Kaum ein Werk der Weltliteratur scheint so offen für Interpretationen wie dasjenige Franz Kafkas, und kaum eines erweist sich bei näherer Prüfung als so resistent gegen ideologische Vereinnahmung.Der Schweizer Literaturwissenschaftler Beda Allemann verzichtet daher in seinem Bemühen um einen angemessenen Zugang zu diesem Werk konsequent darauf, den zahllosen schon vorliegenden 'Deutungen' der Romane und Erzählungen Kafkas weitere hinzuzufügen. Die hier gesammelten, im Laufe von zweieinhalb Jahrzehnten entstandenen Aufsätze dokumentieren vielmehr den Versuch, zu den tiefer liegenden Schichten der poetischen Struktur vorzustoßen, die den epochalen Rang der Kafkaschen Dichtung ausmachen. Das wesentliche Moment dieser Struktur, die das gesamte erzählerische Werk organisiert, ist für Allemann die eigentümliche Zeit- und Geschichtsauffassung Kafkas, die im paradoxen Bild des »stehenden Sturmlaufs« ihren prägnanten Ausdruck gefunden hat.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999Vergiss das Beste nicht
Asketische Moderne: Beda Allemanns Kafka-Studien
In seinem Nachruf auf den Germanisten Beda Allemann hat Wolfgang Frühwald eine liebenswürdige Anekdote überliefert: Der Bonner Literaturwissenschaftler, der einer Einladung an die Universität Bloomington (Indiana) folgen wollte, stand, pünktlich zur verabredeten Zeit, ohne Visum im Pass, am Flughafen von Bloomington (Illinois). Frühwald sprach damals von Allemanns "Fremdheit" allen weltlichen Belangen gegenüber, die dem weit Gereisten zeitlebens geblieben sei. Allemann, 1926 in der Schweiz geboren, Schüler Emil Staigers, starb 1991. Eine weltfremde, blicklose Haltung prägt auch seine gesammelten Abhandlungen zu Kafka. An ihnen, die in dem Vierteljahrhundert von 1962 bis 1987 entstanden, lässt sich etwas von der neueren Geschichte der Germanistik ablesen: Sie offenbaren einen akademischen Habitus, der in die Zeitenferne entrückt ist.
Es ist, um es polemisch zu sagen, der Habitus einer Abwehr. Programmatisch wird von Allemann die Beschäftigung mit der "thematischen Oberfläche der Erzählungen" zurückgewiesen - ein "fortgeschritteneres Stadium" der Lektüre sei die Untersuchung der "mytho-poetologischen relevanten Momente des Werks". Kafka tritt in diesen Abhandlungen in Beziehung zur Tradition der Fabel, zu Kleist, zu Nietzsche, zur Mythologie. Ausschließlich innerliterarische Relationen sind es, Gattungsfragen vor allem, die Allemann interessieren, an keiner Stelle verlässt sein Blick die geschlossene Welt der Hochliteratur. Oder vielmehr: An den wenigen Stellen, wo außerliterarische Sachverhalte wahrgenommen werden, erfahren sie eine leichte Verwischung, und man fragt sich, warum sie von den Herausgebern nicht korrigierend annotiert wurden. Kafka war eben kein "Staatsbeamter", sondern Angestellter der "Arbeiter-Unfall-Versicherungsgesellschaft" - seine zuerst in der DDR edierten "Amtlichen Schriften" aber spielen bei Allemann keine Rolle, obwohl sie mit ihren jährlichen Berichten über einzelne Industriezweige einen unvergleichlichen Einblick in die lebenslange Auseinandersetzung Kafkas mit dem Thema "Beruf" geben. Ebenso wenig rücken Kafkas Erzählungen mit ihrer wimmelnden, stets geschäftigen Figurenwelt in den Vordergrund der Interpretation. Nur dort, wo sie sich parabolisch, gleichnishaft, den letzten Dingen nähern, konnte ihnen Allemann etwas abgewinnen.
Allemann geht von dem Faktum des Prozesses aus, um seine Thesen zur Rechtfertigung und zur "stehenden Zeit" zu entwickeln. "Geschichtslos" sei Kafkas Welt, ein Zeitfluss werde -- überdeutlich im "Schloß" mit seinem ewigen Winter - regelrecht verneint. In der scheinbar zielstrebigen Bewegung der Figuren herrsche zugleich "absoluter Stillstand". Dieser Befund passte für eine Zeit, in der man Geschichte als etwas Vergangenes und Veraltetes ansehen konnte - für das posthistorische Intermezzo also, in das sich der Ausleger gestellt sah, als er 1962 seine erste Abhandlung verfasste.
