Ein einziger schicksalhafter Augenblick verändert das Leben von Paul Rayment: Er fliegt durch die Luft. Zuerst denkt er noch, gleich werde er durchatmen und wieder auf sein Fahrrad steigen. Aber er soll nie mehr auf die Beine kommen, schlimmer noch, er verliert eines bei dem Unfall. Nun stakst er auf Krücken, und alles ist in Zeitlupe.Die Krankenpflegerin Marijana könnte ihm helfen, und ihr Sohn Drago könnte das Kind sein, das ihm so fehlt. Aber dann taucht Elizabeth Costello auf und stellt als unnachgiebiger Quälgeist und ungebetener Schutzengel sein Leben ein zweites Mal auf den Kopf - ein wilder Reigen reißt ihn fort.J. M. Coetzee balanciert kunstvoll auf dem schmalen Grat zwischen Tristesse und lakonischem Spott. Trost liegt nur im Miteinander, aber das ist das Schwerste im Leben - so lautet die manchmal bittere Weisheit des Romans.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Unbeeindruckt von den Mäkeleien der Kritikerkollegen aus anderen Redaktionen stellt Lothar Müller den neuen Roman von J.M. Coetzee als ebenso zeitgemäßes wie zeitloses Monument der Kunstform Roman vor. Voller Bewunderung schildert er, wie Coetzee ganz auf die Illusionskraft des Imperfekt - Es was einmal ... - verzichtet und den Erzähler zur merkmalslosen, stummen Gestalt mit ausgestrecktem Zeigefinger gefrieren lässt. "Hier", schreibt er, "wird den Figuren die Schädeldecke von außen aufgeklappt, hier fährt das Präsens in ihre Herzen hinein wie die Sonde eines Chirurgen". Protagonist ist einer, dem ein Unglück zustößt: Paul Rayment verliert bei einem Unfall ein Bein, ihn ereilt, so Müller, ein Schicksal, das sich "als Zufall maskiert", hinter dem aber dieselbe "Grausamkeit der alten Götter" wirkt, die in der antiken Mythologie die Figuren bewegt. Coetzee lässt die Willkür geschehen und inszeniert einen virtuosen "Streit zwischen den Dämonen des Alters und des Verfalls und denen der Liebe und Vitalität". Sie streiten um ihr Opfer, das zudem von einer ganz besonders störrischen Figur behelligt wird: Elizabeth Costello, Protagonistin von Coetzees Roman-Essay, "Abenteurerin des Geistes", tritt auf. "Wie sich Paul Rayment gegen diese Plage zur Wehr setzt", konstatiert der Rezensent und offenbart eine gänzlich ungeahnte Qualität des Romans, "ist ein erzählerisches Kabinettstück von spröder, aber beträchtlicher Komik."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2006Der Besuch der alten Dame
Zweifeln aus Prinzip: J. M. Coetzees Roman "Zeitlupe"
Im 13. Kapitel - so viel Zahlenmagie muß sein - schrillt plötzlich die Haustürklingel, und über die Gegensprechanlage kündigt sich eine ungebetene Besucherin an. Ihr Kommen verstört nicht nur den Hausherrn zutiefst, dem es fortan nicht mehr gelingt, sich von der Heimsuchung zu lösen. Auch als Leser wünschen wir uns bald, daß die seltsame Dame lieber nicht erschienen wäre. Denn mit der Ankunft dieser Besserwisserin nimmt die Geschichte, die wir bis dahin gelesen haben, eine bizarre Wendung.
Was als durchaus zu Herzen gehende Erzählung von Schmerz und Leidenschaft begann und just den Punkt einer ersten Liebeserklärung erreicht hatte, gerät hier unversehens ins Stocken und schraubt sich knirschend auf ein anderes Niveau, als wechsele der Roman die Gangart. Zugleich scheint es, als ob sich die Bodenluken öffneten und den Blick auf die Erzählmaschinerie freigäben, die jeder Geschichte sonst so effizient wie unauffällig Antrieb gibt. Schon immer hat J. M. Coetzee als Erzähler eiserne Zurückhaltung geübt. In "Zeitlupe", dem ersten Roman seit seinem Nobelpreis vor zwei Jahren, hält er nun vorübergehend das Räderwerk des Romaneschreibens an und nötigt uns, ihm dabei zuzusehen, wie ein Tüftler die Brauchbarkeit alter Werkzeugteile prüft.
