Die Geschichte eines wissenschaftlichen Abenteuer Über kaum eine Frage wird seit Jahrzehnten heftiger gestritten als darüber, was unser Verhalten bestimmt. Aber erst die enormen Fortschritte in der Molekularbiologie des zwanzigsten Jahrhunderts lassen eine Antwort darauf möglich erscheinen. Entscheidend dazu beigetragen hat ein Mann, den außerhalb der Welt des Labors kaum jemand kennt: Seymour Benzer, erfindungsreich, exzentrisch und einer der bedeutendsten Biologen des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Wissenschaftsjournalist und Pulitzer-Preisträger Jonathan Weiner verbrachte fast fünf Jahre in Benzers Labor am California Institute of Technology in Pasadena und schaute dem so skurrilen wie genialen Wissenschaftler und dessen Schülern bei ihrer Arbeit über die Schulter. »Zeit, Liebe, Erinnerung« ist die Geschichte der modernen Genetik vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute. Es ist zugleich die Geschichte Seymour Benzers, der wie kaum ein zweiter die Molekulargenetik vorang
etrieben hat: in den fünfziger Jahren mit der Entschlüsselung der Feinstruktur des Gens, seit den sechziger Jahren als Begründer der genetischen Sektion des Verhaltens. Weiners fesselnde Erzählung macht den wissenschaftlichen Fortschritt anschaulich und erlebbar. Und sie straft all jene Lügen, die Naturwissenschaftler für trocken und humorlos halten.
etrieben hat: in den fünfziger Jahren mit der Entschlüsselung der Feinstruktur des Gens, seit den sechziger Jahren als Begründer der genetischen Sektion des Verhaltens. Weiners fesselnde Erzählung macht den wissenschaftlichen Fortschritt anschaulich und erlebbar. Und sie straft all jene Lügen, die Naturwissenschaftler für trocken und humorlos halten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Arrgh! Reichlich seltsamer Geschmack
Vielleicht sagt es dem Professor zu: Der Fliegenforscher Seymour Benzer ist in der Nahrung nicht eben heikel / Von Achim Bahnen
Für Fliegen gibt es keine Nobelpreise; für Fliegenforscher zuweilen schon. Als Thomas Hunt Morgan, einer der Pioniere, 1933 für Beiträge zu Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurde, mußte der Laudator noch erklären, warum Erkenntnisse über Taufliegen den vom Preisstifter verlangten "größten Nutzen" für die Menschheit bringen. Seit der Aufdeckung des genetischen Codes und der DNS-Struktur ist die Antwort offenkundig: Da alle Lebewesen Permutationen eines universellen Schöpfungsalphabets sind, dient die Drosophila im Labor als handliches Buchstabiermodell. Fliegenforschung ist Menschenforschung.
Auch Seymour Benzer ist ein Lord of the Flies. Unzählige Milchflaschen mutierten in seinem Labor am Caltech in Pasadena zu Fliegenflaschen. Mit seinem bevorzugten Forschungsgegenstand teilt der soeben neunundsiebzig Jahre alt gewordene Amerikaner neben vielen homologen Genen das Schicksal, bisher nicht mit einem Nobelpreis dekoriert worden zu sein. Dennoch ist Benzer einer der großen Biologen des zwanzigsten Jahrhunderts, der die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Genen und Verhalten nachhaltig geprägt hat. Genial, skurril und nur der Wissenschaft verpflichtet - so charakterisiert ihn Pulitzerpreisträger Jonathan Weiner in seinem neuen Buch, das nicht als konventionelle Biographie geschrieben ist und sich doch den wissenschaftlichen Werdegang dieses Forschers zum Leitfaden erkoren hat. "Die Molekularbiologie ist für junge Wissenschaftler geschichtslos", klagte vor Jahren einer ihrer älteren Vertreter. Langsam erst erhält die als Wachstumsindustrie in das neue Jahrtausend eilende Genforschung auch ein historisches Gesicht. Weiners facettenreicher Querschnitt durch Verhaltens-, Molekular- und Neurogenetik ist ein lesenswerter Beitrag dazu.
