"Zeitenwende" lautet der Schlüsselbegriff zum Verständnis der Gegenwart. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat zur Zerstörung der europäischen Friedensordnung geführt. Die lang gehegte Hoffnung ist erschüttert worden, zwischenstaatliche Konflikte nach dem Gebot des Völkerrechts ohne Gewaltanwendung durch Verhandlungen und Dialog beizulegen. Daraus resultieren Unsicherheiten und Risiken. Deutschland reagiert mit einer längst überfälligen Neuausrichtung seiner Sicherheitspolitik. Deren Ziel besteht darin, den Frieden und die Freiheit künftig besser zu schützen und wirksamer zu sichern. Mehr denn je wird daher in allen gesellschaftlichen Bereichen künftig ein Handeln im Sinne einer Ethik der Verantwortung erforderlich sein. Die vorliegende Studie stellt zeitgeschichtliche, soziologische, politikwissenschaftliche und ethische Analyse dazu bereit. Sie richtet sich an Lesende, die Lösungen für die mit der Zeitenwende zutage getretenen Probleme suchen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Frank Decker hat viel zu meckern am Buch der Soziologin Christiane Bender über die Zeitenwende. Formal stören ihn die "unzusammenhängende Struktur" und allerhand Wiederholungen. Überflüssiges wie Berichte über Zugfahrten hätte sich die Autorin sparen können, findet er. Wichtiger aber scheinen ihm die inhaltlichen Schwächen der aus Vorträgen und Podcasts kompilierten Arbeit: Benders Kritik an einem gesinnungsethisch motivierten Pazifismus zugunsten einer Verantwortungsethik im Umgang mit Russland verfängt laut Rezensent nicht. Seiner Meinung nach waren es vor allem Wirtschaftsinteressen, die zu Fehlern in der europäischen und deutschen Russlandpolitik geführt haben. Innenpolitische Folgen diskutiert Bender zudem nicht und bietet auch keine handfeste sicherheitspolitische Analyse, moniert Decker weiter. Zu guter Letzt fragt er sich, warum die Autorin ihre Einschätzungen er jetzt publiziert. Hat sie sich vielleicht ebenso wie die Politik täuschen lassen?
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2024Nachgeholte Weisheit
Am 24. Februar 2022, dem Tag des Beginns der russischen Invasion der Ukraine, lag die deutsche Außenpolitik der vorhergehenden zweieinhalb Jahrzehnte in Trümmern. Putins Krieg markierte eine Zäsur, die noch einschneidender sein dürfte als die des 11. Septembers 2001. Die Zerstörung der europäischen Friedensordnung durch den russischen Aggressor veranlasste die Bundesregierung unter Olaf Scholz zu einer radikalen Kurskorrektur, für die der Kanzler in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 den Begriff der "Zeitenwende" einführte. Was vorher undenkbar schien - Waffenlieferungen an die Ukraine, die Mitwirkung an in Umfang und Schärfe bis dahin nicht gekannten Sanktionen gegen Russland, das Aus für die Gaspipeline Nord Stream II und insbesondere die von den Bundesregierungen jahrelang verweigerte Erhöhung der Militärausgaben -, wurde binnen weniger Tage angekündigt und durchgesetzt.
Die Soziologin Christiane Bender, die von 2001 bis 2019 an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg gelehrt hat, reiht sich mit ihrem Buch über die Zeitenwende in die anschwellende Flut von Publikationen ein, die das für kaum möglich gehaltene Geschehen rekonstruieren und erklären möchten. Im Unterschied zu den meisten vorgelegten Titeln ist ihre Schrift keine monografische Abhandlung "aus einem Guss". Vielmehr handelt es sich um eine Zusammenstellung von Arbeiten, die - von einer Ausnahme abgesehen - allesamt nach und anlässlich des russischen Angriffskrieges entstanden sind und zumeist als Vorlage für Vorträge oder Podcasts dienten. So legitim es ist, dass die Verfasserin mit den Fehlern der deutschen und europäischen Russlandpolitik hart ins Gericht geht, und so wenig der auch von ihr erhobene Vorwurf bestritten werden kann, dass ein grundsätzliches Umsteuern bereits nach der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion 2014 angezeigt gewesen wäre, muss die Frage erlaubt sein, warum sie ihre Zweifel an der auf Fehleinschätzungen beruhenden, zu nachgiebigen Haltung Russland gegenüber nicht schon vor dem 24. Februar 2022 öffentlich artikuliert hat. Hatte sie die Anzeichen vielleicht selber übersehen oder falsch gedeutet? Selbstkritische Hinweise darauf finden sich in den Texten nicht.