Dabei beginnt alles mit großem Schwung und einem ungeheuren Aufprall: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet und schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag, und schleudert ihn vom Fahrrad." Durch diesen Verkehrsunfall, von dem wir gleich im ersten Satz erfahren, verliert Paul Rayment zuerst das Bewußtsein und bald darauf im Krankenhaus sein rechtes Bein. Zurück bleibt ein unförmiger, roher Stumpf, rot angeschwollen und vernarbt, der ihm dennoch das Gefühl gibt, so mächtig wie ein Elefantenbein zu sein. Die ersten zwölf Kapitel erzählen nun davon, wie Rayment sich in seinem neuen Körper einrichtet. Eine Beinprothese hat er abgelehnt, erst langsam muß er daher lernen, als hilfloser Krüppel die Pflege anderer anzunehmen, und nur mühsam findet er sich in seiner Situation zurecht.
So beginnt sein neues Leben damit, für die veränderten Verhältnisse eine passende Sprache zu erproben und den Worten, die er bis dahin gedankenlos verwendet hat, ein anderes Gewicht zu geben. Mit Anfang Sechzig sah er dem anbrechenden Lebensabend längst gelassen entgegen. Geschieden, wohlhabend und kinderlos, wohnhaft in einem respektablen Vorort im australischen Adelaide, stellt Rayment sich als Mann ohne Leidenschaften vor. Seine Bettgeschichte mit einer alten Freundin war ihm mehr Zeitvertreib als Lustgewinn gewesen und bei weitem nicht so wichtig wie seine Sammlung historischer Fotografien. Doch seit die Amputation ihn zwingt, den vorgeplanten Lebensweg auf Krücken fortzusetzen, verliert sich mit dem Gleichgewicht die Gleichgültigkeit des alten Daseins. Mit einem Mal erkennt er sein "verkrüppeltes Ich" - "ein krasses Wort, aber warum um die Sache herumreden?" - und versucht fortan, tätige Verantwortung für seine Mitwelt zu üben. Dem Sohn seiner Pflegerin, einer kroatischen Einwanderin mit sehr bescheidenen Mitteln, will er den Besuch einer teuren Privatschule ermöglichen. Als Pflegefall will Rayment endlich auch für jemand anderen Sorge tragen, am liebsten wie für einen eigenen Sohn, den er nie wollte und jetzt doch herbeisehnt. Das ist der Grund, warum er seiner Pflegerin im zwölften Kapitel eine Liebeserklärung macht: Er braucht sie als Leihmutter, um den Phantomschmerz seiner Vaterschaft zu stillen. Sie lehnt ab. Dann schrillt die Klingel.
Die unwillkommene Besucherin heißt Elizabeth Costello und ist Coetzee-Lesern spätestens seit seinem letzten Buch bekannt. Unter ihrem Namen veröffentlichte er vor zwei Jahren eine Sammlung von acht sogenannten "Lehrstücken", philosophischen und literarischen Reflexionen über "Das Leben der Tiere" beispielsweise, über "Eros" oder den "Roman in Afrika", die jeweils als Beiträge der Titelfigur ausgegeben wurden und in den knapp skizzierten fiktionalen Rahmen ihres Lebens eingelagert waren. Darin erschien Elizabeth Costello als hochbedeutende und vielgeehrte alternde Autorin, die noch gern zu öffentlichen Anlässen und Festvorträgen eingeladen wird, im Grunde aber längst den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft hinter sich hat und seither eher widerstrebend den Forderungen des Literaturbetriebs nachkommt - eine Sprechrollenfigur des Autors Coetzee also, mit deren Hilfe er sich alle Zumutungen der meinungsfrohen Öffentlichkeit gern vom Leib hielte. Der Eindruck bestätigt und verschärft sich jetzt, da diese Figur unvermittelt in den neuen Roman einbricht.
Dem konsternierten Rayment wie dem Leser nämlich erklärt Costello unverblümt, sie sei gekommen, weil sie "selbst erkunden wollte, was für ein Wesen Sie sind". Die aufsässige Schriftstellerin kehrt kurzerhand den Spieß um und fordert Rechenschaft von ihrem Geschöpf ebenso wie zugleich von den Lesern, will wissen, was uns eigentlich bewegt und was wir von dem Fortgang der Geschichte wohl erwarten. Wer immer bislang also auf die Allmacht eines Autors bauen mochte, eine Wirklichkeit nicht einfach zu erfinden, sondern zugleich unsere Welt durch Interpretationen zu verändern, muß sich hier heftig vor den Kopf gestoßen fühlen. Und wie zum Beweis ihrer Rolle zitiert Costello gleich den ersten Satz, mit dem Coetzees Roman begann: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet" - und so weiter. Da hilft es nichts, daß Rayment abwehrt und erklärt, er habe sie nicht eingeladen und wünsche keine weitere Belästigung. Sein Autor kann von einer Romanfigur nun mal nicht einfach amputiert werden.