Zunächst studierte Benzer Physik. Doch als nach dem Zweiten Weltkrieg lukrative Verträge in der neuen Halbleiterindustrie winkten, wandte er sich, wie manche Kollegen der Anregung Erwin Schrödingers folgend, der Erforschung des Lebendigen zu - und stieß dabei auf Max Delbrück, der ebenfalls von der Physik her kam. Delbrück war der Kopf der sogenannten Phagen-Gruppe, die mit Experimenten an E.-coli-Bakterien und bakterienfressenden Viren, den Bakteriophagen, die ersten Schritte in der Molekularbiologie unternahm. Nach der von Morgan und seinen Schülern entworfenen Gentheorie waren die Erbfaktoren auf Chromosomen lokalisiert und in Genkarten verzeichnet. Man wußte nun, wo die Gene lagen, aber nicht, wie sie aussahen und woraus sie bestanden. Spätestens mit der Aufdeckung der DNS-Struktur war die Vorstellung von Genen als punktförmigen Atomen der Vererbung nicht mehr haltbar. Hatten Gene eine Feinstruktur, ließen sie sich gar spalten wie ein Atom?
Benzers Idee zur experimentellen Überprüfung war - wie so oft bei ihm und in der ganzen Phagen-Gruppe - von eleganter Einfachheit. Durch doppelte Infizierung von Bakterien kreuzte er zwei unterschiedliche Stämme defekter Virusmutanten miteinander. Es waren Mutationen des gleichen Gens, so daß die Nachkommen, würde das Gen ungeteilt vererbt, entweder die eine oder die andere Mutation aufweisen mußten. Gesunde Varianten konnten nur dadurch entstehen, daß der Austausch von Chromosomenteilen, das crossing over, in manchen Fällen mitten durch das Gen vonstatten ging; so würde eines der neuen Virenkinder beide Defekte, das andere aber ein neu zusammengefügtes, gesundes Gen erhalten. Als sich in der Petrischale tatsächlich auch gesunde Bakterienfresser fanden, war die Hypothese bestätigt und das Gen zu einem realen Gegenstand geworden, der gespalten und manipuliert werden konnte.
Mit der Genspaltung hatte Benzer schon Großes geleistet, bevor er sich Mitte der sechziger Jahre der bereits erschöpft geglaubten Fliegenforschung zuwandte. Auch hier erwies er sich als begnadeter Experimentator. Um die Flugfähigkeit verschiedener Drosophila-Mutanten zu überprüfen, ließ er die Fliegen in einen mit Paraffinöl ausgestrichenen Meßzylinder fallen. Wer zuerst flog, klebte oben, und am Boden lagen flügellahme Fliegen. Mit solch simplen, aber effektiven Anordnungen inspirierte Benzer auch seine Schüler, die nach rund einem Drittel des Buches in den Vordergrund treten. "Benzer, wo ist Benzer?" möchte man als Leser stellenweise rufen, während Weiner erzählt, wie die Postdocs in seinem Labor das Fliegenverhalten erforschten. Nicht immer ging es dabei zielgerichtet voran. "Keiner aus dem Labor wußte damals, was wir eigentlich tun sollten", erinnert sich Quinn an die ersten Jahre, doch bald waren die "drei Ecksteine der Verhaltenspyramide" beisammen: Rhythmus, Paarung, Lernen.
