Für manche Menschen ist jede Zeit eine Zeit der Gefahr, in der das Leben intensiver wird, sich konzentriert auf den gegenwärtigen Augenblick, das Jetzt. Lebenshunger zeichnet sie aus und eine Unersättlichkeit, der fast alles geopfert wird.
Stein, österreicher in Kalifornien, der zwischen Neuer und Alter Welt pendelt, ist einer dieser ängstlich Verwegenen. Er lädt Stéphane, seinen Freund aus Pariser Studententagen, zu dessen fünfzigstem Geburtstag an die Westküste ein. Ihr einwöchiges Zusammensein wird zu einer Fahrt ins Blaue, einem Erinnerungs- und Bilanztrip, der sie zuletzt in das Kasino Viejas führt. Stéphane schreibt dort einen Brief an die verlorenen Menschen seines Lebens, in dem er jede Untreue und Herzlosigkeit einräumt und sich für nichts entschuldigt. Die Freunde, die außer der Vergangenheit und ihrem Hunger nicht viel verbindet, sprechen einander Mut zu. Vieles war falsch, aber die Fahrt der zwei schrägen Vögel Richtung Hölle geht weiter.
Einmal in Paris, genau dort, wo Stein vor nicht allzu langer Zeit mit der jungen Sophie, die »reine Zerbrechlichkeit« war, in einem endlos langen Kuß vereint gestanden hatte, stürzten bei Erdarbeiten Särge und Skelette ans Licht. »Wer waren die Toten der Place Baudoyer?« wunderte sich Stein. »Er ergriff Sophies Hand, und sie verließen die gaffende Menge. Festlichkeit erfüllte ihn.« »Denn diese Toten, sie sprechen zu ihm: Kümmere dich, jetzt ist die Zeit zu leben.«
Kindlich genug, fragt ein nicht mehr junger Mann, warum die Welt nicht so ist, wie er sie haben will. Rastlos fliegt Stein zwischen Amerika und Europa hin und her. Hellwach, aber unbelehrbar folgt er seiner Augenblickslust, die, wie bekannt, Ewigkeit will, in jedes neue Abenteuer. Bis der Besuch eines Freundes aus Paris ihn zum Stocken bringt.
Stein, österreicher in Kalifornien, der zwischen Neuer und Alter Welt pendelt, ist einer dieser ängstlich Verwegenen. Er lädt Stéphane, seinen Freund aus Pariser Studententagen, zu dessen fünfzigstem Geburtstag an die Westküste ein. Ihr einwöchiges Zusammensein wird zu einer Fahrt ins Blaue, einem Erinnerungs- und Bilanztrip, der sie zuletzt in das Kasino Viejas führt. Stéphane schreibt dort einen Brief an die verlorenen Menschen seines Lebens, in dem er jede Untreue und Herzlosigkeit einräumt und sich für nichts entschuldigt. Die Freunde, die außer der Vergangenheit und ihrem Hunger nicht viel verbindet, sprechen einander Mut zu. Vieles war falsch, aber die Fahrt der zwei schrägen Vögel Richtung Hölle geht weiter.
