Die Photojournalistin Barbara Klemm (geb. 1939) hat mit ihren Schwarzweiß-Bildern, die sie von 1970 bis 2005 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung aufnahm, ein unvergleichliches bebildertes Geschichtsbuch der Bundesrepublik Deutschland geschaffen. Ob beim legendären Zusammentreffen Leonid Breschnews mit Willy Brandt in Bonn 1973, bei den Protesten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Mutlangen 1983 oder in der euphorisierten Menge am Brandenburger Tor am 9. November 1989 - stets ist es der Photographin gelungen, im entscheidenden Moment auf den Auslöser zu drücken. So schuf sie Bilder fürs kollektive Gedächtnis, die teilweise - mit Künstlerportraits, Reisereportagen und Museumsbildern - weit über das Politische hinausgehen und immer von gesellschaftlicher Relevanz sind. Ihre Portraits von Politikern, Schriftstellern, Musikern und bildenden Künstlern stehen neben Reportagen über Alltag und Gesellschaft an den Kulminationspunkten der Welt: Ost- und Westeuropa, Russland, Iran, Indien, Südafrika, Chile, Peru, Bolivien, Kuba und USA. Scheinbar einfache Mittel - analog, schwarzweiß, ohne Stativ und Blitz, selbstentwickelte Abzüge ohne Beschnitt auf Barytpapier - prägen den Stil dieser passionierten Bildchronistin, deren unverzichtbaren ästhetisch-pädagogischen Beitrag zu unseren Sehgewohnheiten wir zu ihrem 80. Geburtstag mit diesem opulenten Bildband feiern. Herzlichen Glückwunsch, Barbara Klemm!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2019Ein Epos, das keine Worte braucht
Geschichtsschreibung mit der Kamera: Barbara Klemm hat aus den Bildern, die sie über Jahrzehnte hinweg als Redaktionsfotografin dieser Zeitung machte, einen Band zusammengestellt.
Für ihre Arbeiten hatte Barbara Klemm früh einen eigenen Begriff geprägt: Sie sprach von Ein-Bild-Reportagen. Denn mehr Platz bot ihr diese Zeitung, für die sie fünfunddreißig Jahre lang Redaktionsfotografin gewesen ist, allenfalls hin und wieder auf der Schlussseite der Wochenendbeilage. Und als Gattungsbezeichnung entbehrte die Vokabel ja keineswegs eines gewissen Reizes. Sie bezog sich auf Bilder, die nicht Artikel illustrierten, sondern diesen eigenständig gegenübertraten. Heute freilich, mit Blick auf ein Werk, das ein halbes Jahrhundert umfasst, wissen wir es besser. In Wirklichkeit hat Barbara Klemm mit ihren Aufnahmen an einem Epos geschrieben, das sich nun in ihrem Band "Zeiten Bilder" wie selbstverständlich aufblättert. Es berichtet von einer Welt, die nie stillsteht, sondern sich permanent im Umbruch befindet - was gewissermaßen dem Wesen der Fotografie zuwiderläuft, die von sich behauptet, das Leben für den Bruchteil einer Sekunde anzuhalten. Bei Barbara Klemm aber sehen wir, wie das Rad der Geschichte sich dreht.
Sie zeigt das mittels eindringlicher Szenen, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus, mit welchem Gespür sie neben den offiziellen, oft genug wegweisenden Terminen der Politik auch im Alltäglichen Ereignisse beobachtet und festgehalten hat, aus denen sich ebenso der Geist der Zeit wie etwas allgemeingültig Menschliches erfahren lässt. Dabei verlässt sie für die Anordnung in diesem Bildband den nahe liegenden Pfad der Chronologie und erzählt vielmehr assoziativ, fast so, als suchte sie ihre Erinnerungen ab, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die Menschen, die Dinge, die Momente zusammengehören. Es ist ja nicht immer augenblicklich ersichtlich, ob sich eines aus dem anderen ergibt. Viel zu oft schlägt die Weltgeschichte Volten. Und so zeigt Barbara Klemm die Riege deutscher Politiker von den siebziger Jahren an bis hin zu Honeckers Staatsbesuch in Bonn 1987, bevor ihr in Frankfurt 1970 Hunderte von Vietnam-Kriegs-Gegnern im Eilschritt entgegenlaufen. Sie zeigt mal Joschka Fischer, mal Angela Merkel auf Doppelseiten im Abstand jeweils eines halben Politikerlebens. Und zeigt Helmut Kohl 1992 bei einer Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit, bevor bei ihr die Mauer fällt und das Brandenburger Tor geöffnet wird. So tauschen bei der Betrachtung dieser oft längst ikonischen Fotografien mitunter Ursache und Wirkung die Plätze.