Zeit, Liebe, Erinnerung - in der anthropomorphen Sprache des Buchtitels, der die darunter überlebensgroß gezeichnete Fliege als Drosophila sapiens erscheinen läßt, ist die ganze Provokation der Forschungsrichtung enthalten. Die Fliege weiß nicht, daß sie sich morgen noch an eine verflossene Liebe erinnern wird. Ihr Verhalten wird von den Atomen der Vererbung gesteuert, den Genen: clock, fruitless, dunce. Aber ist es beim Menschen anders? Und umgekehrt: Folgt die Fliege denn bloß dem genetischen Programm? Schon bei seinen ersten Experimenten hatte Benzer festgestellt, daß Fliegen "eine gewisse Zufälligkeit im Verhalten" zeigen. Und drosophilosophisch fügt er hinzu: "Das ist doch freier Wille, wenn man so will." In der naturalistischen Metaphysikkritik unterscheidet er sich nicht von James Watson, den Weiner ansonsten als macht- und geldgieriges Gegenbild zeichnet. Um das Zustandekommen individuellen Verhaltens weiter aufzuklären, konzentrierte Benzer seine Forschungen in der Folge auf die Neurogenetik und überließ Jeff Hall den Erfolg der atomic theory of behaviour.
Weiner verzichtet darauf, die Debatten über das Verhältnis von Anlage und Umwelt, nature und nurture, ausführlich nachzuzeichnen und skizziert die gegensätzlichen Positionen nur. Ein renommierter Drosophologe wie Richard Lewontin fragt sich noch heute, was das Werbeverhalten seiner Labortiere überhaupt mit dem Flirten von Menschen zu tun haben soll. Mehr als uns lieb sein kann, hält E. O. Wilson dagegen und diktiert dem Autor triumphierend: "Besser Benzer als Freud! Zitieren Sie mich. Besser Benzer als Freud!"
Weiners eigener Stil ist erfreulich nüchtern. Pointen werden nicht ins letzte ausgereizt und Anekdoten, an denen dank Benzers Lust am Bizarren kein Mangel wäre, als unterhaltsames Beiwerk nicht überstrapaziert. Anstatt wie manche seiner amerikanischen Kollegen Gespräche mit den Protagonisten lang und breit zu referieren, beschränkt sich Weiner auf treffende Zitate und besetzt souverän die Chronistenperspektive. Nur gegen Ende, angekommen in der Gegenwart und in die Zukunft blickend, redet Weiner dem Molekularbiologen Lee Silver distanzlos nach dem Mund. Hier hat der Aktualitätsdruck offenbar die Feder geführt, der Weiner auch vor überhasteten Eingriffen in die menschliche Keimbahn warnen läßt.
Wie nahe der Mensch der Fliege wirklich steht, hat sich ja erst im Laufe der fortschreitenden Sequenzierungsprojekte gezeigt, die art- und gattungsübergreifend immer mehr homologe Gene gemeinsamen evolutionären Ursprungs zutage fördern. So klein und fast ein Mensch - im großen Schöpfungsbaukasten ist die Drosophila nicht weit von uns entfernt. Neben der unerwarteten Nachbarschaft schockiert vor allem die analoge Eingriffsmöglichkeit. Eugenik am Menschen, die Thomas Morgans Lobredner vom Nobelkomitee 1933 begeistert als künftiges Ziel bezeichnet hatte, wird im Labor zur verführerischen Versuchsvariante. Fliegen machen heißt Menschen machen.
Der Herr der Fliegen ist der Beelzebub - so will es die Herleitung vom hebräischen Baal-Zebub. Ist Benzer der Beelzebub der Biologie? War der Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer, der zur Bar Mitzwah ein Mikroskop geschenkt bekam und in der Synagoge Physikbücher las, sich als Forscher der Konsequenzen seines Tuns bewußt, lag die künftige Verfügungsmacht in seiner Absicht? Weiner hat diese Frage in seinen Gesprächen nicht ausgespart; die Antworten sind klar und dennoch nicht erschöpfend. Benzer ist noch immer von rastloser Neugier getrieben, die sich bei ihm auch kulinarisch äußert: Wie Morgan, der befand, um einen Organismus zu kennen, müsse man ihn essen, verspeist Benzer so ziemlich alles, was über ein Genom verfügt.
