Die Gabe des Menschen, sich etwas vorzumachen, ist unerschöpflich. Nur wenige Autoren der Weltliteratur haben diese Erfindungsgabe so herrlich indiskret bloßgelegt wie Italo Svevo. Die erheiternden Vivisektionen seines Zeno Cosini leuchten das Bewusstseinslabyrinth des modernen Mannes bis in die hintersten Winkel aus. In jeder Hinsicht eine Offenbarung!
Signore Cosini ist siebenundfünfzig Jahre alt und kann auf eine beeindruckende Bilanz ungenutzter Chancen und verpasster Gelegenheiten zurückblicken. Einerlei, ob er eine gute Partie machen wollte oder bloß versuchte, sich das Rauchen abzugewöhnen, ob er sich in der Geschäftswelt engagierte oder auf ein erotisches Abenteuer aus war - ein ums andere Mal schlug ihm das Schicksal ein Schnippchen. Nichtraucher ist er mit knapp sechzig immer noch nicht, und seine Frau hat er nur deshalb geheiratet, weil deren Schwestern ihn zuvor abgewiesen hatten. Da sich das Un-Perfekte jedoch mitunter als Glücksfall herausstellt, ist es Svevos Kleinstadtneurotiker wider Erwarten vergönnt, chronisches Unvermögen zur höheren Lebenskunst zu veredeln.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Signore Cosini ist siebenundfünfzig Jahre alt und kann auf eine beeindruckende Bilanz ungenutzter Chancen und verpasster Gelegenheiten zurückblicken. Einerlei, ob er eine gute Partie machen wollte oder bloß versuchte, sich das Rauchen abzugewöhnen, ob er sich in der Geschäftswelt engagierte oder auf ein erotisches Abenteuer aus war - ein ums andere Mal schlug ihm das Schicksal ein Schnippchen. Nichtraucher ist er mit knapp sechzig immer noch nicht, und seine Frau hat er nur deshalb geheiratet, weil deren Schwestern ihn zuvor abgewiesen hatten. Da sich das Un-Perfekte jedoch mitunter als Glücksfall herausstellt, ist es Svevos Kleinstadtneurotiker wider Erwarten vergönnt, chronisches Unvermögen zur höheren Lebenskunst zu veredeln.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2011Und wer macht mir meinen Milchkaffee?
Grandioser Wortschwall eines tragikomischen Hypochonders: Mit Zeno Cosini ließ Italo Svevo die Moderne in die italienische Literatur einziehen. Jetzt liegt der Klassiker in einer frischen Übersetzung vor.
Rauchen oder nicht rauchen, das ist hier die Frage. Zeno Cosini, Protagonist von Italo Svevos "Zenos Gewissen", stellt sie sich täglich. Als Mann mit den besten Absichten gibt es für ihn nur eine Antwort: Schluss damit! Allein, es mangelt ihm an der Kraft zur Umsetzung. Was er nicht einsieht - oder sich schönredet. Zum Beispiel, wenn er nach einer halben Stunde Entzug konstatiert: "Ich war also völlig geheilt, aber unheilbar lächerlich!" Und wenn er eines nicht will, dann lächerlich erscheinen oder "gesund sterben, nachdem ich das ganze Leben lang krank gelebt habe". Da hilft nur der neuerliche Griff zum Nikotin.
"Gli inetti" heißen solche Typen in der italienischen Literatur. Es sind die Trägen oder Untauglichen, die sich treiben lassen, den Zeitläuften nichts entgegensetzen, sich an ihre Illusionen verlieren und oft keinen Zugang zu ihrem Selbst haben. Es ist der moderne Mensch - in einer seiner Spielarten.
Aron Hector (Ettore) Schmitz, in die Literaturgeschichte als Italo Svevo eingegangen, hat diesem Typus am Ende des neunzehnten, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in drei Romanen ein Denkmal gesetzt und damit die italienische Literatur an die mitteleuropäische Moderne angeschlossen. Bereits das Pseudonym des 1861 in Triest geborenen Sohns eines Deutschen und einer Italienerin, beide mit jüdischem Hintergrund, war Programm: Die habsburgische Hafenstadt war ein Schmelztiegel venezianischer, deutscher und slawischer Einflüsse; gleichzeitig erfreute sich der Irredentismus, in diesem Falle ein panitalienischer Nationalismus, gerade unter Intellektuellen großer Beliebtheit. Italo Svevo, der italienische Schwabe - damit verband Schmitz Unvereinbares.
Einiges hatte er mit seinen Helden gemein. Auch ihn quälte ein von Schopenhauer geprägter Pessimismus, gleichzeitig zeichnete ihn ein Sinn für Humor aus. Humor indes heißt, Dürrenmatt zufolge, "nicht einverstanden sein mit der Welt, sondern sie eben als gerade das zu akzeptieren, was sie ist, als etwas sehr Fragwürdiges". Zudem war Svevo sozial engagiert, zu Emphase fähig und, wenn auch augenzwinkernd, von der Qualität seiner Texte überzeugt, "denn es genügt nicht, Meisterwerke zu schreiben, sondern man muss auch Zeno Cosini verstehen".
