Den Zeitraum von neun Tagen, in dem ein Tropfen Wasser durchschnittlich in der Atmosphäre verbleibt, können wir leicht nachvollziehen. Aber die Hunderte von Jahren, die sich ein Molekül Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt, darin erhält, überschreiten die Grenzen unserer Vorstellung. Doch gerade Prozesse, die sehr weit zurückliegen, prägen unsere Gegenwart, und unser heutiges Verhalten wird noch über Generationen hinweg gravierende Folgen für den Zustand der Erde haben. In Zeitbewusstheit zeigt Marcia Bjornerud eindrucksvoll, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand der Messungen von Erosion und Gebirgsbildung, aber auch von Ozean- und Atmosphärenveränderungen ein Verständnis für die Tiefenzeit und den Rhythmus der Erde bereithält, das wir in unserer Epoche der Beschleunigung dringend brauchen, wenn wir Lösungen für die drohende Umweltkatastrophe finden wollen. Die Lebensdauer der Erde mag im Vergleich zu der eines Menschen ewig erscheinen, doch zur Sicherung des Überlebens beider bleibt uns in Wirklichkeit nicht mehr viel Zeit.
»Ihr kluges und an manchen Stellen beinah poetisches Buch nimmt mit auf eine Reise durch Äonen, in die Tiefen der Urzeit und zur höchst aktuellen Illusion, dass wir als Menschen ausserhalb der Natur stehen.« - Jacober Barbara, Akzente Barbara Jacober Akzente - Das Magazin der Pädagogischen Hochschule Zürich 20221125
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Alex Rühle taucht dankbar und verändert auf aus dem Buch der Geologin Marcia Bjornerud. Die Autorin vermittelt ihm ein Gefühl für die Langsamkeit geologischer Prozesse einerseits, für das Tempo, mit dem der Mensch diese Prozesse null und nichtig macht andererseits. Bjorneruds Reise zur Geburtstunde der Geologie, durch Superkontinente und Eiszeiten, Aussterbephasen und Verwandlungen wirkt auf Rühle zwar mitunter fast poetisch, doch macht sie ihm vor allem auch deutlich, was wir zu verlieren haben. Mit einem besseren Begriff von Räumen und Zeiten und von der Bedeutung klarer Wissenschaft beendet Rühle die Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Alles ist voller Zeit
Hier entfalten sich in wenigen Sätze ganze Epochen der Erdgeschichte: Marcia Bjornerud wirbt auf brillante Weise für die Geologie.
Von Ulf von Rauchhaupt
Jeder kennt die Geschichte mit Newton und dem Apfel. Aber wer hat schon von Siccar Point gehört? Oder von James Hutton? Dem schottischen Arzt soll 1789 an jenem Felskap nahe Dunbar angesichts zweier im steilen Winkel aufeinandertreffender Gesteinsschichten aufgegangen sein, wie unermesslich lange es dauert, bis Berge aufgefaltet und wieder abgetragen werden. Es war die Geburt des Aktualismus, der Vorstellung, dass Gesteinsformationen in enormen Zeiträumen entstanden und durch keine anderen Prozesse als solche, die noch heute am Werke sind. Sie hat für die Geologie historisch eine ähnliche Bedeutung wie Darwins Idee der Evolution durch natürliche Selektion für die Biologie, wo ohne sie, wie der große Genetiker Theodosius Dobzhansky es einmal formulierte, nichts einen Sinn ergibt.
Nun sind Klagen darüber, wie wenig selbst zentrale Wissensbestände eines Faches außerhalb desselben gewürdigt werden, so alt wie die moderne Wissenschaft selbst. Im Falle der Geologie aber sind sie wohl berechtigter als irgend sonst. Man kann heute sein Abitur mit 1,0 bestehen, ohne zu wissen - oder je gewusst zu haben - was Basalt und Granit unterscheidet. Marcia Bjornerud, Geologieprofessorin an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin, findet das nicht nur persönlich bedauerlich. Für sie ist Geringschätzung ihres Fachs einer der Gründe, warum die Menschheit mit ihrem Planeten so umgeht als gäbe es kein Morgen: Viel zu viele Zeitgenossen sind ihrer Einschätzung nach funktionale Analphabeten, wenn es darum geht zu verstehen, auf welchen Zeitskalen die Erde operiert. Zu versuchen, darauf in Form eines populären Sachbuchs aufmerksam zu machen, gar in der Absicht, dadurch zur Abhilfe beizutragen, scheint vermessen. Das sieht Bjornerud selbst so. "Die meisten Menschen", schreibt sie, "haben keine Lust auf Geschichten ohne menschliche Protagonisten."