Von diesem Punkt an setzt sich die Erzählung wie im Paßgang fort. Auf der einen Seite heben ständig weitere Entwicklungen in Rayments neuem Leben an und verstricken ihn zusehends in das mühevolle Leben der kroatischen Familie, der er sich als Wohltäter aufdrängt. Auf der anderen Seite zieht Costello weiterhin die Fäden, verwickelt ihn in eine seltsame Affäre mit einem blinden Mädchen und spinnt allerhand Geschichten für ihn aus, als habe sie, wie er selbst sagt, in seinem nie geschriebenen Tagebuch gelesen. Allwissend ist sie gewiß nicht - warum müßte sie ihn sonst bedrängen? -, dennoch scheint sie den Figuren stets um einen kleinen Schritt voraus zu sein. Sie verhält sich daher zum Roman, den wir hier lesen, genauso wie die Krücken zum Krüppel: Ohne sie geht es nicht vorwärts.
Seit John Fowles 1969 im 13. Kapitel von "The French Lieutenant's Woman" eine beginnende Liebeshandlung unterbrach und statt dessen mit dem Leser über die Autorenfunktion im realistischen Roman räsonierte, haben wir viele postmoderne Geschichten über das Geschichtenschreiben gelesen. Daß Autoren traditionell Autoritäten sind, deren göttergleichem Machtgehabe wir tunlichst mißtrauen sollten, gehört seither zu jenen Grundeinsichten des aufgeklärten Lesers. Selten aber ist uns alle Ausflucht des Erzählens so nachhaltig verwehrt geblieben wie in "Zeitlupe", denn lange hat uns kein Erzähler erst mit so souveräner Meisterschaft zur Anteilnahme am Leben eines Menschen angeregt, um unserer Erregbarkeit sodann kurzen Prozeß zu machen. Die Erfahrung ist so unbequem wie unausweichlich. Denn wie fast immer bei Coetzee können wir auch diesmal seine irritierende Geschichte, obwohl sie wirklich quälend langsam fortschreitet, nicht einfach aus der Hand legen. Fortwährend wollen wir den Autor am liebsten selbst zur Rede stellen, weil wir das sichere Gefühl haben, das Entscheidende der Handlung sei uns entweder entgangen oder gezielt vorenthalten worden. Statt dessen aber schickt er seine Stellvertreterin aufs Feld.
"Das heißt Schreiben: es sich immer wieder überlegen, x-mal", läßt er uns mit Elizabeth Costello wissen und erhebt damit das fortgesetzte Zweifeln zum Programm. Wer also, wie ein großer Teil der englischen Kritik, vom neuen Coetzee rundheraus enttäuscht ist und nach mehr Glaubwürdigkeit für den Roman verlangt, muß bedenken, daß genau diese auf dem Spiel steht, wenn ein Radikalskeptiker schreibt. Seine Geschichte von Rayment und Costello endet übrigens mit einem freundschaftlichen Abschiedskuß. Als Leser aber wollen wir dringend hoffen, daß Coetzee es sich doch wieder überlegt.
TOBIAS DÖRING
J. M. Coetzee: "Zeitlupe". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 303 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zweifeln aus Prinzip: J. M. Coetzees Roman "Zeitlupe"
Im 13. Kapitel - so viel Zahlenmagie muß sein - schrillt plötzlich die Haustürklingel, und über die Gegensprechanlage kündigt sich eine ungebetene Besucherin an. Ihr Kommen verstört nicht nur den Hausherrn zutiefst, dem es fortan nicht mehr gelingt, sich von der Heimsuchung zu lösen. Auch als Leser wünschen wir uns bald, daß die seltsame Dame lieber nicht erschienen wäre. Denn mit der Ankunft dieser Besserwisserin nimmt die Geschichte, die wir bis dahin gelesen haben, eine bizarre Wendung.