"Das Leben ist erstaunlich kurz" - mit dieser Feststellung eines alten Mannes beginnt die Miniatur-Erzählung "Das nächste Dorf". Das will aber besagen, dass alle Fragen von Zeit und Geschichte für Franz Kafka, der mit vierzig Jahren starb, eine vitale Brisanz hatten: Vor aller Reflexion über Rechtfertigungen stand die Frage eines Mannes nach der schieren Lebenszeit, die ihm verbleiben würde. Die Maschine in der "Strafkolonie", die das Urteil dem Körper einzeichnet, ist ja zugleich eine Uhr, die dem Leben ein Ende setzt: "Es darf natürlich", so erklärt der Offizier dem Reisenden, "keine einfache Schrift sein; sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet." Solche Lebens- und Weltuhren hat Kafka überall in seine Geschichten hineinkonstruiert. Vielfach stehen seine Figuren unter einem Gesetz der Zeitmessung, mit der ihnen das Leben bemessen wird - man denke an den Hungerkünstler, dem zu seinem Leidwesen nur vierzig Tage des Fastens erlaubt sind, oder an den Landarzt, dem seine Fahrt erst märchenhaft schnell und dann albtraumhaft langsam vorkommt.
Auch der "Prozess" verläuft nach einer großen Uhr. Josef K. wird am Morgen seines dreißigsten Geburtstages verhaftet, ermordet wird er genau ein Jahr später, wieder am Geburtstag. Er ist ein Mann, der jung stirbt. Und nun erst wird der Sinn des Türhüter-Gleichnisses deutlich, das im Dom-Kapitel erzählt und gedeutet wird: Der Mann, der "Vor dem Gesetz" sein Leben lang verharrt, um alt, fast schwachsinnig eines friedlichen Todes zu sterben - er ist ein Mann, dem das Altern überhaupt vergönnt ist. Josef K., ganz dem sozialpsychologischen Epochentyp des nervösen Kaufmanns folgend, ist einer, der keine Zeit hat, dem es immer pressiert, dem die Ereignisse als ungelegene Störung kommen. "Voreilig" nennt ihn Allemann einmal sehr zu Recht. Selbst am Sonntag wird K. vom Gericht aufgehalten. Der Mann vor dem Gesetz harrt auf der Erde aus, er bleibt. Wird ihm deshalb das hohe Alter geschenkt?
Eine Philologie, die ihr höchstes Ziel in der Betrachtung von Gattungen und der Analyse von Tempuswechseln fand, konnte solche Fragen nur als unzulässige Kontamination von Biographie und Werk zurückweisen. Heute wird der Preis erkennbar, der für diese geschichts- und geschichtenferne Haltung zu entrichten war. In Allemanns Studien steht eine Germanistik ohne Begehren vor einer Geschichte ohne Ereignis, vor einem Kafka ohne Prag, ohne Arbeiter, Angestellte, Chefs und Soldaten, ohne die internationalen Schauplätze seiner Erzählungen, die von China bis Amerika und Afrika, auf die Bäume und unter die Erde reichen, ohne Musik, ohne Zionismus, ohne Käfer, Pferde, Zwirnspulen, springende Bälle und Riesenmaulwürfe, schließlich fast ohne Frauen - in einem Wort: ohne Körper. Kafka, so schreibt Allemann in seinem erzähltheoretischen Befund, "war ein Meister der erlebten Rede". Gut und schön. Aber war da nicht noch etwas anderes, etwas im Text, was den Leser noch heute festzuhalten vermag wie kaum ein anderes literarisches Werk?
"Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend . . ." Damit beginnt "Auf der Galerie". Und dem Satz, der hier noch lange nicht fertig ist, kann man trotz aller Konjunktive und Kautelen eines nicht nachsagen: dass er nichts erzähle. Denn er erzählt mit einer unerhörten, auf physische, anatomische Details geradezu versessen gierigen Dichte. Von ihr wissen Allemanns Studien kaum etwas. Selbst dort, wo er sich mit Walter Benjamins Kafka-Essay von 1934 auseinandersetzt, geht es ihm um Mystik, Offenbarung und Messianismus - aber nicht um die Schwimmhaut zwischen Lenis Fingern (im "Prozess"), aus der Benjamin eine jeder Offenbarung vorausliegende "Sumpfwelt" bei Kafka erschlossen hatte. Allemanns Deutung bleibt rein. Die Moderne, so erkennt man, wurde nach dem Krieg im Westen in einer reduzierten, begradigten, rationalisierten Form zunächst von säkularisierten Priestergestalten als asketische Religion für die gebildete Kaste vermittelt. Wer ihnen folgte, musste bald feststellen, dass er um das Beste - das von Allemann strikt abgewehrte und in den Vorhof des Uneigentlichen verbannte "vordergründig-inhaltliche Interesse" - betrogen war.