Theoretisch gerahmt wird die Kritik an der Außen- und Sicherheitspolitik von Max Webers Konzept der Verantwortungsethik, das dieser in Abgrenzung zu dem in Deutschland verbreiteten Hang zu gesinnungsethischen Vorstellungen in seinem Vortrag "Politik als Beruf" am Ende des Kaiserreiches entwickelt hatte. In der beschwichtigenden Haltung gegenüber Russland und dem dortigen autoritären Regime, das die Politik seit Beginn der Ära Putin charakterisiert habe, sieht Bender das Nachwirken eines ausschließlich gesinnungsethisch begründeten Pazifismus. Anstelle der Aufrechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft und Abschreckungsfähigkeit, wie sie eine von Verantwortungsbewusstsein getragene Politik gebiete, sei das Ziel getreten, durch Abrüstung, Zurückdrängung des Militärischen und Aussetzung der Wehrpflicht eine maximale "Friedensdividende" zu erzielen. Während Olaf Scholz die Wende zum Verantwortungspolitiker abzunehmen sei, lebten solche Positionen in dessen sozialdemokratischer Partei fort, was die zögerliche, wenig Führungskraft ausstrahlende Haltung des Kanzlers bei der militärischen Unterstützung der Ukraine erkläre.
Die Parteinahme der Verfasserin für eine an verantwortungsethischen Prinzipien orientierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik übersieht, dass es in der Vergangenheit nicht in erster Linie der gesinnungsethische Pazifismus gewesen ist, der der Wehrbereitschaft entgegengestanden hat, sondern der Primat wirtschaftlicher Interessen. So wie die Bundesrepublik den größten Teil ihres Gases preisgünstig aus Russland bezog, profitierte ihre exportorientierte Wirtschaft vom Handel mit China und anderen autoritären Systemen, was im Gegenzug dazu führte, dass man sich beim Eintreten für Demokratie und Menschenrechte dort zurückhalten musste. Gleichzeitig verließ sich Deutschland darauf, dass die Hauptlast der Abschreckung und Verteidigung im Rahmen der NATO weiterhin von den USA getragen werden würde. Mit Weber gesprochen, war und ist hier nicht der Gegensatz zwischen verantwortungs- und gesinnungsethischen Positionen maßgeblich, sondern jener zwischen materiellen und immateriellen Interessen. Dass den Ersteren im Zweifel der Vorrang gebühre, blieb unter sämtlichen Bundesregierungen, egal ob unions- oder SPD-geführt, Konsens.
Der Erkenntnisertrag der über 300 Seiten bleibt am Ende enttäuschend gering. Weder gelingt der Autorin eine fundierte außen- und sicherheitspolitische Analyse der Ursachen und des Verlaufs der "Ukraine-Krise", noch fängt sie deren innenpolitische Folgen und Implikationen angemessen ein. Auffällig ist zum Beispiel, dass die AfD und die starke Verbreitung prorussischer Positionen in Ostdeutschland kaum Erwähnung finden. Die Apostrophierung der Grünen als "Partei mit gesinnungsethischem Politikverständnis" wirkt merkwürdig, nachdem sich gerade sie für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine starkgemacht haben. Warum bleiben die energiewirtschaftlichen und migrationspolitischen Folgen des Krieges weitgehend ausgeblendet, obwohl sie für die Unterstützung der Regierungspolitik maßgebliche Bedeutung gewinnen? Und was bedeutet die von der Autorin hochgehaltene Verantwortungsethik im Bereich der Klimaschutzpolitik, wo es um die Interessen künftiger Generationen geht?