Der siebenundfünfzigjährige Zeno Cosini ist ein Mann aus gutem Hause, wirtschaftlich abgesichert und zumindest in einer Hinsicht ein echter "inetto": Vom Geschäftsleben versteht er rein gar nichts, was zur Folge hat, dass ihm sein Vater in der eigenen Firma den wirtschaftlichen Vormund Olivi vor die Nase setzt. Dergestalt um eine Aufgabe gebracht, flaniert er durch die Straßen Triests, gibt allenthalben den Connaisseur und kultiviert seine Hypochondrie. Sich selbst attestiert er ein besonderes Leiden: "Ohne ein Redner zu sein, hatte ich die Wortkrankheit." Das stimmt insofern, als er im Zuge einer Psychoanalyse rund 750 Seiten braucht, um sein ereignisarmes Leben darzulegen. Die sind freilich ein Feuerwerk an Bonmots sowie ins Groteske spielenden Situationen. In thematischen Blöcken handelt Zeno sein Leben ab, angefangen beim Rauchen über den Tod des Vaters, die Ehefrau und Geliebte bis hin zur Psychoanalyse. Nur zu einem zentralen Thema fehlt ein eigenes Kapitel: den eingebildeten Krankheiten.
Svevo verstand Krankheit als Chiffre seiner Zeit, Krankheit und Gesundheit galten ihm als austauschbare Begriffe, da jeder grundsätzlich an der Zeit, an der Existenz an sich leide. Zeno unterzieht sich einer Psychoanalyse, was seinem Schöpfer das Etikett des "psychoanalytischen Autors" eintrug (F.A.Z. vom 10. Dezember). Das verbat er sich strikt. Er hatte zwar Freuds "Traumdeutung" übersetzt, lehnte diesen Ansatz aber ab. Literarisch schlägt sich das gleich auf den ersten Seiten des "Zeno" in einer genial-komischen Verletzung der Abstinenzregel nieder: Ein Doktor S. veröffentlicht "aus Rache" die Manuskripte seines Patienten Zeno Cosini, weil dieser die Behandlung abgebrochen hat. Später gibt auch Zeno selbst noch Auskunft: "Meine Therapie musste beendet sein, weil meine Krankheit ausfindig gemacht worden war. Es war keine andere als die, welche vor Zeiten der selige Sophokles an dem armen Ödipus diagnostiziert hat: Ich hatte meine Mutter geliebt und hätte meinen Vater töten wollen!"
Sophokles und Ödipus, das ist die große Tragödie, die jedoch, erneut nach Dürrenmatt, eine gestaltete Welt voraussetzt. Doch die Zeiten waren vorbei. Aber auch die Komödie, die nach einer Welt im Umbruch verlangt, taugte nicht als Gestaltungsmittel. Aber dann wäre Zeno, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur eine Sorge kennt: Wie kommt er an seinen Milchkaffee?, nur eine Witzfigur. Nein, um seinem dürftigen, doch facettenreichen Innenleben gerecht zu werden, bedurfte es der Tragikomik. Der moderne Erzähler war geboren.
Svevo unterlegte dem Handeln oder Nichthandeln seiner Protagonisten stets mehrere Motive. Sind diese im Widerstreit miteinander, verstärkt sich die typische Antriebslosigkeit noch. Verstricken sich die Figuren obendrein in Reflexionen über ihr Handeln, sind sie schnell beim Watzlawickschen "Behalten Sie doch Ihren Hammer!" Gerade diese subtile Beobachtungsgabe Svevos macht alle drei Romane zu herausragenden Werken. Der "Zeno" darf dabei getrost als Meisterwerk bezeichnet werden - das beinahe nicht entstanden wäre.
Nachdem Svevo 1892 "Una vita" und 1898 "Senilità" jeweils auf eigene Kosten veröffentlicht hatte, blieb der Erfolg aus. Svevo beschloss, nichts mehr zu publizieren, und war fest in seinen Beruf als Kaufmann eingebunden. Die Literatur entstand am Feierabend, für die Schublade. Dann kam Joyce. Die beiden Literaten lernten sich 1907 in Triest kennen. Joyce ermunterte Svevo weiterzuschreiben. 1923 erschien der "Zeno". In dieser langen Zwischenzeit muss es in Svevo gegärt haben: Er verabschiedete sich von Vorbildern, vor allem den französischen Naturalisten wie Zola, und ließ tradierte Erzählformen wie den chronologischen Handlungsablauf hinter sich. Der Protagonist darf als Ich-Erzähler hervortreten, der zuvor nur ironisch grundierte Ton reift zum ironiesatten Duktus heran.
Doch wieder bleibt der Erfolg aus. Und wieder macht sich Joyce verdient, indem er Svevo empfiehlt, sich an englische und französische Verlage zu wenden. Im Ausland schlagen alle drei Romane ein. In Italien setzt sich dann Montale für ihn ein. Svevo hat diesen späten Ruhm noch erlebt, aber kaum mehr genießen können, 1928 starb er.
In der knappen Zeit, die ihm verblieb, hat er sich intensiv um Übersetzungen gekümmert. Nach der Kritik in Italien, die ihm immer wieder Dialektismen und grammatische Fehler vorgehalten hatte, legte er größten Wert auf gelungene Übertragungen in anderer Sprache. Aus Anlass seines hundertfünfzigsten Geburtstages am 19. Dezember hat der Manesse Verlag nun die überarbeitete Neuübersetzung Barbara Kleiners aus dem Jahr 2000 wiederaufgelegt.
Obwohl der deutsche Erstübersetzer Piero Rismondo noch mit Svevo zusammengearbeitet hat und seine Version sich keineswegs angestaubt liest, zeigt der Vergleich, was Genuss von Hochgenuss trennt. Als Svevo etwa ins Haus eines väterlichen Freundes kommt, hat er bereits beschlossen, eine der vier Töchter zur Frau zu nehmen, obwohl er noch keine von ihnen kennt. "Jenes erste Mal betrachtete ich Ada mit dem alleinigen Wunsch, mich in sie zu verlieben. Das war der einzige Weg, wenn ich sie heiraten wollte." Das ist nicht der einzige, aber ein sicherer Weg, die Pointe zu killen. Aber das muss nicht sein, wie Kleiner beweist: "Jenes erste Mal betrachtete ich Ada mit einem einzigen Wunsch: dem, mich in sie zu verlieben, denn da musste ich durch, um sie zu heiraten."