Mit jedem Bild scheint sie sich neu zu fragen, wie es damals eigentlich war. Und hat doch die jeweiligen Stimmungen präzis erfasst: wenn Schmidt und Brandt beim Parteitag 1973 nebeneinandersitzen, jedoch in entgegengesetzte Richtungen schauen; wenn Augusto Pinochet 1986 mit Eiseskälte in ihre Kamera blickt; wenn Gorbatschow 1988 so ernst einen fernen Punkt im Raum fixiert, als spüre er längst das Gewicht der Geschichte auf seinen Schultern.
Aber mehr noch als den Mächtigen der Politik und den Prominenten der Kultur gilt Barbara Klemms Empathie den sogenannten kleinen Leuten, denen sie sich bei aller Herzlichkeit ohne falsch verstandene Sozialromantik widmet - und womöglich will sie damit nicht nur die Bandbreite der Gesellschaft dokumentieren. Vielleicht verbirgt sich hinter dem Interesse auch eine Art Korrektiv. Wie aus dem Augenwinkel beobachtet, unbemerkt fotografiert, wirken viele ihrer Straßenszenen, dem Moment mit Ausdauer und Erfahrung entrissen.
Aber für dieses Buch, das eben keine Sammlung ihrer berühmtesten Bilder ist, wählte sie auffallend viele Motive aus, die im direkten Kontakt entstanden sind. Dabei hielt sie in neugierigen Blicken, skeptischen Mienen oder auch Gesten der Hoffnungslosigkeit von Lima und Santiago de Chile über Soweto, Bombay und Hanoi bis zu Iran weniger die Reaktionen auf ihre Kamera fest als auf das Leben selbst. Die Geschichten dieser Menschen sind es, die für Barbara Klemm nicht unerheblich zu dem beitragen, was wir am Ende Geschichte nennen.
FREDDY LANGER
Barbara Klemm: "Zeiten Bilder". Mit einem Vorwort von Norbert Lammert und einem Text von Barbara Catoir. Schirmer/Mosel Verlag, München 2019. 288 S., Abb., geb., 49,80[Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichtsschreibung mit der Kamera: Barbara Klemm hat aus den Bildern, die sie über Jahrzehnte hinweg als Redaktionsfotografin dieser Zeitung machte, einen Band zusammengestellt.
Für ihre Arbeiten hatte Barbara Klemm früh einen eigenen Begriff geprägt: Sie sprach von Ein-Bild-Reportagen. Denn mehr Platz bot ihr diese Zeitung, für die sie fünfunddreißig Jahre lang Redaktionsfotografin gewesen ist, allenfalls hin und wieder auf der Schlussseite der Wochenendbeilage. Und als Gattungsbezeichnung entbehrte die Vokabel ja keineswegs eines gewissen Reizes. Sie bezog sich auf Bilder, die nicht Artikel illustrierten, sondern diesen eigenständig gegenübertraten. Heute freilich, mit Blick auf ein Werk, das ein halbes Jahrhundert umfasst, wissen wir es besser. In Wirklichkeit hat Barbara Klemm mit ihren Aufnahmen an einem Epos geschrieben, das sich nun in ihrem Band "Zeiten Bilder" wie selbstverständlich aufblättert. Es berichtet von einer Welt, die nie stillsteht, sondern sich permanent im Umbruch befindet - was gewissermaßen dem Wesen der Fotografie zuwiderläuft, die von sich behauptet, das Leben für den Bruchteil einer Sekunde anzuhalten. Bei Barbara Klemm aber sehen wir, wie das Rad der Geschichte sich dreht.