Dass die Lektüre streckenweise zum Ärgernis wird, liegt auch an der Form der Darstellung. Die Verfasserin bezeichnet diese selbst als "vorläufig, perspektivisch und bisweilen emotional". Dass sie sich für ihr Thema engagiert, geht in Ordnung. Braucht man dafür aber Erlebnisberichte von ICE-Zugfahrten, in denen Begegnungen und Gespräche mit Mitreisenden geschildert werden? Störend sind auch die unzusammenhängende Struktur und die Redundanzen des Textes. Hätte die Verfasserin die für sich genommen durchaus lesenswerten Einzelbeträge in einem 100-Seiten-Essay zusammengeführt und verdichtet, wäre ihre Botschaft vermutlich besser vermittelt worden. FRANK DECKER.
Christiane Bender: Zeitenwende. Der Krieg gegen die Ukraine und eine Politik der Verantwortung in der Tradition Max Webers.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2024, 342 S., 49 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Am 24. Februar 2022, dem Tag des Beginns der russischen Invasion der Ukraine, lag die deutsche Außenpolitik der vorhergehenden zweieinhalb Jahrzehnte in Trümmern. Putins Krieg markierte eine Zäsur, die noch einschneidender sein dürfte als die des 11. Septembers 2001. Die Zerstörung der europäischen Friedensordnung durch den russischen Aggressor veranlasste die Bundesregierung unter Olaf Scholz zu einer radikalen Kurskorrektur, für die der Kanzler in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 den Begriff der "Zeitenwende" einführte. Was vorher undenkbar schien - Waffenlieferungen an die Ukraine, die Mitwirkung an in Umfang und Schärfe bis dahin nicht gekannten Sanktionen gegen Russland, das Aus für die Gaspipeline Nord Stream II und insbesondere die von den Bundesregierungen jahrelang verweigerte Erhöhung der Militärausgaben -, wurde binnen weniger Tage angekündigt und durchgesetzt.
Die Soziologin Christiane Bender, die von 2001 bis 2019 an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg gelehrt hat, reiht sich mit ihrem Buch über die Zeitenwende in die anschwellende Flut von Publikationen ein, die das für kaum möglich gehaltene Geschehen rekonstruieren und erklären möchten. Im Unterschied zu den meisten vorgelegten Titeln ist ihre Schrift keine monografische Abhandlung "aus einem Guss". Vielmehr handelt es sich um eine Zusammenstellung von Arbeiten, die - von einer Ausnahme abgesehen - allesamt nach und anlässlich des russischen Angriffskrieges entstanden sind und zumeist als Vorlage für Vorträge oder Podcasts dienten. So legitim es ist, dass die Verfasserin mit den Fehlern der deutschen und europäischen Russlandpolitik hart ins Gericht geht, und so wenig der auch von ihr erhobene Vorwurf bestritten werden kann, dass ein grundsätzliches Umsteuern bereits nach der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion 2014 angezeigt gewesen wäre, muss die Frage erlaubt sein, warum sie ihre Zweifel an der auf Fehleinschätzungen beruhenden, zu nachgiebigen Haltung Russland gegenüber nicht schon vor dem 24. Februar 2022 öffentlich artikuliert hat. Hatte sie die Anzeichen vielleicht selber übersehen oder falsch gedeutet? Selbstkritische Hinweise darauf finden sich in den Texten nicht.