"Einfach experimentieren", gab er in den sechziger Jahren als Losung an seine Studenten aus. Mit Adenauer als Laborleiter wäre kein Fliegengen seziert worden, zugleich aber auch kein ethisches Problem entstanden. Als habe die Grundlagenforschung nicht auch in der Biologie ihre Unschuld längst verloren, verschanzt sich Benzer wie sein Jugendvorbild aus dem "Arrowsmith"-Roman von Sinclair Lewis im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Lediglich vor schlagzeilenträchtigen Vereinfachungen möchte er warnen. Der Glaube, ein bestimmtes Gen bestimme das Schicksal eines Menschen, sei aufgrund der Komplexität der Genexpression einfach falsch. Die hier erzählte Geschichte seiner Wissenschaft lehrt zudem, daß die Entdeckung eines einfachen Zusammenhangs oft nur den Schlüssel zu einem komplizierten Zusammenspiel verschiedener Ursachen liefert. Gleichwohl ist Benzer davon überzeugt, daß bald Tausende "solider Verbindungen" zwischen Genen und menschlichem Verhalten entdeckt werden. Auf die Frage nach möglichen Anwendungen aber entgegnet stellvertretend ein junger Drosophologe: "Gott sei Dank muß ich sie nicht beantworten. Ich spiele ja nur mit Fliegen herum."
Als Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" (nicht im "Tractatus", wie die Übersetzung im Gegensatz zum Original kühn behauptet) die Frage nach seinem Ziel in der Philosophie beantwortete, dachte er wohl nicht an Scharen von Drosophila melanogaster in umfunktionierten Milchflaschen. Und als Benzer auf den Etiketten die enthaltenen Mutanten mit "f; cn bw; TM2/tra . . ." bezeichnete, hatte er keine philosophische Untersuchungen im Sinn. Benzer aber hat - mit anderen - der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas gezeigt. Die Philosophie ist damit nicht am Ziel. Im Fliegenglas sitzt jetzt der Mensch.
Jonathan Weiner: "Zeit, Liebe, Erinnerung". Auf der Suche nach den Ursprüngen des Verhaltens. Aus dem Amerikanischen von Yvonne Badal. Siedler Verlag, Berlin 2000. 384 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vielleicht sagt es dem Professor zu: Der Fliegenforscher Seymour Benzer ist in der Nahrung nicht eben heikel / Von Achim Bahnen
Für Fliegen gibt es keine Nobelpreise; für Fliegenforscher zuweilen schon. Als Thomas Hunt Morgan, einer der Pioniere, 1933 für Beiträge zu Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurde, mußte der Laudator noch erklären, warum Erkenntnisse über Taufliegen den vom Preisstifter verlangten "größten Nutzen" für die Menschheit bringen. Seit der Aufdeckung des genetischen Codes und der DNS-Struktur ist die Antwort offenkundig: Da alle Lebewesen Permutationen eines universellen Schöpfungsalphabets sind, dient die Drosophila im Labor als handliches Buchstabiermodell. Fliegenforschung ist Menschenforschung.
Auch Seymour Benzer ist ein Lord of the Flies. Unzählige Milchflaschen mutierten in seinem Labor am Caltech in Pasadena zu Fliegenflaschen. Mit seinem bevorzugten Forschungsgegenstand teilt der soeben neunundsiebzig Jahre alt gewordene Amerikaner neben vielen homologen Genen das Schicksal, bisher nicht mit einem Nobelpreis dekoriert worden zu sein. Dennoch ist Benzer einer der großen Biologen des zwanzigsten Jahrhunderts, der die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Genen und Verhalten nachhaltig geprägt hat. Genial, skurril und nur der Wissenschaft verpflichtet - so charakterisiert ihn Pulitzerpreisträger Jonathan Weiner in seinem neuen Buch, das nicht als konventionelle Biographie geschrieben ist und sich doch den wissenschaftlichen Werdegang dieses Forschers zum Leitfaden erkoren hat. "Die Molekularbiologie ist für junge Wissenschaftler geschichtslos", klagte vor Jahren einer ihrer älteren Vertreter. Langsam erst erhält die als Wachstumsindustrie in das neue Jahrtausend eilende Genforschung auch ein historisches Gesicht. Weiners facettenreicher Querschnitt durch Verhaltens-, Molekular- und Neurogenetik ist ein lesenswerter Beitrag dazu.
