Frauen, die aus der Reihe tanzten, politisch, in der Liebe, über nationale Grenzen hinweg. Sie spielen die Hauptrolle in Karin Friedrichs Erinnerungen an sieben Generationen einer französisch-preußisch-deutschen Familie. Von der Französischen Revolution über das dritte Reich bis in die Gegenwart reicht diese Familiengeschichte. In den Lebensläufen ihrer Mitglieder spiegeln sich die großen Umwälzungen ihrer Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2000Die Augen gingen ihr über
Karin Friedrich erbte von ihren Müttern Becher und Geschichten, und alles schüttet sie aus
Obwohl es in Karin Friedrichs Buch von schönen, mutigen, exzentrischen Frauen nur so wimmelt, beginnt und endet "Zeitfunken" mit einem Mann. Constant Forgeois de Semerpont, ein Freund Robespierres, flieht vor Napoleon von Arras nach Coesfeld. Als er zurückkehrt, hat die Familie jenseits des Rheins Wurzeln geschlagen, und es zeigt sich bald, dass ein deutsch-französischer Stammbaum zur bedrohten Pflanze wird, wenn die Nachbarn einander selbst das Fallobst missgönnen.
Constants sieben mal acht Zentimeter großes Porträt halten die deutschen Nachkommen in Ehren, selbst als der Kontakt zu den französischen Verwandten abreißt. Erst mehr als zweihundert Jahre nach der Entstehung der Miniatur findet die Autorin das Pendant des Bildes in Frankreich bei dem Urururenkel von Forgeois.
Dazwischen haben die Frauen das Heft in der Hand. Adele, die Enkelin des alten Constants, die einem gewissen Jodokus in die Neue Welt folgt und erst zurückkehrt, als der Gatte für eine Wette den Hudson durchschwimmt, sich eine Lungenentzündung zuzieht und stirbt. Ihre Tochter Helene, die sich ausgerechnet 1871 auf der Flucht aus Paris in einen preußischen Rittmeister verliebt. Ruth, die Mutter der Autorin, eine Löwin, die in den Zwanzigern in Berlin arbeitet, tanzt und liebt, unter den Nazis im Widerstand ihr Leben riskiert, nach dem Krieg aber erlischt und sich schließlich das Leben nimmt. Nimmt man die aufopfernde Sidonie hinzu, die leichtherzige Mimi, die stille Marguerite, dann bieten die Triumphe und Niederlagen dieser Frauen wahrlich ein Pfund, mit dem ein Buch wuchern kann.
Der zweite Vorzug des Werkes ist seine Aufrichtigkeit. Karin Friedrich offenbart Liebesschwüre, Psychoanalysen und Zerwürfnisse, die sich in Familien so sicher ansammeln wie Babylocken. Die Rolle des Hanswurstes kommt zweifellos François zu, dem unglücklichen Verehrer Adeles. Nach ihrer Rückkehr aus Amerika bestürmt er die junge Witwe, ihn zu heiraten, dafür aber ihre Tochter wegzugeben. Er überschüttet die Cousine mit Briefen, die auf imposante Weise dokumentieren, wie eine große Leidenschaft an der eigenen Schäbigkeit scheitern kann: "Ich weiß, daß Du immer und ewig die schlappe, energielose, hin und her schwankende Person sein wirst", verkündet er der Angebeteten und fügt erklärend hinzu: "Ich würde Dir gegenüber ganz anders auftreten, wenn Du Dir keine Mamsell hättest machen lassen." Dass Adele hart bleibt, ist plausibel und für den Stolz der Frauen der Familie symptomatisch.
Die Liste der Vorzüge des Werkes ist damit unglücklicherweise schon zu Ende. Denn "Zeitfunken" verbreitet einen trügerisch-nostalgischen Glanz. Karin Friedrich verleiht selbst einer unglücklichen Kindheit einen Hauch von heiler Welt, dabei verrät die Nesthäkchen-Welt mit weißen Kragen, vier Gängen bei Tisch und einem gestrengen "Fräulein" mehr über die Sehnsüchte der Autorin als über das großbürgerliche Milieu. Dass sie die Biografien zudem in eine starre Chronologie quetscht, für die sie die Lebensgeschichten gleichsam jahresweise portionieren muss, nimmt ihnen viel Schwung.
Vollends fatal aber ist Friedrichs obsessives Bemühen, mit der Familien-Chronik auch zwei Jahrhunderte deutsch-französischer Geschichte abzuhandeln. Gewiss, wenn der Urahn Fourgeois flieht, wenn Jodokus der Faszination Amerikas erliegt, wenn Ruth mit ihrer Widerstandsgruppe Pässe fälscht, Menschen versteckt und ein lebensgefährliches "Nein" zur Verteidigung Berlins an die Wände pinselt, dann sind ihre Schicksale Quellen, in denen sich die großen Kräfte der Epoche widerspiegeln.