Was als durchaus zu Herzen gehende Erzählung von Schmerz und Leidenschaft begann und just den Punkt einer ersten Liebeserklärung erreicht hatte, gerät hier unversehens ins Stocken und schraubt sich knirschend auf ein anderes Niveau, als wechsele der Roman die Gangart. Zugleich scheint es, als ob sich die Bodenluken öffneten und den Blick auf die Erzählmaschinerie freigäben, die jeder Geschichte sonst so effizient wie unauffällig Antrieb gibt. Schon immer hat J. M. Coetzee als Erzähler eiserne Zurückhaltung geübt. In "Zeitlupe", dem ersten Roman seit seinem Nobelpreis vor zwei Jahren, hält er nun vorübergehend das Räderwerk des Romaneschreibens an und nötigt uns, ihm dabei zuzusehen, wie ein Tüftler die Brauchbarkeit alter Werkzeugteile prüft.
Dabei beginnt alles mit großem Schwung und einem ungeheuren Aufprall: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet und schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag, und schleudert ihn vom Fahrrad." Durch diesen Verkehrsunfall, von dem wir gleich im ersten Satz erfahren, verliert Paul Rayment zuerst das Bewußtsein und bald darauf im Krankenhaus sein rechtes Bein. Zurück bleibt ein unförmiger, roher Stumpf, rot angeschwollen und vernarbt, der ihm dennoch das Gefühl gibt, so mächtig wie ein Elefantenbein zu sein. Die ersten zwölf Kapitel erzählen nun davon, wie Rayment sich in seinem neuen Körper einrichtet. Eine Beinprothese hat er abgelehnt, erst langsam muß er daher lernen, als hilfloser Krüppel die Pflege anderer anzunehmen, und nur mühsam findet er sich in seiner Situation zurecht.
So beginnt sein neues Leben damit, für die veränderten Verhältnisse eine passende Sprache zu erproben und den Worten, die er bis dahin gedankenlos verwendet hat, ein anderes Gewicht zu geben. Mit Anfang Sechzig sah er dem anbrechenden Lebensabend längst gelassen entgegen. Geschieden, wohlhabend und kinderlos, wohnhaft in einem respektablen Vorort im australischen Adelaide, stellt Rayment sich als Mann ohne Leidenschaften vor. Seine Bettgeschichte mit einer alten Freundin war ihm mehr Zeitvertreib als Lustgewinn gewesen und bei weitem nicht so wichtig wie seine Sammlung historischer Fotografien. Doch seit die Amputation ihn zwingt, den vorgeplanten Lebensweg auf Krücken fortzusetzen, verliert sich mit dem Gleichgewicht die Gleichgültigkeit des alten Daseins. Mit einem Mal erkennt er sein "verkrüppeltes Ich" - "ein krasses Wort, aber warum um die Sache herumreden?" - und versucht fortan, tätige Verantwortung für seine Mitwelt zu üben. Dem Sohn seiner Pflegerin, einer kroatischen Einwanderin mit sehr bescheidenen Mitteln, will er den Besuch einer teuren Privatschule ermöglichen. Als Pflegefall will Rayment endlich auch für jemand anderen Sorge tragen, am liebsten wie für einen eigenen Sohn, den er nie wollte und jetzt doch herbeisehnt. Das ist der Grund, warum er seiner Pflegerin im zwölften Kapitel eine Liebeserklärung macht: Er braucht sie als Leihmutter, um den Phantomschmerz seiner Vaterschaft zu stillen. Sie lehnt ab. Dann schrillt die Klingel.
Die unwillkommene Besucherin heißt Elizabeth Costello und ist Coetzee-Lesern spätestens seit seinem letzten Buch bekannt. Unter ihrem Namen veröffentlichte er vor zwei Jahren eine Sammlung von acht sogenannten "Lehrstücken", philosophischen und literarischen Reflexionen über "Das Leben der Tiere" beispielsweise, über "Eros" oder den "Roman in Afrika", die jeweils als Beiträge der Titelfigur ausgegeben wurden und in den knapp skizzierten fiktionalen Rahmen ihres Lebens eingelagert waren. Darin erschien Elizabeth Costello als hochbedeutende und vielgeehrte alternde Autorin, die noch gern zu öffentlichen Anlässen und Festvorträgen eingeladen wird, im Grunde aber längst den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft hinter sich hat und seither eher widerstrebend den Forderungen des Literaturbetriebs nachkommt - eine Sprechrollenfigur des Autors Coetzee also, mit deren Hilfe er sich alle Zumutungen der meinungsfrohen Öffentlichkeit gern vom Leib hielte. Der Eindruck bestätigt und verschärft sich jetzt, da diese Figur unvermittelt in den neuen Roman einbricht.