Zum Glück hat sie es trotzdem versucht, denn "Timefulness", so der Titel des Originals, ist das stilistisch brillanteste Buch, das seit langem über Geowissenschaften publiziert wurde. Offenbar ist es einfacher über Quantenphysik zu schreiben als über Steine und Erdzeitalter, das der Dinosaurier vielleicht ausgenommen. Schon Reisebuchautoren geraten ihre geologischen Abschnitte nicht selten zu sprachlichem Knäckebrot. Aber wenn der Mangel an lesbaren Geologiebüchern ein Grund für das Imageproblem des Fachs ist, dann hat Marcia Bjornerud ihm hier auf ganzer Linie abgeholfen. Auf der Basis einer umfassenden, auch literarischen Bildung und zugleich mit großem Gespür für das Wichtige und für die Fragen, die sich Laien stellen mögen, macht sie auf denkbar knappem Raum auch Schwieriges durchsichtig. Sie erspart ihren Lesern dabei nicht nur unnötiges Fachvokabular, sondern auch jegliche geomorphologische Naturlyrik. Stattdessen entfalten hier wenige Sätze ganze Zeitalter.
Marcia Bjorneruds makellose Prosa scheint auch in der deutschen Fassung noch durch, wenn auch nicht alle Übersetzungsprobleme lösbar waren. Dazu gehört der Titel. "Timefulness" ist bei Bjornerud ein Gegenbegriff zu "timelessness", was hier weniger auf ewige Gültigkeit zielt als auf eine davon inspirierte Haltung, die davon absehen zu können meint, dass Gesteine und Landschaften "voller" Zeit sind, "dass die Welt von der Zeit, oder, besser, aus Zeit gemacht ist".
Dieser Einsicht wünscht man sich tatsächlich größere Gefolgschaft und nimmt dem Buch auch alle vorgebrachten Argumente dafür ab, warum ihre mangelhafte Verbreitung Lösungen für die immer drängenderen Umweltprobleme erschwert. Dabei verzeiht man es der Autorin auch, wenn sie die Dominanz der "Timelessness" etwas einseitig der Physik und ihrem Ideal ewig gültiger Gesetze anlastet. Auch wäre es nicht nötig gewesen, den seinerzeit durchaus gut begründete Einwand des Physikers Lord Kelvin gegen Darwins Überzeugung, die Erde müsse ein enormes Alter haben, zu einem interdisziplinären Grundkonflikt aufzubauschen und Kelvin eine verborgene, im heutigen Sinn des Wortes kreationistische Agenda zu unterstellen. Wenigstens lässt Bjornerud nicht unangedeutet, dass der jahrzehntelange Widerstand gerade so vieler Geologen gegen Alfred Wegeners Einsicht in die Kontinentalverschiebung viel mit der mangelhaften physikalischen Bildung der damaligen Gesteinsexperten zu tun hatte.
Wie Bjornerud sich überhaupt herausnimmt, auch die eigene Zunft zu kritisieren, etwa, wenn in popularisierender Absicht die Erdgeschichte mit einem 24-Stunden-Tag verglichen wird, an dessen Ende der Mensch in den letzten Sekundenbruchteilen vor Mitternacht erscheint. "Das ist ein verqueres, ja sogar unverantwortliches Verständnis unserer Stellung in der Zeit", schreibt Bjornerud. "Denn zum einen legt es einen Grad an Bedeutungslosigkeit und Machtlosigkeit nahe, der nicht nur psychologisch befremdend ist, sondern uns auch das Ausmaß, mit dem die Menschheit in dieser letzten Viertelsekunde auf den Planeten einwirkt, verdrängen lässt."