Zunächst studierte Benzer Physik. Doch als nach dem Zweiten Weltkrieg lukrative Verträge in der neuen Halbleiterindustrie winkten, wandte er sich, wie manche Kollegen der Anregung Erwin Schrödingers folgend, der Erforschung des Lebendigen zu - und stieß dabei auf Max Delbrück, der ebenfalls von der Physik her kam. Delbrück war der Kopf der sogenannten Phagen-Gruppe, die mit Experimenten an E.-coli-Bakterien und bakterienfressenden Viren, den Bakteriophagen, die ersten Schritte in der Molekularbiologie unternahm. Nach der von Morgan und seinen Schülern entworfenen Gentheorie waren die Erbfaktoren auf Chromosomen lokalisiert und in Genkarten verzeichnet. Man wußte nun, wo die Gene lagen, aber nicht, wie sie aussahen und woraus sie bestanden. Spätestens mit der Aufdeckung der DNS-Struktur war die Vorstellung von Genen als punktförmigen Atomen der Vererbung nicht mehr haltbar. Hatten Gene eine Feinstruktur, ließen sie sich gar spalten wie ein Atom?
Benzers Idee zur experimentellen Überprüfung war - wie so oft bei ihm und in der ganzen Phagen-Gruppe - von eleganter Einfachheit. Durch doppelte Infizierung von Bakterien kreuzte er zwei unterschiedliche Stämme defekter Virusmutanten miteinander. Es waren Mutationen des gleichen Gens, so daß die Nachkommen, würde das Gen ungeteilt vererbt, entweder die eine oder die andere Mutation aufweisen mußten. Gesunde Varianten konnten nur dadurch entstehen, daß der Austausch von Chromosomenteilen, das crossing over, in manchen Fällen mitten durch das Gen vonstatten ging; so würde eines der neuen Virenkinder beide Defekte, das andere aber ein neu zusammengefügtes, gesundes Gen erhalten. Als sich in der Petrischale tatsächlich auch gesunde Bakterienfresser fanden, war die Hypothese bestätigt und das Gen zu einem realen Gegenstand geworden, der gespalten und manipuliert werden konnte.
Mit der Genspaltung hatte Benzer schon Großes geleistet, bevor er sich Mitte der sechziger Jahre der bereits erschöpft geglaubten Fliegenforschung zuwandte. Auch hier erwies er sich als begnadeter Experimentator. Um die Flugfähigkeit verschiedener Drosophila-Mutanten zu überprüfen, ließ er die Fliegen in einen mit Paraffinöl ausgestrichenen Meßzylinder fallen. Wer zuerst flog, klebte oben, und am Boden lagen flügellahme Fliegen. Mit solch simplen, aber effektiven Anordnungen inspirierte Benzer auch seine Schüler, die nach rund einem Drittel des Buches in den Vordergrund treten. "Benzer, wo ist Benzer?" möchte man als Leser stellenweise rufen, während Weiner erzählt, wie die Postdocs in seinem Labor das Fliegenverhalten erforschten. Nicht immer ging es dabei zielgerichtet voran. "Keiner aus dem Labor wußte damals, was wir eigentlich tun sollten", erinnert sich Quinn an die ersten Jahre, doch bald waren die "drei Ecksteine der Verhaltenspyramide" beisammen: Rhythmus, Paarung, Lernen.