Dem konsternierten Rayment wie dem Leser nämlich erklärt Costello unverblümt, sie sei gekommen, weil sie "selbst erkunden wollte, was für ein Wesen Sie sind". Die aufsässige Schriftstellerin kehrt kurzerhand den Spieß um und fordert Rechenschaft von ihrem Geschöpf ebenso wie zugleich von den Lesern, will wissen, was uns eigentlich bewegt und was wir von dem Fortgang der Geschichte wohl erwarten. Wer immer bislang also auf die Allmacht eines Autors bauen mochte, eine Wirklichkeit nicht einfach zu erfinden, sondern zugleich unsere Welt durch Interpretationen zu verändern, muß sich hier heftig vor den Kopf gestoßen fühlen. Und wie zum Beweis ihrer Rolle zitiert Costello gleich den ersten Satz, mit dem Coetzees Roman begann: "Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet" - und so weiter. Da hilft es nichts, daß Rayment abwehrt und erklärt, er habe sie nicht eingeladen und wünsche keine weitere Belästigung. Sein Autor kann von einer Romanfigur nun mal nicht einfach amputiert werden.
Von diesem Punkt an setzt sich die Erzählung wie im Paßgang fort. Auf der einen Seite heben ständig weitere Entwicklungen in Rayments neuem Leben an und verstricken ihn zusehends in das mühevolle Leben der kroatischen Familie, der er sich als Wohltäter aufdrängt. Auf der anderen Seite zieht Costello weiterhin die Fäden, verwickelt ihn in eine seltsame Affäre mit einem blinden Mädchen und spinnt allerhand Geschichten für ihn aus, als habe sie, wie er selbst sagt, in seinem nie geschriebenen Tagebuch gelesen. Allwissend ist sie gewiß nicht - warum müßte sie ihn sonst bedrängen? -, dennoch scheint sie den Figuren stets um einen kleinen Schritt voraus zu sein. Sie verhält sich daher zum Roman, den wir hier lesen, genauso wie die Krücken zum Krüppel: Ohne sie geht es nicht vorwärts.
Seit John Fowles 1969 im 13. Kapitel von "The French Lieutenant's Woman" eine beginnende Liebeshandlung unterbrach und statt dessen mit dem Leser über die Autorenfunktion im realistischen Roman räsonierte, haben wir viele postmoderne Geschichten über das Geschichtenschreiben gelesen. Daß Autoren traditionell Autoritäten sind, deren göttergleichem Machtgehabe wir tunlichst mißtrauen sollten, gehört seither zu jenen Grundeinsichten des aufgeklärten Lesers. Selten aber ist uns alle Ausflucht des Erzählens so nachhaltig verwehrt geblieben wie in "Zeitlupe", denn lange hat uns kein Erzähler erst mit so souveräner Meisterschaft zur Anteilnahme am Leben eines Menschen angeregt, um unserer Erregbarkeit sodann kurzen Prozeß zu machen. Die Erfahrung ist so unbequem wie unausweichlich. Denn wie fast immer bei Coetzee können wir auch diesmal seine irritierende Geschichte, obwohl sie wirklich quälend langsam fortschreitet, nicht einfach aus der Hand legen. Fortwährend wollen wir den Autor am liebsten selbst zur Rede stellen, weil wir das sichere Gefühl haben, das Entscheidende der Handlung sei uns entweder entgangen oder gezielt vorenthalten worden. Statt dessen aber schickt er seine Stellvertreterin aufs Feld.
"Das heißt Schreiben: es sich immer wieder überlegen, x-mal", läßt er uns mit Elizabeth Costello wissen und erhebt damit das fortgesetzte Zweifeln zum Programm. Wer also, wie ein großer Teil der englischen Kritik, vom neuen Coetzee rundheraus enttäuscht ist und nach mehr Glaubwürdigkeit für den Roman verlangt, muß bedenken, daß genau diese auf dem Spiel steht, wenn ein Radikalskeptiker schreibt. Seine Geschichte von Rayment und Costello endet übrigens mit einem freundschaftlichen Abschiedskuß. Als Leser aber wollen wir dringend hoffen, daß Coetzee es sich doch wieder überlegt.
TOBIAS DÖRING
J. M. Coetzee: "Zeitlupe". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 303 S., geb., 18,90 [Euro].
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"Einer der besten Schriftsteller der Welt." (Sunday Times)