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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Reinbek
  • Seitenzahl: 525
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 696g
  • ISBN-13: 9783498073374
  • ISBN-10: 3498073370
  • Artikelnr.: 23969346
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.1999

Das Abziehbild des Dorian Bray
Fünf Freunde auf der Flucht: Todd Wiggins gibt die Welt verloren

Alles Unglück fängt damit an, daß Schönling Dorian Bray nach zahlreichen gescheiterten Versuchen, seine Jungfräulichkeit zu verlieren, zu dem Schluß kommt, "daß nur Berühmtheit ihn an die Spitze der Nahrungskette bringen würde". Daraufhin verfaßt der aus Wales stammende Bummelstudent an der Columbia University wie im Rausch "Eine Theorie von allem", den großen philosophischen Gegenwartsroman. "Der Höhepunkt der Handlung bestand im Selbstmord des Helden vor den Augen seiner Liebsten: er schluckte eine Sprengladung, eilte in die Mitte des Speisesaals, rief sie zu sich und explodierte ihr ins Gesicht. Auf diese Weise würde er ihr ewig unvergeßlich bleiben." Der Leser von Todd Wiggins' Roman "Zeitgeist" findet sich ungefähr in der Rolle der Angebeteten wieder: Schon nach wenigen Kapiteln hat er genug von diesem geschwätzigen Buch, doch gegen den eigenen Willen brennen sich seine gewalttätigen Szenarien in die Netzhaut ein.

Im Gegensatz zu Wiggins findet die Romanfigur Dorian für seine blutigen Gewaltvisionen keinen Verleger, so daß er sich von seinen letzten Kröten einen zerbeulten Ford Mustang kauft und gen Westen aufbricht. Amerikanische Geschichten beginnen nun einmal so, auch mit Personal aus der Alten Welt, und Dorian lebt fortan das filmreife Kultbuch, das zu schreiben ihm nicht gelungen war. Dazu bedarf es allerdings erst noch einheimischer Mitstreiter, die den Zugereisten in die Konflikte der Gegenwart verstricken. Der Reihe nach gabelt Dorian auf: Prophet, einen neunzehnjährigen schwarzen Computerfreak, der von der großen Liebe träumt und im Auftrag einer afroamerikanischen Terrororganisation Bombendrohungen per E-Mail versendet; Fish, einen schwer bewaffneten katholischen Geistlichen jüdischer Abstammung, der unter Schizophrenie leidet; Lucky, eine lesbische Powerfrau mit goldenem Herzen und schwarzem Gürtel auf dem Weg zu ihrer sterbenden Mutter, und schließlich ein namenloses, unter Schock stehendes Vergewaltigungsopfer. Die Geschichte ihrer Reise in den Wagenspuren aller amerikanischen Träumer wird obendrein von keiner geringeren erzählt als Venus Wicked, "existentialistisches Callgirl und selbsternannte Autodidaktin". Nachdem sie gleich zu Beginn kryptische Andeutungen über Tod und Auferstehung macht, wundert es kaum, daß sich am Ende das scheue stumme Mädchen und die schwatzhafte Hure als dieselbe Person herausstellen. Das Abwegigste findet der "Zeitgeist" immer gleich am Straßenrand.

Zufällig gerät die Fahrgemeinschaft in eine Massenveranstaltung christlicher Fundamentalisten, wo Fish mit seiner Kalaschnikow ein Blutbad anrichtet, so daß sich - frei nach Bonnie und Clyde - die Polizei und eine Meute sensationslüsterner Medienmenschen auf ihre Fährte heften. Prophets fanatische Freunde haben unterdessen die Vereinigten Staaten pünktlich zur Jahrtausendwende in einen ethnischen Bürgerkrieg gestürzt, so daß die Rassisten in Washington die Grundrechte außer Kraft setzen und mit Waffengewalt dem Emanzipationsspuk und der Flucht unserer Helden ein Ende machen.

Die bereits in der Zusammenfassung ermüdende Parodie auf politisch allzu korrekte Literatur quält sich als grotesk-alberne Variation diverser Filmklischees dahin. Wiggins läßt auf alles schießen, was sich bewegt; allein der Roman tritt im Leerlauf auf der Stelle. Die mit Akademikerwitzchen und Four-letter-words gespickte Sprache, die bei dieser Art Belletristik in Lektoraten offenbar als guter Ton empfunden wird, läßt für einen so ausgewiesenen Übersetzer wie Thomas Piltz beinahe Mitleid aufkommen.

Dabei bedient Wiggins sich des Genres Road novel, um - so der Klappentext - "seine Späße mit literarischen Klischees, kulturpessimistischen Unkenrufen und amerikanischen Mythen" zu treiben. Man dankt der Presseabteilung für diesen wichtigen Interpretationshinweis. Denn wenn Wiggins irgend etwas von seiner apokalyptischen Vision ernst meinte, müßte man sich wirklich Sorgen machen. Nicht um Amerika, sondern um den Autor. Doch die Welt, die hier untergeht, soll zum Glück nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Wiggins wirft nur Nebelgranaten in wacklige Kulissen. Postmodernes Schund-Recycling dieser Art hat allerdings einen verdammt langen Bart. Man kennt das: Da hat der Künstler in der Jugend Groschenheftchen und B-Movies verschlungen und näht heute aus zerschlissenen Handlungsfäden einen Flickenteppich für die Villa Kunterbunt. Quentin Tarantino oder David Lynch gelangen auf diese Weise wunderbare Filme. Wiggins aber versucht, das Genre an sich zu parodieren, indem er das Übertreiben selbst mächtig übertreibt. Am Ende taugt "Zeitgeist" lediglich als eine weitere Bestätigung, daß die alte Mähre Postmoderne längst zu Tode geritten ist. Das mag man - bedauernd oder nicht - zur Kenntnis nehmen, muß man aber nicht lesen.

RICHARD KÄMMERLINGS

Todd Wiggins: "Zeitgeist". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999, 528 S., geb., 45,- DM.

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