Diese Stelle ist auch insofern symptomatisch, als sie Rismondos Umgang mit der Syntax veranschaulicht. Setzt Svevo selbst einmal einen Doppelpunkt, verzichtet Rismondo prompt darauf, obwohl er ihn sonst gern einfügt. Zudem zerhackt er Svevos lange Sätze ständig, was einen wesentlich entschlosseneren, tatkräftigen Ton suggeriert; unterstützt wird dieser Eindruck durch weitere Eingriffe wie die Transformation von indirekter Rede in direkte. Dass all dies nicht notwendig ist, zeigt die Übersetzung Barbara Kleiners, die ebenso elegant wie klar ist. Svevo wäre entzückt gewesen.
CHRISTIANE PÖHLMANN.
Italo Svevo: "Zenos Gewissen". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Mit einem Nachwort von Maike Albath. Manesse Verlag, München 2011. 796 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grandioser Wortschwall eines tragikomischen Hypochonders: Mit Zeno Cosini ließ Italo Svevo die Moderne in die italienische Literatur einziehen. Jetzt liegt der Klassiker in einer frischen Übersetzung vor.
Rauchen oder nicht rauchen, das ist hier die Frage. Zeno Cosini, Protagonist von Italo Svevos "Zenos Gewissen", stellt sie sich täglich. Als Mann mit den besten Absichten gibt es für ihn nur eine Antwort: Schluss damit! Allein, es mangelt ihm an der Kraft zur Umsetzung. Was er nicht einsieht - oder sich schönredet. Zum Beispiel, wenn er nach einer halben Stunde Entzug konstatiert: "Ich war also völlig geheilt, aber unheilbar lächerlich!" Und wenn er eines nicht will, dann lächerlich erscheinen oder "gesund sterben, nachdem ich das ganze Leben lang krank gelebt habe". Da hilft nur der neuerliche Griff zum Nikotin.
"Gli inetti" heißen solche Typen in der italienischen Literatur. Es sind die Trägen oder Untauglichen, die sich treiben lassen, den Zeitläuften nichts entgegensetzen, sich an ihre Illusionen verlieren und oft keinen Zugang zu ihrem Selbst haben. Es ist der moderne Mensch - in einer seiner Spielarten.
Aron Hector (Ettore) Schmitz, in die Literaturgeschichte als Italo Svevo eingegangen, hat diesem Typus am Ende des neunzehnten, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in drei Romanen ein Denkmal gesetzt und damit die italienische Literatur an die mitteleuropäische Moderne angeschlossen. Bereits das Pseudonym des 1861 in Triest geborenen Sohns eines Deutschen und einer Italienerin, beide mit jüdischem Hintergrund, war Programm: Die habsburgische Hafenstadt war ein Schmelztiegel venezianischer, deutscher und slawischer Einflüsse; gleichzeitig erfreute sich der Irredentismus, in diesem Falle ein panitalienischer Nationalismus, gerade unter Intellektuellen großer Beliebtheit. Italo Svevo, der italienische Schwabe - damit verband Schmitz Unvereinbares.
Einiges hatte er mit seinen Helden gemein. Auch ihn quälte ein von Schopenhauer geprägter Pessimismus, gleichzeitig zeichnete ihn ein Sinn für Humor aus. Humor indes heißt, Dürrenmatt zufolge, "nicht einverstanden sein mit der Welt, sondern sie eben als gerade das zu akzeptieren, was sie ist, als etwas sehr Fragwürdiges". Zudem war Svevo sozial engagiert, zu Emphase fähig und, wenn auch augenzwinkernd, von der Qualität seiner Texte überzeugt, "denn es genügt nicht, Meisterwerke zu schreiben, sondern man muss auch Zeno Cosini verstehen".
Der siebenundfünfzigjährige Zeno Cosini ist ein Mann aus gutem Hause, wirtschaftlich abgesichert und zumindest in einer Hinsicht ein echter "inetto": Vom Geschäftsleben versteht er rein gar nichts, was zur Folge hat, dass ihm sein Vater in der eigenen Firma den wirtschaftlichen Vormund Olivi vor die Nase setzt. Dergestalt um eine Aufgabe gebracht, flaniert er durch die Straßen Triests, gibt allenthalben den Connaisseur und kultiviert seine Hypochondrie. Sich selbst attestiert er ein besonderes Leiden: "Ohne ein Redner zu sein, hatte ich die Wortkrankheit." Das stimmt insofern, als er im Zuge einer Psychoanalyse rund 750 Seiten braucht, um sein ereignisarmes Leben darzulegen. Die sind freilich ein Feuerwerk an Bonmots sowie ins Groteske spielenden Situationen. In thematischen Blöcken handelt Zeno sein Leben ab, angefangen beim Rauchen über den Tod des Vaters, die Ehefrau und Geliebte bis hin zur Psychoanalyse. Nur zu einem zentralen Thema fehlt ein eigenes Kapitel: den eingebildeten Krankheiten.