Für den Historiker des Fachs Germanistik allerdings ist dieser Band von exemplarischem Wert. Wer Beda Allemanns Abhandlungen liest, beginnt zu verstehen, woher der Stoffhunger kam, mit dem sich schon die nächsten Germanisten-Generationen noch der krudesten Sozialgeschichte verschrieben, spätere dann den Gender-Studies oder dem New Historicism, um nur endlich eine Berührung mit ihren Forschungsgegenständen zu gewinnen.
LORENZ JÄGER
Beda Allemann: "Zeit und Geschichte im Werk Kafkas". Hrsg. von Diethelm Kaiser und Nikolaus Lohse. Wallstein-Verlag, Göttingen 1999. 256 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Asketische Moderne: Beda Allemanns Kafka-Studien
In seinem Nachruf auf den Germanisten Beda Allemann hat Wolfgang Frühwald eine liebenswürdige Anekdote überliefert: Der Bonner Literaturwissenschaftler, der einer Einladung an die Universität Bloomington (Indiana) folgen wollte, stand, pünktlich zur verabredeten Zeit, ohne Visum im Pass, am Flughafen von Bloomington (Illinois). Frühwald sprach damals von Allemanns "Fremdheit" allen weltlichen Belangen gegenüber, die dem weit Gereisten zeitlebens geblieben sei. Allemann, 1926 in der Schweiz geboren, Schüler Emil Staigers, starb 1991. Eine weltfremde, blicklose Haltung prägt auch seine gesammelten Abhandlungen zu Kafka. An ihnen, die in dem Vierteljahrhundert von 1962 bis 1987 entstanden, lässt sich etwas von der neueren Geschichte der Germanistik ablesen: Sie offenbaren einen akademischen Habitus, der in die Zeitenferne entrückt ist.
Es ist, um es polemisch zu sagen, der Habitus einer Abwehr. Programmatisch wird von Allemann die Beschäftigung mit der "thematischen Oberfläche der Erzählungen" zurückgewiesen - ein "fortgeschritteneres Stadium" der Lektüre sei die Untersuchung der "mytho-poetologischen relevanten Momente des Werks". Kafka tritt in diesen Abhandlungen in Beziehung zur Tradition der Fabel, zu Kleist, zu Nietzsche, zur Mythologie. Ausschließlich innerliterarische Relationen sind es, Gattungsfragen vor allem, die Allemann interessieren, an keiner Stelle verlässt sein Blick die geschlossene Welt der Hochliteratur. Oder vielmehr: An den wenigen Stellen, wo außerliterarische Sachverhalte wahrgenommen werden, erfahren sie eine leichte Verwischung, und man fragt sich, warum sie von den Herausgebern nicht korrigierend annotiert wurden. Kafka war eben kein "Staatsbeamter", sondern Angestellter der "Arbeiter-Unfall-Versicherungsgesellschaft" - seine zuerst in der DDR edierten "Amtlichen Schriften" aber spielen bei Allemann keine Rolle, obwohl sie mit ihren jährlichen Berichten über einzelne Industriezweige einen unvergleichlichen Einblick in die lebenslange Auseinandersetzung Kafkas mit dem Thema "Beruf" geben. Ebenso wenig rücken Kafkas Erzählungen mit ihrer wimmelnden, stets geschäftigen Figurenwelt in den Vordergrund der Interpretation. Nur dort, wo sie sich parabolisch, gleichnishaft, den letzten Dingen nähern, konnte ihnen Allemann etwas abgewinnen.
Allemann geht von dem Faktum des Prozesses aus, um seine Thesen zur Rechtfertigung und zur "stehenden Zeit" zu entwickeln. "Geschichtslos" sei Kafkas Welt, ein Zeitfluss werde -- überdeutlich im "Schloß" mit seinem ewigen Winter - regelrecht verneint. In der scheinbar zielstrebigen Bewegung der Figuren herrsche zugleich "absoluter Stillstand". Dieser Befund passte für eine Zeit, in der man Geschichte als etwas Vergangenes und Veraltetes ansehen konnte - für das posthistorische Intermezzo also, in das sich der Ausleger gestellt sah, als er 1962 seine erste Abhandlung verfasste.
"Das Leben ist erstaunlich kurz" - mit dieser Feststellung eines alten Mannes beginnt die Miniatur-Erzählung "Das nächste Dorf". Das will aber besagen, dass alle Fragen von Zeit und Geschichte für Franz Kafka, der mit vierzig Jahren starb, eine vitale Brisanz hatten: Vor aller Reflexion über Rechtfertigungen stand die Frage eines Mannes nach der schieren Lebenszeit, die ihm verbleiben würde. Die Maschine in der "Strafkolonie", die das Urteil dem Körper einzeichnet, ist ja zugleich eine Uhr, die dem Leben ein Ende setzt: "Es darf natürlich", so erklärt der Offizier dem Reisenden, "keine einfache Schrift sein; sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet." Solche Lebens- und Weltuhren hat Kafka überall in seine Geschichten hineinkonstruiert. Vielfach stehen seine Figuren unter einem Gesetz der Zeitmessung, mit der ihnen das Leben bemessen wird - man denke an den Hungerkünstler, dem zu seinem Leidwesen nur vierzig Tage des Fastens erlaubt sind, oder an den Landarzt, dem seine Fahrt erst märchenhaft schnell und dann albtraumhaft langsam vorkommt.