Einmal in Paris, genau dort, wo Stein vor nicht allzu langer Zeit mit der jungen Sophie, die »reine Zerbrechlichkeit« war, in einem endlos langen Kuß vereint gestanden hatte, stürzten bei Erdarbeiten Särge und Skelette ans Licht. »Wer waren die Toten der Place Baudoyer?« wunderte sich Stein. »Er ergriff Sophies Hand, und sie verließen die gaffende Menge. Festlichkeit erfüllte ihn.« »Denn diese Toten, sie sprechen zu ihm: Kümmere dich, jetzt ist die Zeit zu leben.«
Kindlich genug, fragt ein nicht mehr junger Mann, warum die Welt nicht so ist, wie er sie haben will. Rastlos fliegt Stein zwischen Amerika und Europa hin und her. Hellwach, aber unbelehrbar folgt er seiner Augenblickslust, die, wie bekannt, Ewigkeit will, in jedes neue Abenteuer. Bis der Besuch eines Freundes aus Paris ihn zum Stocken bringt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2002Es fällt der Stein, und er zerbricht
Flieg, lahme Schildkröte, flieg: Erich Wolfgang Skwara verteidigt das Recht auf Absturz
So müde und misanthropisch hat schon lange keiner mehr einen Roman angefangen und sein untröstliches Programm vom ersten bis zum letzten Satz durchgehalten: „Die Dinge, die bald verschwinden würden, festzuhalten, es war ein unmögliches Unterfangen, und doch schien kein anderes der Mühe wert. Auf Menschen musste man dabei nicht zählen.” Das sitzt wie ein Schlag ins Literaturkontor, das jede Schwere, die sich den leichtfüßigen Regeln des Betriebs verweigert, mit der Vertreibung von der Prosecco-Bar ahndet: „Wenn Stein” – so heißt der bleischwere Held des neuen Romans von Erich Wolfgang Skwara – „einen Roman schriebe, würde er durchfallen bei der Kritik und allen Lesern.” Aber Stein schreibt keinen Roman, Stein schreibt nicht einmal eine Novelle, Stein schreibt gar nichts, und der Erzähler nennt uns auch den Grund: „Schreiben war Sehnsucht, und es gab in der Welt keine Sehnsucht mehr.” Das klingt wehleidig, und ist es auch, doch von Geigenklängen wird dieser Roman zum Glück nicht an jeder Stelle untermalt. Und außerdem: Seit wann müsste sich die Literatur für ihre angeborene Schmerzempfindlichkeit rechtfertigen?
Erich Wolfgang Skwara, 1948 in Salzburg geboren und schon lange fern von Österreich, in San Diego und Paris lebend, schreibt seit einem Vierteljahrhundert schwerblütige Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Daneben übersetzte er Werke von Tennessee Williams, Thomas Wolfe, Jean-Jacques Rousseau und Gustave Flaubert ins Deutsche. In den achtziger Jahren promovierte Skwara mit der ersten größeren Arbeit über den Exilautor Hans Sahl, dem er in New York begegnet war, als man ihn in Deutschland längst vergessen hatte. Außerdem ist Skwara, dem am heutigen Tag der Hermann-Lenz-Preis – kein Preis für leichte Literatur – verliehen wird, Literaturprofessor in San Diego. Die Berufung für die überflüssigen Dinge teilt er mit Stein, über den Skwara den Roman mit dem Titel „Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer” geschrieben hat.
Das Recht auf Schwermut
Stein ist einer, für den das Leben und sogar das Lesen von Büchern Schwerstarbeit ist, ein Zeitbetrüger, ein Rückwärtsgänger, ein ewig Wartender, ein permanent Abwesender, der auf Vergangenheit bestand und auf das „Recht auf Schwermut eines jeden”, auch wenn er wie jeder ordentliche Narziss vorzugsweise mit den Dramen seines eigenen Kopfes befasst ist. Als schonungsloser Beobachter seiner selbst weiß er jedoch nicht nur um die eigene Fragilität, sondern auch um die Zerbrechlichkeit der Menschen und Dinge, die ihn umgeben. Wenn er liebt – und die Frauen liebt er nicht weniger als die Städte –, so liebt er auf den letzten Blick, denn diese Liebe hält länger. So lange wie der Schmerz, von dem es heißt, dass er Stein immer erst dann erreichte, „wenn andere Menschen schon mit dem Vergessen beschäftigt waren”. Einen sterbenden Schwan wollen wir ihn nicht nennen, denn dafür ist er nicht mehr jung und nicht mehr schön genug, doch kehrt mit ihm eine Figur in die Literatur zurück, die zum Stammpersonal des modernen Romans gehört: der Dandy, der ewige Durchgänger einer jeden zu Tode gelangweilten Epoche. Nur führt er keine lahmen Schildkröten mehr spazieren, sondern benutzt die schnellen Fortbewegungsmittel. Aber wie seine Vorgänger weiß er, dass die Zeit gar keine Wunden heilt.
