt zu den bekanntesten Schriftstellern der arabischen Welt. Vor allem sein Buch "Das nackte Brot" war schon, kurz nachdem es 1982 in arabischer Sprache erschienen war, ebenso berühmt wie berüchtigt - so roh und direkt, so voll irrer Lust und unbändiger Gewalt war selten, vielleicht noch nie in aller Öffentlichkeit über das Leben in Armut berichtet worden. Erschwerend kam hinzu, dass der Marokkaner Mohamed Choukri in dem Buch keine Fiktion, sondern, jedenfalls weitgehend, seine eigene Lebensgeschichte erzählte. Es enthält den ersten Teil seiner später drei Bände umfassenden Autobiographie. Allein im ersten Teil erzählt er von seinem (Über-)Leben in Tetuan, Oran und in den Straßen von Tanger, wohin Choukris aus dem Rif-Gebirge stammende Berberfamilie in den Vierzigerjahren aufgebrochen war, um Lohn und Brot zu finden. Gleich auf den ersten paar Seiten tötet der Vater in einem Anfall von betrunkenem Wahnsinn erst seinen jüngsten, von Krankheit und Hunger geschwächten Sohn und verprügelt dann seine Frau.
Bevor das Buch auf Arabisch erschien (und in den Ländern dieser Sprache jahrelang verboten wurde), war es mithilfe von Choukris Freunden Paul Bowles und Tahar Ben Jelloun bereits auf Englisch und Französisch veröffentlicht worden. Nur ein paar Jahre später, Mitte der Achtziger, erschien auch die deutsche Übersetzung von Georg Brunold in der "Anderen Bibliothek" und fand sehr viel Beachtung. Weniger Aufmerksamkeit bekam hingegen die Fortsetzung von Choukris Autobiographie, was die Herausgeberin der "Anderen Bibliothek" nun veranlasst, beide Teile noch einmal neu aufzulegen - in schönen schmalen Bänden, die das Tor zu einer Welt öffnen, die aus Scham und Schande sonst weitgehend im Verborgenen blieb und bleibt. Choukri hat seine Texte in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu Papier gebracht. Er schreibt im Rückblick, aber meist im Präsens. Er pflegt einen lapidaren Ton, der wie abgestumpft wirkt gegenüber den Ungeheuerlichkeiten, von denen er berichtet, aber nicht unempfänglich für das Leid anderer. Er schreibt wie einer, der es gewohnt ist, nicht zu viel Energie mit Empathie zu verschwenden.
Sein zweiter Band, "Zeit der Fehler", setzt ein, als Choukri um die zwanzig Jahre alt ist und nach Larache aufbricht, um dort zum ersten Mal im Leben eine Schule zu besuchen. Seine Mitschüler sind Kinder, aber genauso arm und hungrig wie er, dem die Mahlzeiten nicht reichen, um satt zu werden. Statt im Internat schläft er lieber unter seinesgleichen in einem verlassenen Speicher, der mit einem uralten Radio, Postern aus Zeitschriften und Weinflaschen in eine dunkle Oase verwandelt wird. Während der Sommerferien kehrt Choukri in die Bars und Bordelle von Tanger zurück, das als "Internationale Zone" Reisende und Schiffbrüchige aus aller Welt anzieht. Er klaubt die Zigarettenstummel von den Straßen und lässt sich das eiternde Glied behandeln. Als er zu seiner an Schwindsucht erkrankten Mutter nach Tetuan gerufen wird, begegnet er in seinem Elternhaus kleinen Geschwistern, die er noch nie gesehen hat. Das Elend ist allumfassend und von einer Wucht, die jeder Barmherzigkeit hohnspricht. Kein staatlicher Amts-, kein religiöser Würdenträger taucht je in den Gossen auf, in denen Choukri zu Hause ist. Kein Gott kann hier irgendetwas retten.
Dafür lässt Choukri in fast jedem Kapitel neue Weggefährten aufkreuzen, gescheiterte Schriftsteller, Saufkumpane, Hehler und Huren, die allesamt so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Nichts hält sie, aber auch das Elend verbindet. Freundschaft und Liebe hängen stets am seidenen Faden. Frauen sind in Choukris Kosmos Prostituierte oder geschlagene Mütter, andere Rollen sind für sie nicht vorgesehen. Die einzige Figur, die etwas Licht in die Finsternis bringt, ist der blinde Muchtar El Haddad, der den Schüler Choukri ins Teehaus einlädt, damit dieser ihm dort vorliest. Victor Hugo und André Gide ebnen den Weg in die Welt der Literatur, die, je tiefer Choukri in sie vordringt, den Kontrast zu seiner Herkunft stetig vergrößert. Diese bald weit klaffende Kluft bestimmt sein Schreiben: "Ich weiß nicht, wie ich über die Milch von Vögeln, die liebkosende Berührung von Engelsschönheit, die Trauben des Taus, Katarakte des Schwarzen, Gesänge der Nachtigall schreiben soll. Ich weiß nicht, wie ich mit einem Besen aus Kristall im Kopf schreiben soll. Ein Besen ist Protest und nicht Schmuck." Die Welt, aus der Choukri schöpft, bringt einen literarischen Realismus hervor, der bitter schmeckt - selbst in seinen dem Wahnsinn oder dem Alkohol abgetrotzten magischen Momenten.
Mohamed Choukri:
"Zeit der Fehler".
Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. 259 S., geb., 48,- Euro.
Mohamed Choukri: "Das nackte Brot".
Aus dem Arabischen von Georg Brunold. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. 218 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In den 80er Jahren konnte man "Das nackte Brot" und "Zeit der Fehler", zwei Bände einer dreiteiligen Roman-Autobiografie Mohamed Choukris zuletzt auf Deutsch lesen, jetzt werden sie in der Anderen Bibliothek neu aufgelegt, freut sich Rezensentin Lena Bopp, die selten "so roh und direkt" vom Leiden und Überleben der Ärmsten Marokkos gelesen hat. Auch deshalb waren sie in arabischsprachigen Ländern lange verboten, erfahren wir. Choukri erzählt hier überwiegend seine eigene Lebensgeschichte, erklärt sie, die sich im ersten Band, "Das nackte Brot", zwischen Marokko und Algerien abspielt, wohin die Berberfamilie aus dem Rif zog, um Arbeit zu finden. Choukri schreibt davon in einem "wie abgestumpft wirkenden Ton", so die Rezensentin, was das Beschriebene vielleicht noch ungeheuerlicher macht. Im zweiten Band, "Zeit der Fehler", ist Choukri zwanzig Jahre alt und geht erstmals zur Schule, aber die Welt, aus der er kommt, lässt ihn offenbar nicht los, er kehrt immer wieder zurück zu den Ärmsten, den Bars und Bordellen. Dieses Elend ist für Worte oder Trost nicht mehr erreichtbar, lernt Bopp, der so viel Realismus "bitter schmeckt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Wirkungsgeschichte der beiden Teile 'Das nackte Brot' und 'Zeit der Fehler' ist ebenso global wie einzigartig.« Fachzeitschrift /-magazin 20231207