Sie zeigt das mittels eindringlicher Szenen, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus, mit welchem Gespür sie neben den offiziellen, oft genug wegweisenden Terminen der Politik auch im Alltäglichen Ereignisse beobachtet und festgehalten hat, aus denen sich ebenso der Geist der Zeit wie etwas allgemeingültig Menschliches erfahren lässt. Dabei verlässt sie für die Anordnung in diesem Bildband den nahe liegenden Pfad der Chronologie und erzählt vielmehr assoziativ, fast so, als suchte sie ihre Erinnerungen ab, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die Menschen, die Dinge, die Momente zusammengehören. Es ist ja nicht immer augenblicklich ersichtlich, ob sich eines aus dem anderen ergibt. Viel zu oft schlägt die Weltgeschichte Volten. Und so zeigt Barbara Klemm die Riege deutscher Politiker von den siebziger Jahren an bis hin zu Honeckers Staatsbesuch in Bonn 1987, bevor ihr in Frankfurt 1970 Hunderte von Vietnam-Kriegs-Gegnern im Eilschritt entgegenlaufen. Sie zeigt mal Joschka Fischer, mal Angela Merkel auf Doppelseiten im Abstand jeweils eines halben Politikerlebens. Und zeigt Helmut Kohl 1992 bei einer Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit, bevor bei ihr die Mauer fällt und das Brandenburger Tor geöffnet wird. So tauschen bei der Betrachtung dieser oft längst ikonischen Fotografien mitunter Ursache und Wirkung die Plätze.
Mit jedem Bild scheint sie sich neu zu fragen, wie es damals eigentlich war. Und hat doch die jeweiligen Stimmungen präzis erfasst: wenn Schmidt und Brandt beim Parteitag 1973 nebeneinandersitzen, jedoch in entgegengesetzte Richtungen schauen; wenn Augusto Pinochet 1986 mit Eiseskälte in ihre Kamera blickt; wenn Gorbatschow 1988 so ernst einen fernen Punkt im Raum fixiert, als spüre er längst das Gewicht der Geschichte auf seinen Schultern.
Aber mehr noch als den Mächtigen der Politik und den Prominenten der Kultur gilt Barbara Klemms Empathie den sogenannten kleinen Leuten, denen sie sich bei aller Herzlichkeit ohne falsch verstandene Sozialromantik widmet - und womöglich will sie damit nicht nur die Bandbreite der Gesellschaft dokumentieren. Vielleicht verbirgt sich hinter dem Interesse auch eine Art Korrektiv. Wie aus dem Augenwinkel beobachtet, unbemerkt fotografiert, wirken viele ihrer Straßenszenen, dem Moment mit Ausdauer und Erfahrung entrissen.
Aber für dieses Buch, das eben keine Sammlung ihrer berühmtesten Bilder ist, wählte sie auffallend viele Motive aus, die im direkten Kontakt entstanden sind. Dabei hielt sie in neugierigen Blicken, skeptischen Mienen oder auch Gesten der Hoffnungslosigkeit von Lima und Santiago de Chile über Soweto, Bombay und Hanoi bis zu Iran weniger die Reaktionen auf ihre Kamera fest als auf das Leben selbst. Die Geschichten dieser Menschen sind es, die für Barbara Klemm nicht unerheblich zu dem beitragen, was wir am Ende Geschichte nennen.
FREDDY LANGER
Barbara Klemm: "Zeiten Bilder". Mit einem Vorwort von Norbert Lammert und einem Text von Barbara Catoir. Schirmer/Mosel Verlag, München 2019. 288 S., Abb., geb., 49,80[Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main