Svevo verstand Krankheit als Chiffre seiner Zeit, Krankheit und Gesundheit galten ihm als austauschbare Begriffe, da jeder grundsätzlich an der Zeit, an der Existenz an sich leide. Zeno unterzieht sich einer Psychoanalyse, was seinem Schöpfer das Etikett des "psychoanalytischen Autors" eintrug (F.A.Z. vom 10. Dezember). Das verbat er sich strikt. Er hatte zwar Freuds "Traumdeutung" übersetzt, lehnte diesen Ansatz aber ab. Literarisch schlägt sich das gleich auf den ersten Seiten des "Zeno" in einer genial-komischen Verletzung der Abstinenzregel nieder: Ein Doktor S. veröffentlicht "aus Rache" die Manuskripte seines Patienten Zeno Cosini, weil dieser die Behandlung abgebrochen hat. Später gibt auch Zeno selbst noch Auskunft: "Meine Therapie musste beendet sein, weil meine Krankheit ausfindig gemacht worden war. Es war keine andere als die, welche vor Zeiten der selige Sophokles an dem armen Ödipus diagnostiziert hat: Ich hatte meine Mutter geliebt und hätte meinen Vater töten wollen!"
Sophokles und Ödipus, das ist die große Tragödie, die jedoch, erneut nach Dürrenmatt, eine gestaltete Welt voraussetzt. Doch die Zeiten waren vorbei. Aber auch die Komödie, die nach einer Welt im Umbruch verlangt, taugte nicht als Gestaltungsmittel. Aber dann wäre Zeno, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur eine Sorge kennt: Wie kommt er an seinen Milchkaffee?, nur eine Witzfigur. Nein, um seinem dürftigen, doch facettenreichen Innenleben gerecht zu werden, bedurfte es der Tragikomik. Der moderne Erzähler war geboren.
Svevo unterlegte dem Handeln oder Nichthandeln seiner Protagonisten stets mehrere Motive. Sind diese im Widerstreit miteinander, verstärkt sich die typische Antriebslosigkeit noch. Verstricken sich die Figuren obendrein in Reflexionen über ihr Handeln, sind sie schnell beim Watzlawickschen "Behalten Sie doch Ihren Hammer!" Gerade diese subtile Beobachtungsgabe Svevos macht alle drei Romane zu herausragenden Werken. Der "Zeno" darf dabei getrost als Meisterwerk bezeichnet werden - das beinahe nicht entstanden wäre.
Nachdem Svevo 1892 "Una vita" und 1898 "Senilità" jeweils auf eigene Kosten veröffentlicht hatte, blieb der Erfolg aus. Svevo beschloss, nichts mehr zu publizieren, und war fest in seinen Beruf als Kaufmann eingebunden. Die Literatur entstand am Feierabend, für die Schublade. Dann kam Joyce. Die beiden Literaten lernten sich 1907 in Triest kennen. Joyce ermunterte Svevo weiterzuschreiben. 1923 erschien der "Zeno". In dieser langen Zwischenzeit muss es in Svevo gegärt haben: Er verabschiedete sich von Vorbildern, vor allem den französischen Naturalisten wie Zola, und ließ tradierte Erzählformen wie den chronologischen Handlungsablauf hinter sich. Der Protagonist darf als Ich-Erzähler hervortreten, der zuvor nur ironisch grundierte Ton reift zum ironiesatten Duktus heran.
Doch wieder bleibt der Erfolg aus. Und wieder macht sich Joyce verdient, indem er Svevo empfiehlt, sich an englische und französische Verlage zu wenden. Im Ausland schlagen alle drei Romane ein. In Italien setzt sich dann Montale für ihn ein. Svevo hat diesen späten Ruhm noch erlebt, aber kaum mehr genießen können, 1928 starb er.
In der knappen Zeit, die ihm verblieb, hat er sich intensiv um Übersetzungen gekümmert. Nach der Kritik in Italien, die ihm immer wieder Dialektismen und grammatische Fehler vorgehalten hatte, legte er größten Wert auf gelungene Übertragungen in anderer Sprache. Aus Anlass seines hundertfünfzigsten Geburtstages am 19. Dezember hat der Manesse Verlag nun die überarbeitete Neuübersetzung Barbara Kleiners aus dem Jahr 2000 wiederaufgelegt.
Obwohl der deutsche Erstübersetzer Piero Rismondo noch mit Svevo zusammengearbeitet hat und seine Version sich keineswegs angestaubt liest, zeigt der Vergleich, was Genuss von Hochgenuss trennt. Als Svevo etwa ins Haus eines väterlichen Freundes kommt, hat er bereits beschlossen, eine der vier Töchter zur Frau zu nehmen, obwohl er noch keine von ihnen kennt. "Jenes erste Mal betrachtete ich Ada mit dem alleinigen Wunsch, mich in sie zu verlieben. Das war der einzige Weg, wenn ich sie heiraten wollte." Das ist nicht der einzige, aber ein sicherer Weg, die Pointe zu killen. Aber das muss nicht sein, wie Kleiner beweist: "Jenes erste Mal betrachtete ich Ada mit einem einzigen Wunsch: dem, mich in sie zu verlieben, denn da musste ich durch, um sie zu heiraten."
Diese Stelle ist auch insofern symptomatisch, als sie Rismondos Umgang mit der Syntax veranschaulicht. Setzt Svevo selbst einmal einen Doppelpunkt, verzichtet Rismondo prompt darauf, obwohl er ihn sonst gern einfügt. Zudem zerhackt er Svevos lange Sätze ständig, was einen wesentlich entschlosseneren, tatkräftigen Ton suggeriert; unterstützt wird dieser Eindruck durch weitere Eingriffe wie die Transformation von indirekter Rede in direkte. Dass all dies nicht notwendig ist, zeigt die Übersetzung Barbara Kleiners, die ebenso elegant wie klar ist. Svevo wäre entzückt gewesen.