Das ist natürlich richtig in Bezug auf die geologischen Bedürfnisse einer Säugetierspezies, die von einer ebenso empfindlichen wie raumgreifenden Infrastruktur abhängig ist und deren bald acht Milliarden Vertreter nicht nur überleben, sondern gut, mehr noch: alle möglichst gleich gut leben wollen - mit vollem Recht natürlich, aber als erste Lebensform, die in der Lage ist, solches Recht vor der Naturgeschichte geltend zu machen. Aus einem Blickwinkel sub specie temporis kann das Anthropozän, die Epoche, in der die Menschheit zum geologischen Faktor wurde, dann eben doch eine Zeit erdgeschichtlicher Umwälzungen unter anderen sein. Indem aber der Gedanke der Timefulness auch solche Perspektiven öffnet, konterkariert er das von der Autorin ausgerufene große Ziel "das Anthropozän aufzuheben und den Aktualismus wieder einzusetzen". Denn im Gegensatz zur Evolution in der Biologie hat sich in der Geologie gezeigt, dass dort eben nicht alles nur im Licht des Aktualismus einen Sinn ergibt.
Marcia Bjornerud: "Zeitbewusstheit". Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten.
Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 245 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier entfalten sich in wenigen Sätze ganze Epochen der Erdgeschichte: Marcia Bjornerud wirbt auf brillante Weise für die Geologie.
Von Ulf von Rauchhaupt
Jeder kennt die Geschichte mit Newton und dem Apfel. Aber wer hat schon von Siccar Point gehört? Oder von James Hutton? Dem schottischen Arzt soll 1789 an jenem Felskap nahe Dunbar angesichts zweier im steilen Winkel aufeinandertreffender Gesteinsschichten aufgegangen sein, wie unermesslich lange es dauert, bis Berge aufgefaltet und wieder abgetragen werden. Es war die Geburt des Aktualismus, der Vorstellung, dass Gesteinsformationen in enormen Zeiträumen entstanden und durch keine anderen Prozesse als solche, die noch heute am Werke sind. Sie hat für die Geologie historisch eine ähnliche Bedeutung wie Darwins Idee der Evolution durch natürliche Selektion für die Biologie, wo ohne sie, wie der große Genetiker Theodosius Dobzhansky es einmal formulierte, nichts einen Sinn ergibt.
Nun sind Klagen darüber, wie wenig selbst zentrale Wissensbestände eines Faches außerhalb desselben gewürdigt werden, so alt wie die moderne Wissenschaft selbst. Im Falle der Geologie aber sind sie wohl berechtigter als irgend sonst. Man kann heute sein Abitur mit 1,0 bestehen, ohne zu wissen - oder je gewusst zu haben - was Basalt und Granit unterscheidet. Marcia Bjornerud, Geologieprofessorin an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin, findet das nicht nur persönlich bedauerlich. Für sie ist Geringschätzung ihres Fachs einer der Gründe, warum die Menschheit mit ihrem Planeten so umgeht als gäbe es kein Morgen: Viel zu viele Zeitgenossen sind ihrer Einschätzung nach funktionale Analphabeten, wenn es darum geht zu verstehen, auf welchen Zeitskalen die Erde operiert. Zu versuchen, darauf in Form eines populären Sachbuchs aufmerksam zu machen, gar in der Absicht, dadurch zur Abhilfe beizutragen, scheint vermessen. Das sieht Bjornerud selbst so. "Die meisten Menschen", schreibt sie, "haben keine Lust auf Geschichten ohne menschliche Protagonisten."
Zum Glück hat sie es trotzdem versucht, denn "Timefulness", so der Titel des Originals, ist das stilistisch brillanteste Buch, das seit langem über Geowissenschaften publiziert wurde. Offenbar ist es einfacher über Quantenphysik zu schreiben als über Steine und Erdzeitalter, das der Dinosaurier vielleicht ausgenommen. Schon Reisebuchautoren geraten ihre geologischen Abschnitte nicht selten zu sprachlichem Knäckebrot. Aber wenn der Mangel an lesbaren Geologiebüchern ein Grund für das Imageproblem des Fachs ist, dann hat Marcia Bjornerud ihm hier auf ganzer Linie abgeholfen. Auf der Basis einer umfassenden, auch literarischen Bildung und zugleich mit großem Gespür für das Wichtige und für die Fragen, die sich Laien stellen mögen, macht sie auf denkbar knappem Raum auch Schwieriges durchsichtig. Sie erspart ihren Lesern dabei nicht nur unnötiges Fachvokabular, sondern auch jegliche geomorphologische Naturlyrik. Stattdessen entfalten hier wenige Sätze ganze Zeitalter.