Doch stehen im Familienalbum ungezählte Geschichten, die nur für die Sippe von Bedeutung sind und für niemanden sonst. Wie stets herrscht auch in dieser Chronik oft ein Vakuum zwischen historischer und privater Zeit. Genau diese Lücke aber stopft die Autorin mit allem, was ihr an historischer Füllmasse in die Hände fällt. Die Erfindung des Aspirin, das erste Verkehrsopfer in Berlin, späte, dafür umso flammendere Verurteilungen von Feigheit und Tyrannei, Kennedy, der Papst, die Apo, historischer Plunder und Weltereignisse: Die Epoche wird zum Trödelmarkt, mit dessen Hilfe Karin Friedrich die gute Stube zum historischen Exponat herausputzen will.
Etwa nach der Hälfte schließlich widmet sich die Autorin dann nur noch der eigenen Biografie. Spannender wird es dadurch nicht, im Gegenteil. Der Bekenntniszwang bringt die Autorin um das letzte Interesse, denn wo alles offen zu Tage liegt - die Anfänge als Lokalredakteurin, die gescheiterte Ehe, die Erziehung der Kinder - und nicht einmal die früheste Jugend unkommentiert bleibt, stellt sich Langeweile ein. "Meine Mutter erzählte, ich hätte nie einen Schnuller gesehen, sondern sei von der Mutterbrust gleich auf den Becher umgestiegen. Ich trinke noch heute am liebsten aus Bechern." Da darf sich glücklich schätzen, wer den Becher der Lektüre nicht bis zur Neige leeren muss. Zweimal weist Karin Friedrich darauf hin, wie stark sich ihre Familie mit den Schicksalen ihrer Vorfahren identifiziert habe, dass man den Kindern Legenden und Familiengeschichten zu erzählen pflegte wie in anderen Häusern Märchen. Das klingt schön. Es hätte dabei bleiben sollen.
SONJA ZEKRI
Karin Friedrich: "Zeitfunken". Biographie einer Familie. Verlag C. H. Beck, München 2000. 367 S., 28 Abb., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karin Friedrich erbte von ihren Müttern Becher und Geschichten, und alles schüttet sie aus
Obwohl es in Karin Friedrichs Buch von schönen, mutigen, exzentrischen Frauen nur so wimmelt, beginnt und endet "Zeitfunken" mit einem Mann. Constant Forgeois de Semerpont, ein Freund Robespierres, flieht vor Napoleon von Arras nach Coesfeld. Als er zurückkehrt, hat die Familie jenseits des Rheins Wurzeln geschlagen, und es zeigt sich bald, dass ein deutsch-französischer Stammbaum zur bedrohten Pflanze wird, wenn die Nachbarn einander selbst das Fallobst missgönnen.
Constants sieben mal acht Zentimeter großes Porträt halten die deutschen Nachkommen in Ehren, selbst als der Kontakt zu den französischen Verwandten abreißt. Erst mehr als zweihundert Jahre nach der Entstehung der Miniatur findet die Autorin das Pendant des Bildes in Frankreich bei dem Urururenkel von Forgeois.
Dazwischen haben die Frauen das Heft in der Hand. Adele, die Enkelin des alten Constants, die einem gewissen Jodokus in die Neue Welt folgt und erst zurückkehrt, als der Gatte für eine Wette den Hudson durchschwimmt, sich eine Lungenentzündung zuzieht und stirbt. Ihre Tochter Helene, die sich ausgerechnet 1871 auf der Flucht aus Paris in einen preußischen Rittmeister verliebt. Ruth, die Mutter der Autorin, eine Löwin, die in den Zwanzigern in Berlin arbeitet, tanzt und liebt, unter den Nazis im Widerstand ihr Leben riskiert, nach dem Krieg aber erlischt und sich schließlich das Leben nimmt. Nimmt man die aufopfernde Sidonie hinzu, die leichtherzige Mimi, die stille Marguerite, dann bieten die Triumphe und Niederlagen dieser Frauen wahrlich ein Pfund, mit dem ein Buch wuchern kann.
Der zweite Vorzug des Werkes ist seine Aufrichtigkeit. Karin Friedrich offenbart Liebesschwüre, Psychoanalysen und Zerwürfnisse, die sich in Familien so sicher ansammeln wie Babylocken. Die Rolle des Hanswurstes kommt zweifellos François zu, dem unglücklichen Verehrer Adeles. Nach ihrer Rückkehr aus Amerika bestürmt er die junge Witwe, ihn zu heiraten, dafür aber ihre Tochter wegzugeben. Er überschüttet die Cousine mit Briefen, die auf imposante Weise dokumentieren, wie eine große Leidenschaft an der eigenen Schäbigkeit scheitern kann: "Ich weiß, daß Du immer und ewig die schlappe, energielose, hin und her schwankende Person sein wirst", verkündet er der Angebeteten und fügt erklärend hinzu: "Ich würde Dir gegenüber ganz anders auftreten, wenn Du Dir keine Mamsell hättest machen lassen." Dass Adele hart bleibt, ist plausibel und für den Stolz der Frauen der Familie symptomatisch.