CHRISTIANE PÖHLMANN.
Italo Svevo: "Zenos Gewissen". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Mit einem Nachwort von Maike Albath. Manesse Verlag, München 2011. 796 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Meisterwerk" würdigt Rezensentin Christiane Pöhlmann Italo Svevos bereits 1923 erschienenen Roman "Zenos Gewissen", den der Manesse Verlag anlässlich Svevos 150. Geburtstag noch einmal neu aufgelegt hat. Ein ganzes "Feuerwerk an Bonmots" sieht die Kritikerin auf den rund 750 Seiten explodieren, auf denen Svevo seinen Protagonisten Zeno Cosini, einen tragikomischen Hypochonder, auf sein wenig ereignisvolles Leben, seine Ehefrau, seine Geliebte und seine Psychoanalyse zurückblicken lässt. Pöhlmann lobt insbesondere die feinsinnige Beobachtungsgabe, mit welcher der deutsch-italienische Autor das vielschichtige Innenleben seines Ich-Erzählers ausleuchte. Svevo habe mit diesem Roman die italienische Literatur an die mitteleuropäische Moderne angeschlossen, so Pöhlmann. Größte Anerkennung ringt ihr auch die Neuübersetzung Barbara Kleiners ab, die sie als wahren "Hochgenuss" bezeichnet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Mit subtiler Beobachtungsgabe hat Svevo ein Meisterwerk geschafften. Die ebenso elegante wie klare Übersetzung Barbara Kleiners ist ein Hochgenuss. Svevo wäre entzückt gewesen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.12.2011
»In der famosen Übertragung von Barbara Kleiner, sei dieses Werk all jenen, die auch im Alltag dem gepflegten Irrsinn frönen, auf den Bücherstapel obenauf gelegt.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2010NEUE TASCHENBÜCHER
Italo Svevo setzt Ereignis an
Ereignis in „Zenos Gewissen“
Große Sätze, markante Aphorismen, Tiefsinniges haufenweise gibt es in diesem Buch: „Wie doch das Wort die Zeit überwindet“, tönt der Erzähler, „selbst Ereignis, schließt es an Ereignis an.“ Gleichsam um diese Sätze zu deuten, versucht er dann gleich sie durch seine Erlebnisse in der Wirklichkeit zu verifizieren. Und verzettelt sich dabei, wendet die Klarheit der Gedanken ins Konfuse, Banale, also: ins Lebendige.
Ein Ereignis war, als er 1923 erschien, Italo Svevos Roman „La coscienza di Zeno/Zenos Gewissen“ (das italienische coscienza kann auch Bewusstsein bedeuten). Ein kleines Comeback, ein Vierteljahrhundert hatte der Autor Italo Svevo aus Triest (eigentlich: Ettore Schmitz, der sich im Pseudonym zum „italienischen Schwaben“ machte) das Schreiben gelassen – 1892 und 1898 hatte er seine ersten beiden Romane veröffentlicht, „Ein Leben“ und „Ein Mann wird älter“, auf eigene Kosten und ohne öffentliche Resonanz, also managte er nun die Firma seines Schwiegervaters. Einen Motivationsschub erteilte James Joyce, der sich in Triest als Sprachlehrer durchschlug und auch Italo Svevo fit machen sollte für Geschäftsverhandlungen in London. Joyce zettelte in Frankreich begeisterte Reaktionen auf den „Zeno“ an.
Gewissensprüfung, Selbstfindung, die Literatur musste zu Beginn des 20. Jahrhunderts nun auf all ihre großartigen Ansprüche verzichten. Schon wie der gute alte Zeno über sein großes Laster, das Rauchen schreibt, die ganze Sophisterei von Abgewöhnen und Wiederanfangen, ist ein Meisterstückchen der Moderne, die sich nicht damit begnügt, beim Verfertigen der Gedanken zuzuschauen, sondern auch beim Auseinandernehmen. Auch seine Frauengeschichten zerredet Zeno, ob Ehe oder Liebelei. Der Mensch kriegt seine Krankheiten nicht mehr los, seit er sich immer neue Werkzeuge konstruiert – das weiß wohl auch die Psychoanalyse. „Vielleicht“, so die bittere Erkenntnis am Ende, datiert vom März 1916, „werden wir durch eine unerhörte, von den Werkzeugen verursachte Katastrophe zur Gesundheit zurückfinden.“
Fritz Göttler
Ach, Amerika,
ach, Europa!
Mit „Unter Wilden“ (2002) wurde der 58-jährige Amerikaner Dirk Wittenborn als lakonischer Chronist der geistig und moralisch maroden New Yorker Upperclass auch in Europa bekannt. Das nun als Taschenbuch vorliegende „Bongo Europa“ von 2006 schildert die Europa-Reise eines kultivierten amerikanischen Psychologen-Paars und seiner beiden Söhne 1964. Das liegt lang genug zurück, um ein paar Scherze aus den noch nicht vom Internet nivellierten Unterschieden zwischen dem verklemmten Amerika und dem freizügigen Europa zu machen. Problematisch ist nicht, dass in „Bongo Europa“ so getan wird, als sei es selbstverständlich, dass ein altkluger, frühreifer, von unerwarteten Erektionen gepeinigter Zwölfjähriger Wörter wie „gastrointestinal“ benutzt. Problematisch ist, dass Wittenborn davon überzeugt gewesen sein muss, das sei ein guter Witz. Ist es aber leider nicht.
