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Domenica Orlando, genannt Mimi, ist vierzehn, als sie ihr Dorf im süditalienischenApulien verlassen muss, um mit den Eltern in die Schweiz zu gehen. IhrVater hat dort Arbeit in einer Fabrik gefunden: das Versprechen auf Reichtumfür Tausende von Emigranten in den 1970er Jahren. Mimi erlebt im Nordenihre erste Liebe, zum 18- jährigen Ippazio, doch in der kargen Unterkunft, diesie mit vielen Landsleuten teilen müssen, bleiben den beiden nur kleine, verstohleneStreichholz-Momente des Glücks.Jahre später, die Familie lebt längst wieder in Apulien, ist aus Mimi eine selbstbewussteFrau geworden, die…mehr

Produktbeschreibung
Domenica Orlando, genannt Mimi, ist vierzehn, als sie ihr Dorf im süditalienischenApulien verlassen muss, um mit den Eltern in die Schweiz zu gehen. IhrVater hat dort Arbeit in einer Fabrik gefunden: das Versprechen auf Reichtumfür Tausende von Emigranten in den 1970er Jahren. Mimi erlebt im Nordenihre erste Liebe, zum 18- jährigen Ippazio, doch in der kargen Unterkunft, diesie mit vielen Landsleuten teilen müssen, bleiben den beiden nur kleine, verstohleneStreichholz-Momente des Glücks.Jahre später, die Familie lebt längst wieder in Apulien, ist aus Mimi eine selbstbewussteFrau geworden, die immer noch jung ist, ihre halbwüchsige Tochterallein erzieht und in einer Krawattenfabrik arbeitet. Mit verblüffender innererFreiheit und Konsequenz lebt sie ihr - nicht nur für süditalienische Gewohnheiten- unangepasstes Leben. Ihre eigentliche Stärke aber muss sie beweisen,als nach und nach die Männer krank werden und an den Spätfolgen ihrer Arbeitin der Asbestfabrik sterben. So kommt es, dass Mimi in einem Dorf der Frauenlebt. Doch erst die nächste Generation, ihre Tochter Arianna, wird nachfragenund die Frauen ermutigen, die Schuldigen zu suchen.Mario Desiati kommt selbst aus Apulien, er kennt sie, die verstummten Männer;er gibt ihnen die Stimme zurück, die ihnen genommen wurde.
Autorenporträt
Mario Desiati, geboren 1977 in Locorotondo (Apulien),lebt in Rom. Er ist Lektor im italienischen Verlag Fandango,schreibt für La Repubblica und hat Gedichte, Erzählungenund zwei Romane veröffentlicht. "Zementfasern" war für denPremio Strega nominiert und ist sein erstes Buch aufDeutsch.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eternit, schlimme Sache das, meint Rezensent Niklas Bender. Die Geschichte um das Mädchen Mimi, ihre Liebschaften und ihren Einsatz für die wenigen Arbeitsplätze im Mezzogiorno, erzählt vor dem Hintergrund der skandalösen Vorgänge in den Schweizer Eternitminen, rührt ihn jedoch nicht derart zu Tränen, wie der Autor das offenbar gerne hätte. Jedenfalls drückt Mario Desiati mächtig auf die Tränendrüse, wie uns Bender zu verstehen gibt, berichtet vom Sterben der Eternitarbeiter und rutscht, so sieht es aus, wann immer sich zwei Menschen begegnen, ab in den Kitsch. Zu "klinexlastig" für Bender. Eine nüchterne Sicht, meint er, hätte dem Thema gut gestanden. Arbeitergeschichten hält der Rezensent allerdings für richtig stark.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2012

Vergiftetes Leben
In Mario Desiatis Roman wird eine Frau zum Symbol

In der Nachkriegszeit schufteten Tausende italienische Arbeiter in Schweizer Zementfabriken, den sogenannten "Ternitti", in denen der gleichnamige Baustoff (Eternit) hergestellt wurde. Er war asbesthaltig, die Arbeiter ruinierten sich die Gesundheit: ein nicht aufgearbeiteter Skandal, dessen Opfer bis heute daran sterben. Diese Geschichte durchsetzt, wie die unsichtbaren, aber tödlichen Asbestteilchen, Mario Desiatis Erstlingsroman "Zementfasern". Die Eltern der Protagonistin Domenica Orlando arbeiten Mitte der siebziger Jahre für zwei Jahre in einer Fabrik bei Zürich - lang genug, um die Lunge von Antonio zu ruinieren. Lang genug auch, um die damals fünfzehnjährige Mimi ihre Unschuld verlieren zu lassen: Sie gibt sich dem schönen Ippazio hin, der sie verlässt, als sie schwanger wird.