Zeit, Liebe, Erinnerung - in der anthropomorphen Sprache des Buchtitels, der die darunter überlebensgroß gezeichnete Fliege als Drosophila sapiens erscheinen läßt, ist die ganze Provokation der Forschungsrichtung enthalten. Die Fliege weiß nicht, daß sie sich morgen noch an eine verflossene Liebe erinnern wird. Ihr Verhalten wird von den Atomen der Vererbung gesteuert, den Genen: clock, fruitless, dunce. Aber ist es beim Menschen anders? Und umgekehrt: Folgt die Fliege denn bloß dem genetischen Programm? Schon bei seinen ersten Experimenten hatte Benzer festgestellt, daß Fliegen "eine gewisse Zufälligkeit im Verhalten" zeigen. Und drosophilosophisch fügt er hinzu: "Das ist doch freier Wille, wenn man so will." In der naturalistischen Metaphysikkritik unterscheidet er sich nicht von James Watson, den Weiner ansonsten als macht- und geldgieriges Gegenbild zeichnet. Um das Zustandekommen individuellen Verhaltens weiter aufzuklären, konzentrierte Benzer seine Forschungen in der Folge auf die Neurogenetik und überließ Jeff Hall den Erfolg der atomic theory of behaviour.
Weiner verzichtet darauf, die Debatten über das Verhältnis von Anlage und Umwelt, nature und nurture, ausführlich nachzuzeichnen und skizziert die gegensätzlichen Positionen nur. Ein renommierter Drosophologe wie Richard Lewontin fragt sich noch heute, was das Werbeverhalten seiner Labortiere überhaupt mit dem Flirten von Menschen zu tun haben soll. Mehr als uns lieb sein kann, hält E. O. Wilson dagegen und diktiert dem Autor triumphierend: "Besser Benzer als Freud! Zitieren Sie mich. Besser Benzer als Freud!"
Weiners eigener Stil ist erfreulich nüchtern. Pointen werden nicht ins letzte ausgereizt und Anekdoten, an denen dank Benzers Lust am Bizarren kein Mangel wäre, als unterhaltsames Beiwerk nicht überstrapaziert. Anstatt wie manche seiner amerikanischen Kollegen Gespräche mit den Protagonisten lang und breit zu referieren, beschränkt sich Weiner auf treffende Zitate und besetzt souverän die Chronistenperspektive. Nur gegen Ende, angekommen in der Gegenwart und in die Zukunft blickend, redet Weiner dem Molekularbiologen Lee Silver distanzlos nach dem Mund. Hier hat der Aktualitätsdruck offenbar die Feder geführt, der Weiner auch vor überhasteten Eingriffen in die menschliche Keimbahn warnen läßt.
Wie nahe der Mensch der Fliege wirklich steht, hat sich ja erst im Laufe der fortschreitenden Sequenzierungsprojekte gezeigt, die art- und gattungsübergreifend immer mehr homologe Gene gemeinsamen evolutionären Ursprungs zutage fördern. So klein und fast ein Mensch - im großen Schöpfungsbaukasten ist die Drosophila nicht weit von uns entfernt. Neben der unerwarteten Nachbarschaft schockiert vor allem die analoge Eingriffsmöglichkeit. Eugenik am Menschen, die Thomas Morgans Lobredner vom Nobelkomitee 1933 begeistert als künftiges Ziel bezeichnet hatte, wird im Labor zur verführerischen Versuchsvariante. Fliegen machen heißt Menschen machen.
Der Herr der Fliegen ist der Beelzebub - so will es die Herleitung vom hebräischen Baal-Zebub. Ist Benzer der Beelzebub der Biologie? War der Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer, der zur Bar Mitzwah ein Mikroskop geschenkt bekam und in der Synagoge Physikbücher las, sich als Forscher der Konsequenzen seines Tuns bewußt, lag die künftige Verfügungsmacht in seiner Absicht? Weiner hat diese Frage in seinen Gesprächen nicht ausgespart; die Antworten sind klar und dennoch nicht erschöpfend. Benzer ist noch immer von rastloser Neugier getrieben, die sich bei ihm auch kulinarisch äußert: Wie Morgan, der befand, um einen Organismus zu kennen, müsse man ihn essen, verspeist Benzer so ziemlich alles, was über ein Genom verfügt.