Jens-Christian Rabe
Die Sache
war immer ernst
„Am allerwenigsten hatten wir . . . Angst vor der Nato“, sagt Jens Sparschuh. Die Natosoldaten hatten in den Lehrfilmen der Nationalen Volksarmee der DDR, in der er dienen musste, „immer so verschwommene Gesichter“. Sten Nadolny, seinerzeit auf der Natoseite überzeugter Fernmelder mit freiwilliger Verlängerung der Dienstzeit „aus finanziellen Gründen“, glaubte, die „Demokratie verteidigen“ zu müssen, und dass man beim Militär „noch schneller ein richtiger Mann“ würde. Die beiden erzählen sich die Merkwürdigkeiten ihres Soldatenlebens diesseits und jenseits der Zonengrenze so kurzweilig und aufschlussreich, dass man häufig lachen muss, oft aber eher unheimlich berührt ist von jenen Vorstellungen, die als Kalter Krieg nicht nur in die Weltgeschichte eingegangen sind, sondern auch in den Köpfen zweier Jungmänner spukten, die berühmte Schriftssteller wurden. Harald Eggebrecht
Wer lesen konnte, war
Teil des Systems
Neben seiner Tätigkeit als Direktor der Duisburger Stadtbibliothek beschäftigt sich der Historiker Jan-Pieter Barbian intensiv mit dem Literaturbetrieb im Nationalsozialismus. In seinem Buch „Literaturpolitik im NS-Staat. Von der ,Gleichschaltung‘ bis zum Ruin“ präsentiert er sein enzyklopädisches Wissen über Personen, Institutionen und Verbände, die zwischen 1933 und 1945 die Mediendiktatur errichteten und verwalteten. Selbstredend führt er auch die Opfer dieser Politik, die Schriftsteller, auf und beschreibt ihre Schicksale. Kein Detail scheint Barbian auszublenden, wenn er etwa die Intrigen und das Postengerangel innerhalb des braunen Regimes beleuchtet. Er stützt seine ganze Arbeit auf Originalquellen – der Mann muss jahrelang die Archive durchforstet haben.
Ermittelte Zahlen setzt Barbian in einem sinnvollen Maß ein wie die erfassten Zitate. Sie machen den Zynismus anschaulich, mit dem Goebbels und seine Gefolgsleute die deutsche Literatur und ihre Anwendbarkeit bis in die kleinsten Stadt- und Schulbibliotheken hinein steuerten. Im Kapitel über die Kontrolle der Schriftsteller werden die Auswirkungen am besonders deutlich geschildert. Ludwig Fulda wurde 1941 in den Selbstmord getrieben, Erich Kästner bekam Schreibverbot – und das sind nur zwei von sehr vielen Beispielen. Andere ließ Goebbels trotz ihrer kritischen Haltung weiterarbeiten, um sie zu instrumentalisieren. Ebenso wird bei der Lektüre dieser Abhandlung deutlich, dass außer den Bibliothekaren, die im braunen Hemd auftraten, irgendwie alle, die nicht dagegen opponierten, zumindest stillschweigend an diesem System beteiligt waren. Alle, die mit Literatur arbeiteten und die sie nutzten, also auch der ganz normale Bibliotheksbesucher. Es kann schließlich keinem entgangen sein, dass die Regale immer leerer wurden, weil die Nationalsozialisten die Bücher verbrannten.
Jan-Pieter Barbian hinterlässt den Leser am Ende mit dem Gefühl, alles über Literaturpolitik unter Hitler und sehr viel über diese Zeit in Deutschland erfahren zu haben.
Rudolf Neumaier
Die Liebe höret
nimmer auf
So mancher, der auf einer Insel aufgewachsen ist, möchte dieses Lebensgefühl auch später nicht missen. Der 1975 auf Sardinien geborene Journalist und Schriftsteller Flavio Soriga hat in England, dem Sehnsuchtsland seiner Kindheit, eine zweite Heimat gefunden. Zum Auftakt seines preisgekrönten Erzählbandes schildert er seine Jugend bei Cagliari, verbotene Träume und erste erotische Erfahrungen, das Ehedrama der Eltern und die Liebesnöte des Dorfpfarrers, den eigenen Aufbruch und die Probleme des besten Freundes.
Die übrigen sieben Geschichten spielen in London oder in Rom, in der Toskana oder in einem namenlosen südamerikanischen Staat, und sie alle handeln von der Magie der Liebe, von der man wohl nur mit mediterranem Überschwang noch so erzählen kann, als wäre sie das Wichtigste auf der Welt.
Kristina Maidt-Zinke
Freiheit
und Ekstase
Paris, 198x. Der Tod seines Katers stürzt den 30-jährigen Arthur K. in Depressionen. Nichts ist von Dauer! Der „creative head“ einer Werbeagentur empfindet Arbeit und Ehe zunehmend als Gefängnis. Freiheit! Das Wort taucht an zentralen Stellen von Michael Kleebergs Novelle auf. Zufällig stößt K. in seinem Minitel-Service – Vorläufer des Internets in Frankreich – auf ein Sadomaso-Forum. Er wählt „BARFUSS“ zum Pseudonym. Einer, der keine Schuhe anhat, ist schutzlos, aber auch frei. Daniel, ein Intellektueller, wird sein Herr. Er predigt pure Ekstase. Der elegant komponierte Text, durch den Kafka und M. Foucault heimlich geistern, entfaltet einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Irritiert verfolgt man den inneren Kampf K.s gegen das stetig größer werdende Verlangen, alle Konventionen hinter sich zu lassen und sich im körperlichen Schmerz zu verlieren. Florian Welle
Italo Svevo:
Zenos Gewissen. Aus dem Ital. von Barbara Kleiner. Diogenes, Zürich 2010. 622 Seiten, 12,90 Euro.