„Ich bin nur ein Kind meiner Zeit, das leidet”, lautet seit Alfred de Mussets „Bekenntnissen eines jungen Zeitgenossen” aus dem Jahr 1836 die Schmerzensmelodie des Dandy, in dessen Nachfolge sich aller Generationen Müdigkeiten im europäischen Roman versammeln. Aber etwas muss sich seither verändert haben, denn „ein Kind seiner Zeit” zu sein, heißt für Stein, der zwischen den Betten und Kongressen dieser Welt hin und her hetzt, „treu in der Fünfminutendimension” zu leben und zu leiden. Und er ist auch kein junger Zeitgenosse mehr, sondern teilt mit seinem Sparringspartner Stéphane die Zugehörigkeit zu einer Generation von Frühvergreisten: Beide, so heißt es frei nach Italo Svevo, seien einander durch „jugendliche Senilität” verbunden.
Mit Stéphane begibt sich Stein zur Feier von dessen fünfzigstem Geburtstag auf eine Reise ohne Ziel. Genau genommen führt sie durch Südkalifornien, aber das ist beim näheren Hinsehen, das sich sogar der Ausblicke vom Observatorium auf dem Mount Palomar bedient, gar nicht so wichtig, denn in Wirklichkeit führt die Reise in die Vergangenheit und in die Imaginations- und Erinnerungsräume alter europäischer Städte.
Vor allem Paris und Lucca haben es Stein angetan, und die Übergänge zwischen den Romanepisoden werden im Fluss der Erzählung, die probehalber – als würde Stein zum Zeitpunkt einer bereits vergangenen Zukunft seinen eigenen Roman schreiben – auch einmal in die Ich-Form wechselt, wie im Flug, einmal sogar tatsächlich im Flug genommen: In einem fulminant geschilderten Wettlauf mit der Zeit zwischen Paris, London und wieder zurück rettet Stein seine Geliebte, die nach einem Selbstmordversuch hilflos im Koma liegt. Aber verlieren tut er sie doch.
Nur wer die Sehnsucht kennt
Was bleibt? Ein langer, langer Kuss zwischen Stein und Sophie an einem neunten Juli auf der Place Baudoyer im Marais und die Erinnerung an die Toten, die die beiden Verliebten zwei Tage darauf am Ort ihres ersten Kusses zu sehen bekommen: Sie stehen vor einem Absperrgitter, dahinter Baukräne menschliche Gebeine aus dem Erdboden ausheben, knochige Überreste eines längst vergangenen Geschlechts von Seine-Fischern aus karolingischen Zeiten. Einige fallen aus ihren Särgen, als sich die Greifarme der Baukräne heben. Stein bezieht aus dem Erlebnis ein tiefes Gefühl für die Dauer eines Kusses, der zu diesem Zeitpunkt bereits Erinnerung war: „Die Toten der Place Baudoyer hatten sie gemeinsam entdeckt. Es war ein Fliegen, das mit dem Absturz enden musste.” Und die Erinnerung, wie lange mag sie dauern? „Der Tag war nicht fern, an dem sie zum Zweifel wurde, habe ich dich wirklich umarmt, hat es dich wirklich gegeben?”