"Einfach experimentieren", gab er in den sechziger Jahren als Losung an seine Studenten aus. Mit Adenauer als Laborleiter wäre kein Fliegengen seziert worden, zugleich aber auch kein ethisches Problem entstanden. Als habe die Grundlagenforschung nicht auch in der Biologie ihre Unschuld längst verloren, verschanzt sich Benzer wie sein Jugendvorbild aus dem "Arrowsmith"-Roman von Sinclair Lewis im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Lediglich vor schlagzeilenträchtigen Vereinfachungen möchte er warnen. Der Glaube, ein bestimmtes Gen bestimme das Schicksal eines Menschen, sei aufgrund der Komplexität der Genexpression einfach falsch. Die hier erzählte Geschichte seiner Wissenschaft lehrt zudem, daß die Entdeckung eines einfachen Zusammenhangs oft nur den Schlüssel zu einem komplizierten Zusammenspiel verschiedener Ursachen liefert. Gleichwohl ist Benzer davon überzeugt, daß bald Tausende "solider Verbindungen" zwischen Genen und menschlichem Verhalten entdeckt werden. Auf die Frage nach möglichen Anwendungen aber entgegnet stellvertretend ein junger Drosophologe: "Gott sei Dank muß ich sie nicht beantworten. Ich spiele ja nur mit Fliegen herum."
Als Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" (nicht im "Tractatus", wie die Übersetzung im Gegensatz zum Original kühn behauptet) die Frage nach seinem Ziel in der Philosophie beantwortete, dachte er wohl nicht an Scharen von Drosophila melanogaster in umfunktionierten Milchflaschen. Und als Benzer auf den Etiketten die enthaltenen Mutanten mit "f; cn bw; TM2/tra . . ." bezeichnete, hatte er keine philosophische Untersuchungen im Sinn. Benzer aber hat - mit anderen - der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas gezeigt. Die Philosophie ist damit nicht am Ziel. Im Fliegenglas sitzt jetzt der Mensch.
Jonathan Weiner: "Zeit, Liebe, Erinnerung". Auf der Suche nach den Ursprüngen des Verhaltens. Aus dem Amerikanischen von Yvonne Badal. Siedler Verlag, Berlin 2000. 384 S., geb., 49,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Der Titel, erklärt Achim Bahnen seinen Lesern, bringt auf einen `antropomorphen` Nenner, was vor allem in den Labors von Seymor Benzer als `Ecksteine` genetisch codierten Verhaltens der Fruchtfliege Drosophila, als `Rhythmus, Paarung, Lernen` erforscht worden ist. Der rote Faden dieser historischen Darstellung der Anfänge der Molekularbiologie bzw. Genforschung ist in gewisser Weise die Biografie des `begnadeten Experimentators` Seymot Benzers und seiner Nachfolger. Bahnen gibt einige der ausgefuchsten Versuchsanordnungen wieder, durch die der Autor den langsamen aber unaufhaltsamen Fortschritt der Genforschung anhand der Erforschung der Fruchtfliege Drosophila beschreibt. Die ethischen Fragen der Genforschung, so Bahnen, wurden akut durch die Erkenntnis, `wie nahe der Mensch der Fliege wirklich steht`, d.h. genetisch gesehen. Die schnell erkundete Manipulation des genetischen Codes der Drosophila ließ die Möglichkeit der `Eingriffsmöglichkeit` in den des Menschen schnell ahnen. Die alte Garde der Genforscher, so Achim Bahnen, hat jedoch ein deutlich skeptisches Verhältnis zu den `schlagzeilenträchtigen Vereinfachungen`, mit denen einerseits Gene und Verhalten, andererseits die Möglichkeit gezielter Manipulation am Menschen gehandelt werden. Bahnen zitiert einen jungen `Drosophologen` mit seinem trockenen `Ich spiele ja nur mit Fliegen herum`. Am Ende der Rezension dieses `erfreulich nüchternen` Buches mahnt der Rezensent jedoch einigermaßen vorwurfsvoll die ethische Dimension der Genforschung an, denn `im Fliegenglas sitzt jetzt der Mensch`.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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