Dirk Wittenborn:
Bongo-Europa. Übersetzt von Angela Praesent. Dumont, Köln 2010. 77 S., 7,95 Euro.
Sten Nadolny/ Jens Sparschuh:
Putz- und Flickstunde. Piper Verlag, München 2010, 208 S.,
8,95 Euro.
Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2010. 552 S., 14,95 Euro.
Flavio
Soriga:
Die Liebe in London und anderswo. Üs. von V. v. Schirach. Luchterhand, 2010. 176 S. 8 Euro
Michael
Kleeberg:Barfuß.
Novelle. dtv,
München 2010.
158 Seiten, 9,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Italo Svevo setzt Ereignis an
Ereignis in „Zenos Gewissen“
Große Sätze, markante Aphorismen, Tiefsinniges haufenweise gibt es in diesem Buch: „Wie doch das Wort die Zeit überwindet“, tönt der Erzähler, „selbst Ereignis, schließt es an Ereignis an.“ Gleichsam um diese Sätze zu deuten, versucht er dann gleich sie durch seine Erlebnisse in der Wirklichkeit zu verifizieren. Und verzettelt sich dabei, wendet die Klarheit der Gedanken ins Konfuse, Banale, also: ins Lebendige.
Ein Ereignis war, als er 1923 erschien, Italo Svevos Roman „La coscienza di Zeno/Zenos Gewissen“ (das italienische coscienza kann auch Bewusstsein bedeuten). Ein kleines Comeback, ein Vierteljahrhundert hatte der Autor Italo Svevo aus Triest (eigentlich: Ettore Schmitz, der sich im Pseudonym zum „italienischen Schwaben“ machte) das Schreiben gelassen – 1892 und 1898 hatte er seine ersten beiden Romane veröffentlicht, „Ein Leben“ und „Ein Mann wird älter“, auf eigene Kosten und ohne öffentliche Resonanz, also managte er nun die Firma seines Schwiegervaters. Einen Motivationsschub erteilte James Joyce, der sich in Triest als Sprachlehrer durchschlug und auch Italo Svevo fit machen sollte für Geschäftsverhandlungen in London. Joyce zettelte in Frankreich begeisterte Reaktionen auf den „Zeno“ an.
Gewissensprüfung, Selbstfindung, die Literatur musste zu Beginn des 20. Jahrhunderts nun auf all ihre großartigen Ansprüche verzichten. Schon wie der gute alte Zeno über sein großes Laster, das Rauchen schreibt, die ganze Sophisterei von Abgewöhnen und Wiederanfangen, ist ein Meisterstückchen der Moderne, die sich nicht damit begnügt, beim Verfertigen der Gedanken zuzuschauen, sondern auch beim Auseinandernehmen. Auch seine Frauengeschichten zerredet Zeno, ob Ehe oder Liebelei. Der Mensch kriegt seine Krankheiten nicht mehr los, seit er sich immer neue Werkzeuge konstruiert – das weiß wohl auch die Psychoanalyse. „Vielleicht“, so die bittere Erkenntnis am Ende, datiert vom März 1916, „werden wir durch eine unerhörte, von den Werkzeugen verursachte Katastrophe zur Gesundheit zurückfinden.“
Fritz Göttler
Ach, Amerika,
ach, Europa!
Mit „Unter Wilden“ (2002) wurde der 58-jährige Amerikaner Dirk Wittenborn als lakonischer Chronist der geistig und moralisch maroden New Yorker Upperclass auch in Europa bekannt. Das nun als Taschenbuch vorliegende „Bongo Europa“ von 2006 schildert die Europa-Reise eines kultivierten amerikanischen Psychologen-Paars und seiner beiden Söhne 1964. Das liegt lang genug zurück, um ein paar Scherze aus den noch nicht vom Internet nivellierten Unterschieden zwischen dem verklemmten Amerika und dem freizügigen Europa zu machen. Problematisch ist nicht, dass in „Bongo Europa“ so getan wird, als sei es selbstverständlich, dass ein altkluger, frühreifer, von unerwarteten Erektionen gepeinigter Zwölfjähriger Wörter wie „gastrointestinal“ benutzt. Problematisch ist, dass Wittenborn davon überzeugt gewesen sein muss, das sei ein guter Witz. Ist es aber leider nicht.