Die Liste der Vorzüge des Werkes ist damit unglücklicherweise schon zu Ende. Denn "Zeitfunken" verbreitet einen trügerisch-nostalgischen Glanz. Karin Friedrich verleiht selbst einer unglücklichen Kindheit einen Hauch von heiler Welt, dabei verrät die Nesthäkchen-Welt mit weißen Kragen, vier Gängen bei Tisch und einem gestrengen "Fräulein" mehr über die Sehnsüchte der Autorin als über das großbürgerliche Milieu. Dass sie die Biografien zudem in eine starre Chronologie quetscht, für die sie die Lebensgeschichten gleichsam jahresweise portionieren muss, nimmt ihnen viel Schwung.
Vollends fatal aber ist Friedrichs obsessives Bemühen, mit der Familien-Chronik auch zwei Jahrhunderte deutsch-französischer Geschichte abzuhandeln. Gewiss, wenn der Urahn Fourgeois flieht, wenn Jodokus der Faszination Amerikas erliegt, wenn Ruth mit ihrer Widerstandsgruppe Pässe fälscht, Menschen versteckt und ein lebensgefährliches "Nein" zur Verteidigung Berlins an die Wände pinselt, dann sind ihre Schicksale Quellen, in denen sich die großen Kräfte der Epoche widerspiegeln.
Doch stehen im Familienalbum ungezählte Geschichten, die nur für die Sippe von Bedeutung sind und für niemanden sonst. Wie stets herrscht auch in dieser Chronik oft ein Vakuum zwischen historischer und privater Zeit. Genau diese Lücke aber stopft die Autorin mit allem, was ihr an historischer Füllmasse in die Hände fällt. Die Erfindung des Aspirin, das erste Verkehrsopfer in Berlin, späte, dafür umso flammendere Verurteilungen von Feigheit und Tyrannei, Kennedy, der Papst, die Apo, historischer Plunder und Weltereignisse: Die Epoche wird zum Trödelmarkt, mit dessen Hilfe Karin Friedrich die gute Stube zum historischen Exponat herausputzen will.
Etwa nach der Hälfte schließlich widmet sich die Autorin dann nur noch der eigenen Biografie. Spannender wird es dadurch nicht, im Gegenteil. Der Bekenntniszwang bringt die Autorin um das letzte Interesse, denn wo alles offen zu Tage liegt - die Anfänge als Lokalredakteurin, die gescheiterte Ehe, die Erziehung der Kinder - und nicht einmal die früheste Jugend unkommentiert bleibt, stellt sich Langeweile ein. "Meine Mutter erzählte, ich hätte nie einen Schnuller gesehen, sondern sei von der Mutterbrust gleich auf den Becher umgestiegen. Ich trinke noch heute am liebsten aus Bechern." Da darf sich glücklich schätzen, wer den Becher der Lektüre nicht bis zur Neige leeren muss. Zweimal weist Karin Friedrich darauf hin, wie stark sich ihre Familie mit den Schicksalen ihrer Vorfahren identifiziert habe, dass man den Kindern Legenden und Familiengeschichten zu erzählen pflegte wie in anderen Häusern Märchen. Das klingt schön. Es hätte dabei bleiben sollen.
SONJA ZEKRI
Karin Friedrich: "Zeitfunken". Biographie einer Familie. Verlag C. H. Beck, München 2000. 367 S., 28 Abb., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Zwei Bücher in einem, so Barbara Hahn, hat die Autorin geschrieben, die verbunden sind durch die Person ihrer Mutter, Ruth Andreas-Friedrich. Und sie ist an dieser Konstruktion notwendig gescheitert, meint Hahn. Dabei findet die Rezensentin den ersten Teil, nämlich die Verknüpfung der eigenen Familiengeschichte mit der großen Geschichte seit der Französischen Revolution wirklich "geglückt". Problematisch wird es im zweiten Teil, wenn die Autorin selbst als Person in die Geschichte eintritt als Tochter der Autorin von "Schattenmann", dem höchst erfolgreich in den siebziger Jahren publizierten Tagebuch aus der Zeit des Nationalsozialismus. Eine "doppelt überschattete" Mutter-Tochter-Beziehung kommt hier ins Bild, überschattet nämlich sowohl vom Erfolg als auch vom Selbstmord der Mutter. Hier gelingt nicht mehr, was der Anspruch ist, nämlich die Verwobenheit von großer und kleiner Geschichte zu zeigen, meint Barbara Hahn. Dennoch lobt sie die Autorin, weil sie sich immerhin "etwas Schwieriges" vorgenommen hat. "Und ohne diesen Mut kann man nicht mal scheitern."
© Perlentaucher Medien GmbH
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