Desiati erzählt von einer kleinen Welt im Exil, in der eine ehemalige Glashütte als Gemeinschaftsunterkunft dient. Elend und Leid der Asbest-Arbeiter werden engagiert und bildstark benannt: "Die Farbe des Teigs aber war hässlich und sein Geruch unerträglich, stechend, er blähte die Nasenlöcher und drang wie unsichtbare Nadeln unter die Haut, fuhr durch die Glieder bis in den Brustkorb, schließlich in die Lunge. Jeweils eine Nadel. Eine nach der anderen und wie alles Böse sorgsam darauf bedacht, langsam, unkenntlich und unabwendbar zu sein."

Dieser Zeitabschnitt ist jedoch der kürzeste Teil des Romans, es geht um Mimis Leben: Von 1993 bis 2011 zeigen Querschnitte die Heldin in wechselnden Konstellationen. Das im Gegensatz zu den sterbenden Arbeitern "ewig junge Mädchen" führt ein nur scheinbar geregeltes Leben. Mimi arbeitet in einer Krawattenfabrik und zieht ihre Tochter Arianna auf; Liebhaber wechseln regelmäßig, mit den Jahren kommen einige zusammen. Schon das fällt auf in der Provinz Lecce, jenem Teil Apuliens, der den Absatz des italienischen Stiefels bildet: Auch im 20. Jahrhundert schlagen die Uhren im südlichen Mezzogiorno anders, Carlo Levi hat es in "Christus kam nur bis Eboli" schon 1945 eindrucksvoll gezeigt.

Hinzu kommt, dass Mimi sich um ihren Bruder Biagino kümmert, der wegen seiner früher blau gefärbten Haare Celestino genannt wird, mit "Giacomo Daniele" (Jack Daniels) auf Du und Du ist und die Gassen des Städtchens Tricase unsicher macht. Zudem redet Mimi mit Geistern und versteckt sich gern unterm Tisch: Manchen gilt sie als macara, als Hexe. Ihre Rolle zementiert sie am Ende: Sie besetzt ein Fabrikdach, um gegen die Verlagerung der Krawattenproduktion zu protestieren, und schafft es ins Fernsehen. Mimi wird zum Symbol - das freilich war sie den ganzen Roman über, und genau darin liegt das Problem.

So spannend der Hintergrund, das Sterben der Eternitarbeiter, so lau ist der Vordergrund: Mimis Treiben, das Abrutschen von Celestino, das ankerlose Leben von Arianna, die Medizin studiert, mit den Männern kein Glück hat und sich für die kranken Arbeiter engagiert. Das gilt besonders für die letzten beiden Teile, 2006 und 2011, in denen Mimi ihre erste Liebe Ippazio wieder trifft, der auch vom Asbest gezeichnet ist. Was vorher in einem eher heiteren, bisweilen poetischen Gesamttableau verschmelzende Schrullen waren, wird in der Zweierkonstellation zu handfestem Kitsch. Interpretationen des Erzählers, der vorsichtshalber die eigene Geschichte erklärt, verschlimmern den Befund. Zu Ippazio: "Er wollte nicht fern von seiner Erde sterben, von ihren Fossilien und ihrer Sprache; Mimi repräsentierte die Welt vor den Ternitti, die Zeit, bevor er von der Hybris des Materials erfahren hatte, das Eternit hieß wie die Ewigkeit, sich aber nicht für fehlbare äußerst sterbliche Menschen eignete, und für das Tausende von Männern einberufen worden waren." Der Protagonistin wird eine geradezu kosmische Rolle zugeschrieben.

Die Annäherung von Mimi und Arianna ist ebenfalls klinexlastig: "Sie sahen einander in die Augen und suchten ihr zaubermächtiges Einverständnis, ihre ineinander verwickelten Lebensgeflechte." Erst erfrischend grotesk, später missraten ist schließlich die Figur des Alkoholikers Celestino, "ein Mensch voller Wahrheit". Es ist schade, dass Desiati keine nüchterne Sicht wählt; auch gäben die Arbeitergeschichten genügend her. Stärkere Beschränkung hätte die Straffung der etwas, nun ja, fasrigen Konstruktion erlaubt. Bei allem Respekt vor Asbest: Ästhetisch gesehen, ist zügelloses Gefühl das größte Gift.

NIKLAS BENDER

Mario Desiati: "Zementfasern". Roman.

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 288 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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