Theoretisch gerahmt wird die Kritik an der Außen- und Sicherheitspolitik von Max Webers Konzept der Verantwortungsethik, das dieser in Abgrenzung zu dem in Deutschland verbreiteten Hang zu gesinnungsethischen Vorstellungen in seinem Vortrag "Politik als Beruf" am Ende des Kaiserreiches entwickelt hatte. In der beschwichtigenden Haltung gegenüber Russland und dem dortigen autoritären Regime, das die Politik seit Beginn der Ära Putin charakterisiert habe, sieht Bender das Nachwirken eines ausschließlich gesinnungsethisch begründeten Pazifismus. Anstelle der Aufrechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft und Abschreckungsfähigkeit, wie sie eine von Verantwortungsbewusstsein getragene Politik gebiete, sei das Ziel getreten, durch Abrüstung, Zurückdrängung des Militärischen und Aussetzung der Wehrpflicht eine maximale "Friedensdividende" zu erzielen. Während Olaf Scholz die Wende zum Verantwortungspolitiker abzunehmen sei, lebten solche Positionen in dessen sozialdemokratischer Partei fort, was die zögerliche, wenig Führungskraft ausstrahlende Haltung des Kanzlers bei der militärischen Unterstützung der Ukraine erkläre.
Die Parteinahme der Verfasserin für eine an verantwortungsethischen Prinzipien orientierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik übersieht, dass es in der Vergangenheit nicht in erster Linie der gesinnungsethische Pazifismus gewesen ist, der der Wehrbereitschaft entgegengestanden hat, sondern der Primat wirtschaftlicher Interessen. So wie die Bundesrepublik den größten Teil ihres Gases preisgünstig aus Russland bezog, profitierte ihre exportorientierte Wirtschaft vom Handel mit China und anderen autoritären Systemen, was im Gegenzug dazu führte, dass man sich beim Eintreten für Demokratie und Menschenrechte dort zurückhalten musste. Gleichzeitig verließ sich Deutschland darauf, dass die Hauptlast der Abschreckung und Verteidigung im Rahmen der NATO weiterhin von den USA getragen werden würde. Mit Weber gesprochen, war und ist hier nicht der Gegensatz zwischen verantwortungs- und gesinnungsethischen Positionen maßgeblich, sondern jener zwischen materiellen und immateriellen Interessen. Dass den Ersteren im Zweifel der Vorrang gebühre, blieb unter sämtlichen Bundesregierungen, egal ob unions- oder SPD-geführt, Konsens.
Der Erkenntnisertrag der über 300 Seiten bleibt am Ende enttäuschend gering. Weder gelingt der Autorin eine fundierte außen- und sicherheitspolitische Analyse der Ursachen und des Verlaufs der "Ukraine-Krise", noch fängt sie deren innenpolitische Folgen und Implikationen angemessen ein. Auffällig ist zum Beispiel, dass die AfD und die starke Verbreitung prorussischer Positionen in Ostdeutschland kaum Erwähnung finden. Die Apostrophierung der Grünen als "Partei mit gesinnungsethischem Politikverständnis" wirkt merkwürdig, nachdem sich gerade sie für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine starkgemacht haben. Warum bleiben die energiewirtschaftlichen und migrationspolitischen Folgen des Krieges weitgehend ausgeblendet, obwohl sie für die Unterstützung der Regierungspolitik maßgebliche Bedeutung gewinnen? Und was bedeutet die von der Autorin hochgehaltene Verantwortungsethik im Bereich der Klimaschutzpolitik, wo es um die Interessen künftiger Generationen geht?
Dass die Lektüre streckenweise zum Ärgernis wird, liegt auch an der Form der Darstellung. Die Verfasserin bezeichnet diese selbst als "vorläufig, perspektivisch und bisweilen emotional". Dass sie sich für ihr Thema engagiert, geht in Ordnung. Braucht man dafür aber Erlebnisberichte von ICE-Zugfahrten, in denen Begegnungen und Gespräche mit Mitreisenden geschildert werden? Störend sind auch die unzusammenhängende Struktur und die Redundanzen des Textes. Hätte die Verfasserin die für sich genommen durchaus lesenswerten Einzelbeträge in einem 100-Seiten-Essay zusammengeführt und verdichtet, wäre ihre Botschaft vermutlich besser vermittelt worden. FRANK DECKER.
Christiane Bender: Zeitenwende. Der Krieg gegen die Ukraine und eine Politik der Verantwortung in der Tradition Max Webers.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2024, 342 S., 49 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.