„Ist diese Zugkraft der Vergangenheit letztlich ein Versuch, zu jenem heilen Ort zu gelangen, wie weit er auch zurückliegen mag, wo die Dinge noch ganz sind, es nach Gras riecht, du aus nächster Nähe die Rose und ihr Labyrinth betrachtest. Ich sage Ort, doch es ist eine Zeit, ein Ort in der Zeit.
Ein Rat von mir, besucht nie, wirklich nie nach langer Abwesenheit den Ort, den ihr als Kinder…mehr„Ist diese Zugkraft der Vergangenheit letztlich ein Versuch, zu jenem heilen Ort zu gelangen, wie weit er auch zurückliegen mag, wo die Dinge noch ganz sind, es nach Gras riecht, du aus nächster Nähe die Rose und ihr Labyrinth betrachtest. Ich sage Ort, doch es ist eine Zeit, ein Ort in der Zeit. Ein Rat von mir, besucht nie, wirklich nie nach langer Abwesenheit den Ort, den ihr als Kinder zurückgelassen habt. Er ist ausgetauscht worden, von Zeit entleert, verlassen, gespenstisch.
Dort. Ist. Nichts.“
(Kapitel III/4)
Gaustín, ein Bekannter des Ich-Erzählers, eröffnet in Zürich eine Klinik für Alzheimer-Patienten. Jedes Stockwerk ist thematisch einem bestimmten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewidmet, so dass der Kranke in die Zeit zurückkehren kann, in der er sich mit seinen Erinnerungen noch zuhause fühlt. Das Projekt weitet sich schnell aus, es entstehen neue Kliniken in anderen Ländern, dann ganze Straßenzüge, Areale. Nicht lange, und auch Menschen ohne Erkrankung bitten um Aufnahme, um dem Stress der Gegenwart entfliehen, sich wieder in jener Zeit aufhalten zu können, in der sie am glücklichsten waren. Schließlich greifen die Staaten der Europäischen Union die Idee auf. Jedes Land hält ein Referendum ab, um zu entscheiden, in welches Jahrzehnt der Staat zurückkehren wird. Die Zeit wird plötzlich zu einem Ort, die Strukturen immer wirrer. Im Äußeren, aber auch in dem Kopf des Erzählers.
„Zeitzuflucht“ von Georgi Gospodinov gehört in eine ganz rare Kategorie von Büchern: jene, die mich verwirren, ratlos zurücklassen, aber die mir trotzdem gefallen haben. Ich gehöre zu der Sorte Leser, die es gerne klar haben. Klare Sprache, klare Strukturen, runde Geschichte. Gospodinovs Roman schert sich nicht darum. Von Anfang an stellt er den Leser vor Fragen, und je weiter man voranschreitet, um so mehr fällt alles in sich zusammen, verwirrt sich, wird ungreifbarer. Und das ist genial, weil das Buch damit auf seine Weise das nachzeichnet, was im Kopf eines an Alzheimer Erkrankten im Anfangsstadium passiert. Als Leser gehen wir den Weg mit dem Ich-Erzähler, für den die Grenzen zwischen Realität und eigener Fiktion immer mehr verschwimmen. Auch wir verlieren den Halt und die Orientierung.
Spannend fand ich auch, dass der Roman einen zu Gedankenspielen reizt. Welches Jahrzehnt würde ich auswählen, wenn ich die Wahl hätte (wobei man bedenken muss, dass man nicht wieder als derjenige dorthin zurückkehrt, der man war, sondern als der, der man jetzt ist)? Was würde passieren, wenn tatsächlich ganze Staaten die Zeit zurückdrehen und jedes in einer anderen Ära leben würde? Und natürlich drängt sich auch die Vorstellung auf, dass man selbst eines Tages zu denen gehören kann, die an dieser schrecklichen Krankheit leiden.
Zu guter Letzt habe ich mich auch gefreut, mal etwas von einem bulgarischen Schriftsteller zu lesen. Die Passagen, die in Gospodinovs Heimatland spielen, haben mich dazu animiert, mehr über diesen Staat zu erfahren, an den wir normalerweise allenfalls wegen seiner Badestrände und der hohen Armutsrate denken.
Für mich war „Zeitzufluchten“ ein sehr spannender, wenn auch nicht greifbarer Roman. Er ist sicher nicht nach dem Geschmack der großen Masse, aber wenn man sich drauf einlässt und loslässt, kann man viel Individuelles daraus mitnehmen, weil es einen Teil dessen, wer wir sind und was wir fürchten auf uns zurückwirft. Beeindruckend!