Die Zeitstrukturen in den "Wahlverwandtschaften" werden von der Sekundärliteratur zwar oft am Rande, selten jedoch ausführlich be-handelt. Das offensichtlich gestörte Verhältnis der Protagonisten zur Zeit wird in dieser Arbeit zum Hauptthema gemacht. Die Personen des Romans vergessen die Zeit, verpassen den richtigen Augenblick, um etwas zu tun und kreieren ihren eigenen Zeitablauf. Dabei sind drei verschiedene Zeitstrukturen feststellbar: die sich in Wiederholungen der Protagonisten äußernde zyklische Zeit, der häufig auftretende Zeitstillstand und das Vergessen der Zeit. Alle drei Zeitformen sind Ausdruck einer Flucht aus dem linearen Zeitablauf. Die Zeit im Zyklus äußert sich in zahlreichen Wiederholungsstrukturen und knüpft an idyllische Muster an. Der Zeitstillstand wird anhand der tableaux vivants und den zahlreichen Passagen im historischen Präsens nachgewiesen. Der Kampf der Protagonisten gegen die lineare Zeit gipfelt im Nachleben mythischer Vorbilder und dem damit verbundenen Vergessen der linearen Zeit zugunsten einer längst vergangenen. Der nachgelebte Mythos ist nicht willkürlich gewählt: er stellt den Kampf der zweiten Göttergeneration gegen den Gott der Zeit, Chronos, dar. Die Protagonisten ähneln sowohl in ihrem Handeln als auch in den Attributen ihren antiken Vorfahren, die sich gegen den Zeitgott auflehnen. Der Wechsel dieser drei Zeitstrukturen folgt einem symmetrischen Muster und deckt weitere Geheimnis-se des bereits oft interpretierten Romans auf. Goethes Annahme, dass die Beschäftigung mit den "Wahlverwandtschaften" "den Leser zu wiederholter Betrachtung auffordern wird" (Goethe in einem Brief an Cotta) erfährt einmal mehr ihre Bestätigung.
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