Alles fällt, und so viel Schwere wurde schon lange nicht mehr geschildert, dazu noch wörtlich genommen und in eine zeitgemäße Emblematik gefasst, die Stein und seiner Lebensweise – immer im Flug – angepasst ist. Absturz ist der Wunsch aller Masse, und allen festen Körpern eignet die Zerbrechlichkeit. Schon Baudelaire hatte den Dandy mit einem „fallenden Stern” verglichen. Doch welch fallender Narziss, welch stürzender Ikarus könnte strahlender und kälter sein als ein Überschallflieger? „lasst die Concorde wieder fliegen!” Mit diesem Aufschrei endet Skwaras Roman: „Sie hatte ein Recht auf ihren Absturz! Menschen und Dinge haben das Recht auf ihr Zerbrechen! Und jeder Bankrott wird zum Sieg, wenn wir ihn nur mit eigener Stimme eingestehen.” Das ist heroisch. Also gibt es doch noch Sehnsucht in der Welt. Und das Schreiben von Literatur kann nicht völlig verloren sein. VOLKER BREIDECKER
ERICH WOLFGANG SKWARA: Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer. Insel Verlag Frankfurt am Main 2002. 303 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Flieg, lahme Schildkröte, flieg: Erich Wolfgang Skwara verteidigt das Recht auf Absturz
So müde und misanthropisch hat schon lange keiner mehr einen Roman angefangen und sein untröstliches Programm vom ersten bis zum letzten Satz durchgehalten: „Die Dinge, die bald verschwinden würden, festzuhalten, es war ein unmögliches Unterfangen, und doch schien kein anderes der Mühe wert. Auf Menschen musste man dabei nicht zählen.” Das sitzt wie ein Schlag ins Literaturkontor, das jede Schwere, die sich den leichtfüßigen Regeln des Betriebs verweigert, mit der Vertreibung von der Prosecco-Bar ahndet: „Wenn Stein” – so heißt der bleischwere Held des neuen Romans von Erich Wolfgang Skwara – „einen Roman schriebe, würde er durchfallen bei der Kritik und allen Lesern.” Aber Stein schreibt keinen Roman, Stein schreibt nicht einmal eine Novelle, Stein schreibt gar nichts, und der Erzähler nennt uns auch den Grund: „Schreiben war Sehnsucht, und es gab in der Welt keine Sehnsucht mehr.” Das klingt wehleidig, und ist es auch, doch von Geigenklängen wird dieser Roman zum Glück nicht an jeder Stelle untermalt. Und außerdem: Seit wann müsste sich die Literatur für ihre angeborene Schmerzempfindlichkeit rechtfertigen?
Erich Wolfgang Skwara, 1948 in Salzburg geboren und schon lange fern von Österreich, in San Diego und Paris lebend, schreibt seit einem Vierteljahrhundert schwerblütige Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Daneben übersetzte er Werke von Tennessee Williams, Thomas Wolfe, Jean-Jacques Rousseau und Gustave Flaubert ins Deutsche. In den achtziger Jahren promovierte Skwara mit der ersten größeren Arbeit über den Exilautor Hans Sahl, dem er in New York begegnet war, als man ihn in Deutschland längst vergessen hatte. Außerdem ist Skwara, dem am heutigen Tag der Hermann-Lenz-Preis – kein Preis für leichte Literatur – verliehen wird, Literaturprofessor in San Diego. Die Berufung für die überflüssigen Dinge teilt er mit Stein, über den Skwara den Roman mit dem Titel „Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer” geschrieben hat.
Das Recht auf Schwermut
Stein ist einer, für den das Leben und sogar das Lesen von Büchern Schwerstarbeit ist, ein Zeitbetrüger, ein Rückwärtsgänger, ein ewig Wartender, ein permanent Abwesender, der auf Vergangenheit bestand und auf das „Recht auf Schwermut eines jeden”, auch wenn er wie jeder ordentliche Narziss vorzugsweise mit den Dramen seines eigenen Kopfes befasst ist. Als schonungsloser Beobachter seiner selbst weiß er jedoch nicht nur um die eigene Fragilität, sondern auch um die Zerbrechlichkeit der Menschen und Dinge, die ihn umgeben. Wenn er liebt – und die Frauen liebt er nicht weniger als die Städte –, so liebt er auf den letzten Blick, denn diese Liebe hält länger. So lange wie der Schmerz, von dem es heißt, dass er Stein immer erst dann erreichte, „wenn andere Menschen schon mit dem Vergessen beschäftigt waren”. Einen sterbenden Schwan wollen wir ihn nicht nennen, denn dafür ist er nicht mehr jung und nicht mehr schön genug, doch kehrt mit ihm eine Figur in die Literatur zurück, die zum Stammpersonal des modernen Romans gehört: der Dandy, der ewige Durchgänger einer jeden zu Tode gelangweilten Epoche. Nur führt er keine lahmen Schildkröten mehr spazieren, sondern benutzt die schnellen Fortbewegungsmittel. Aber wie seine Vorgänger weiß er, dass die Zeit gar keine Wunden heilt.