Jens-Christian Rabe
Die Sache
war immer ernst
„Am allerwenigsten hatten wir . . . Angst vor der Nato“, sagt Jens Sparschuh. Die Natosoldaten hatten in den Lehrfilmen der Nationalen Volksarmee der DDR, in der er dienen musste, „immer so verschwommene Gesichter“. Sten Nadolny, seinerzeit auf der Natoseite überzeugter Fernmelder mit freiwilliger Verlängerung der Dienstzeit „aus finanziellen Gründen“, glaubte, die „Demokratie verteidigen“ zu müssen, und dass man beim Militär „noch schneller ein richtiger Mann“ würde. Die beiden erzählen sich die Merkwürdigkeiten ihres Soldatenlebens diesseits und jenseits der Zonengrenze so kurzweilig und aufschlussreich, dass man häufig lachen muss, oft aber eher unheimlich berührt ist von jenen Vorstellungen, die als Kalter Krieg nicht nur in die Weltgeschichte eingegangen sind, sondern auch in den Köpfen zweier Jungmänner spukten, die berühmte Schriftssteller wurden. Harald Eggebrecht
Wer lesen konnte, war
Teil des Systems
Neben seiner Tätigkeit als Direktor der Duisburger Stadtbibliothek beschäftigt sich der Historiker Jan-Pieter Barbian intensiv mit dem Literaturbetrieb im Nationalsozialismus. In seinem Buch „Literaturpolitik im NS-Staat. Von der ,Gleichschaltung‘ bis zum Ruin“ präsentiert er sein enzyklopädisches Wissen über Personen, Institutionen und Verbände, die zwischen 1933 und 1945 die Mediendiktatur errichteten und verwalteten. Selbstredend führt er auch die Opfer dieser Politik, die Schriftsteller, auf und beschreibt ihre Schicksale. Kein Detail scheint Barbian auszublenden, wenn er etwa die Intrigen und das Postengerangel innerhalb des braunen Regimes beleuchtet. Er stützt seine ganze Arbeit auf Originalquellen – der Mann muss jahrelang die Archive durchforstet haben.
Ermittelte Zahlen setzt Barbian in einem sinnvollen Maß ein wie die erfassten Zitate. Sie machen den Zynismus anschaulich, mit dem Goebbels und seine Gefolgsleute die deutsche Literatur und ihre Anwendbarkeit bis in die kleinsten Stadt- und Schulbibliotheken hinein steuerten. Im Kapitel über die Kontrolle der Schriftsteller werden die Auswirkungen am besonders deutlich geschildert. Ludwig Fulda wurde 1941 in den Selbstmord getrieben, Erich Kästner bekam Schreibverbot – und das sind nur zwei von sehr vielen Beispielen. Andere ließ Goebbels trotz ihrer kritischen Haltung weiterarbeiten, um sie zu instrumentalisieren. Ebenso wird bei der Lektüre dieser Abhandlung deutlich, dass außer den Bibliothekaren, die im braunen Hemd auftraten, irgendwie alle, die nicht dagegen opponierten, zumindest stillschweigend an diesem System beteiligt waren. Alle, die mit Literatur arbeiteten und die sie nutzten, also auch der ganz normale Bibliotheksbesucher. Es kann schließlich keinem entgangen sein, dass die Regale immer leerer wurden, weil die Nationalsozialisten die Bücher verbrannten.
Jan-Pieter Barbian hinterlässt den Leser am Ende mit dem Gefühl, alles über Literaturpolitik unter Hitler und sehr viel über diese Zeit in Deutschland erfahren zu haben.
Rudolf Neumaier
Die Liebe höret
nimmer auf
So mancher, der auf einer Insel aufgewachsen ist, möchte dieses Lebensgefühl auch später nicht missen. Der 1975 auf Sardinien geborene Journalist und Schriftsteller Flavio Soriga hat in England, dem Sehnsuchtsland seiner Kindheit, eine zweite Heimat gefunden. Zum Auftakt seines preisgekrönten Erzählbandes schildert er seine Jugend bei Cagliari, verbotene Träume und erste erotische Erfahrungen, das Ehedrama der Eltern und die Liebesnöte des Dorfpfarrers, den eigenen Aufbruch und die Probleme des besten Freundes.
Die übrigen sieben Geschichten spielen in London oder in Rom, in der Toskana oder in einem namenlosen südamerikanischen Staat, und sie alle handeln von der Magie der Liebe, von der man wohl nur mit mediterranem Überschwang noch so erzählen kann, als wäre sie das Wichtigste auf der Welt.
Kristina Maidt-Zinke
Freiheit
und Ekstase
Paris, 198x. Der Tod seines Katers stürzt den 30-jährigen Arthur K. in Depressionen. Nichts ist von Dauer! Der „creative head“ einer Werbeagentur empfindet Arbeit und Ehe zunehmend als Gefängnis. Freiheit! Das Wort taucht an zentralen Stellen von Michael Kleebergs Novelle auf. Zufällig stößt K. in seinem Minitel-Service – Vorläufer des Internets in Frankreich – auf ein Sadomaso-Forum. Er wählt „BARFUSS“ zum Pseudonym. Einer, der keine Schuhe anhat, ist schutzlos, aber auch frei. Daniel, ein Intellektueller, wird sein Herr. Er predigt pure Ekstase. Der elegant komponierte Text, durch den Kafka und M. Foucault heimlich geistern, entfaltet einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Irritiert verfolgt man den inneren Kampf K.s gegen das stetig größer werdende Verlangen, alle Konventionen hinter sich zu lassen und sich im körperlichen Schmerz zu verlieren. Florian Welle
Italo Svevo:
Zenos Gewissen. Aus dem Ital. von Barbara Kleiner. Diogenes, Zürich 2010. 622 Seiten, 12,90 Euro.
Dirk Wittenborn:
Bongo-Europa. Übersetzt von Angela Praesent. Dumont, Köln 2010. 77 S., 7,95 Euro.
Sten Nadolny/ Jens Sparschuh:
Putz- und Flickstunde. Piper Verlag, München 2010, 208 S.,
8,95 Euro.
Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2010. 552 S., 14,95 Euro.
Flavio
Soriga:
Die Liebe in London und anderswo. Üs. von V. v. Schirach. Luchterhand, 2010. 176 S. 8 Euro
Michael
Kleeberg:Barfuß.
Novelle. dtv,
München 2010.
158 Seiten, 9,90 Euro.
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»Vergesst verderbliche Ware und lest den zeitlos-modernen Italo Svevo.« Elmar Krekeler / Die Welt Die Welt