Auch der "Prozess" verläuft nach einer großen Uhr. Josef K. wird am Morgen seines dreißigsten Geburtstages verhaftet, ermordet wird er genau ein Jahr später, wieder am Geburtstag. Er ist ein Mann, der jung stirbt. Und nun erst wird der Sinn des Türhüter-Gleichnisses deutlich, das im Dom-Kapitel erzählt und gedeutet wird: Der Mann, der "Vor dem Gesetz" sein Leben lang verharrt, um alt, fast schwachsinnig eines friedlichen Todes zu sterben - er ist ein Mann, dem das Altern überhaupt vergönnt ist. Josef K., ganz dem sozialpsychologischen Epochentyp des nervösen Kaufmanns folgend, ist einer, der keine Zeit hat, dem es immer pressiert, dem die Ereignisse als ungelegene Störung kommen. "Voreilig" nennt ihn Allemann einmal sehr zu Recht. Selbst am Sonntag wird K. vom Gericht aufgehalten. Der Mann vor dem Gesetz harrt auf der Erde aus, er bleibt. Wird ihm deshalb das hohe Alter geschenkt?
Eine Philologie, die ihr höchstes Ziel in der Betrachtung von Gattungen und der Analyse von Tempuswechseln fand, konnte solche Fragen nur als unzulässige Kontamination von Biographie und Werk zurückweisen. Heute wird der Preis erkennbar, der für diese geschichts- und geschichtenferne Haltung zu entrichten war. In Allemanns Studien steht eine Germanistik ohne Begehren vor einer Geschichte ohne Ereignis, vor einem Kafka ohne Prag, ohne Arbeiter, Angestellte, Chefs und Soldaten, ohne die internationalen Schauplätze seiner Erzählungen, die von China bis Amerika und Afrika, auf die Bäume und unter die Erde reichen, ohne Musik, ohne Zionismus, ohne Käfer, Pferde, Zwirnspulen, springende Bälle und Riesenmaulwürfe, schließlich fast ohne Frauen - in einem Wort: ohne Körper. Kafka, so schreibt Allemann in seinem erzähltheoretischen Befund, "war ein Meister der erlebten Rede". Gut und schön. Aber war da nicht noch etwas anderes, etwas im Text, was den Leser noch heute festzuhalten vermag wie kaum ein anderes literarisches Werk?
"Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend . . ." Damit beginnt "Auf der Galerie". Und dem Satz, der hier noch lange nicht fertig ist, kann man trotz aller Konjunktive und Kautelen eines nicht nachsagen: dass er nichts erzähle. Denn er erzählt mit einer unerhörten, auf physische, anatomische Details geradezu versessen gierigen Dichte. Von ihr wissen Allemanns Studien kaum etwas. Selbst dort, wo er sich mit Walter Benjamins Kafka-Essay von 1934 auseinandersetzt, geht es ihm um Mystik, Offenbarung und Messianismus - aber nicht um die Schwimmhaut zwischen Lenis Fingern (im "Prozess"), aus der Benjamin eine jeder Offenbarung vorausliegende "Sumpfwelt" bei Kafka erschlossen hatte. Allemanns Deutung bleibt rein. Die Moderne, so erkennt man, wurde nach dem Krieg im Westen in einer reduzierten, begradigten, rationalisierten Form zunächst von säkularisierten Priestergestalten als asketische Religion für die gebildete Kaste vermittelt. Wer ihnen folgte, musste bald feststellen, dass er um das Beste - das von Allemann strikt abgewehrte und in den Vorhof des Uneigentlichen verbannte "vordergründig-inhaltliche Interesse" - betrogen war.
Für den Historiker des Fachs Germanistik allerdings ist dieser Band von exemplarischem Wert. Wer Beda Allemanns Abhandlungen liest, beginnt zu verstehen, woher der Stoffhunger kam, mit dem sich schon die nächsten Germanisten-Generationen noch der krudesten Sozialgeschichte verschrieben, spätere dann den Gender-Studies oder dem New Historicism, um nur endlich eine Berührung mit ihren Forschungsgegenständen zu gewinnen.
LORENZ JÄGER
Beda Allemann: "Zeit und Geschichte im Werk Kafkas". Hrsg. von Diethelm Kaiser und Nikolaus Lohse. Wallstein-Verlag, Göttingen 1999. 256 S., geb., 48,- DM.
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