Marcia Bjorneruds makellose Prosa scheint auch in der deutschen Fassung noch durch, wenn auch nicht alle Übersetzungsprobleme lösbar waren. Dazu gehört der Titel. "Timefulness" ist bei Bjornerud ein Gegenbegriff zu "timelessness", was hier weniger auf ewige Gültigkeit zielt als auf eine davon inspirierte Haltung, die davon absehen zu können meint, dass Gesteine und Landschaften "voller" Zeit sind, "dass die Welt von der Zeit, oder, besser, aus Zeit gemacht ist".
Dieser Einsicht wünscht man sich tatsächlich größere Gefolgschaft und nimmt dem Buch auch alle vorgebrachten Argumente dafür ab, warum ihre mangelhafte Verbreitung Lösungen für die immer drängenderen Umweltprobleme erschwert. Dabei verzeiht man es der Autorin auch, wenn sie die Dominanz der "Timelessness" etwas einseitig der Physik und ihrem Ideal ewig gültiger Gesetze anlastet. Auch wäre es nicht nötig gewesen, den seinerzeit durchaus gut begründete Einwand des Physikers Lord Kelvin gegen Darwins Überzeugung, die Erde müsse ein enormes Alter haben, zu einem interdisziplinären Grundkonflikt aufzubauschen und Kelvin eine verborgene, im heutigen Sinn des Wortes kreationistische Agenda zu unterstellen. Wenigstens lässt Bjornerud nicht unangedeutet, dass der jahrzehntelange Widerstand gerade so vieler Geologen gegen Alfred Wegeners Einsicht in die Kontinentalverschiebung viel mit der mangelhaften physikalischen Bildung der damaligen Gesteinsexperten zu tun hatte.
Wie Bjornerud sich überhaupt herausnimmt, auch die eigene Zunft zu kritisieren, etwa, wenn in popularisierender Absicht die Erdgeschichte mit einem 24-Stunden-Tag verglichen wird, an dessen Ende der Mensch in den letzten Sekundenbruchteilen vor Mitternacht erscheint. "Das ist ein verqueres, ja sogar unverantwortliches Verständnis unserer Stellung in der Zeit", schreibt Bjornerud. "Denn zum einen legt es einen Grad an Bedeutungslosigkeit und Machtlosigkeit nahe, der nicht nur psychologisch befremdend ist, sondern uns auch das Ausmaß, mit dem die Menschheit in dieser letzten Viertelsekunde auf den Planeten einwirkt, verdrängen lässt."
Das ist natürlich richtig in Bezug auf die geologischen Bedürfnisse einer Säugetierspezies, die von einer ebenso empfindlichen wie raumgreifenden Infrastruktur abhängig ist und deren bald acht Milliarden Vertreter nicht nur überleben, sondern gut, mehr noch: alle möglichst gleich gut leben wollen - mit vollem Recht natürlich, aber als erste Lebensform, die in der Lage ist, solches Recht vor der Naturgeschichte geltend zu machen. Aus einem Blickwinkel sub specie temporis kann das Anthropozän, die Epoche, in der die Menschheit zum geologischen Faktor wurde, dann eben doch eine Zeit erdgeschichtlicher Umwälzungen unter anderen sein. Indem aber der Gedanke der Timefulness auch solche Perspektiven öffnet, konterkariert er das von der Autorin ausgerufene große Ziel "das Anthropozän aufzuheben und den Aktualismus wieder einzusetzen". Denn im Gegensatz zur Evolution in der Biologie hat sich in der Geologie gezeigt, dass dort eben nicht alles nur im Licht des Aktualismus einen Sinn ergibt.
Marcia Bjornerud: "Zeitbewusstheit". Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten.
Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 245 S., geb., 28,- [Euro].
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