„Ich bin nur ein Kind meiner Zeit, das leidet”, lautet seit Alfred de Mussets „Bekenntnissen eines jungen Zeitgenossen” aus dem Jahr 1836 die Schmerzensmelodie des Dandy, in dessen Nachfolge sich aller Generationen Müdigkeiten im europäischen Roman versammeln. Aber etwas muss sich seither verändert haben, denn „ein Kind seiner Zeit” zu sein, heißt für Stein, der zwischen den Betten und Kongressen dieser Welt hin und her hetzt, „treu in der Fünfminutendimension” zu leben und zu leiden. Und er ist auch kein junger Zeitgenosse mehr, sondern teilt mit seinem Sparringspartner Stéphane die Zugehörigkeit zu einer Generation von Frühvergreisten: Beide, so heißt es frei nach Italo Svevo, seien einander durch „jugendliche Senilität” verbunden.
Mit Stéphane begibt sich Stein zur Feier von dessen fünfzigstem Geburtstag auf eine Reise ohne Ziel. Genau genommen führt sie durch Südkalifornien, aber das ist beim näheren Hinsehen, das sich sogar der Ausblicke vom Observatorium auf dem Mount Palomar bedient, gar nicht so wichtig, denn in Wirklichkeit führt die Reise in die Vergangenheit und in die Imaginations- und Erinnerungsräume alter europäischer Städte.
Vor allem Paris und Lucca haben es Stein angetan, und die Übergänge zwischen den Romanepisoden werden im Fluss der Erzählung, die probehalber – als würde Stein zum Zeitpunkt einer bereits vergangenen Zukunft seinen eigenen Roman schreiben – auch einmal in die Ich-Form wechselt, wie im Flug, einmal sogar tatsächlich im Flug genommen: In einem fulminant geschilderten Wettlauf mit der Zeit zwischen Paris, London und wieder zurück rettet Stein seine Geliebte, die nach einem Selbstmordversuch hilflos im Koma liegt. Aber verlieren tut er sie doch.
Nur wer die Sehnsucht kennt
Was bleibt? Ein langer, langer Kuss zwischen Stein und Sophie an einem neunten Juli auf der Place Baudoyer im Marais und die Erinnerung an die Toten, die die beiden Verliebten zwei Tage darauf am Ort ihres ersten Kusses zu sehen bekommen: Sie stehen vor einem Absperrgitter, dahinter Baukräne menschliche Gebeine aus dem Erdboden ausheben, knochige Überreste eines längst vergangenen Geschlechts von Seine-Fischern aus karolingischen Zeiten. Einige fallen aus ihren Särgen, als sich die Greifarme der Baukräne heben. Stein bezieht aus dem Erlebnis ein tiefes Gefühl für die Dauer eines Kusses, der zu diesem Zeitpunkt bereits Erinnerung war: „Die Toten der Place Baudoyer hatten sie gemeinsam entdeckt. Es war ein Fliegen, das mit dem Absturz enden musste.” Und die Erinnerung, wie lange mag sie dauern? „Der Tag war nicht fern, an dem sie zum Zweifel wurde, habe ich dich wirklich umarmt, hat es dich wirklich gegeben?”
Alles fällt, und so viel Schwere wurde schon lange nicht mehr geschildert, dazu noch wörtlich genommen und in eine zeitgemäße Emblematik gefasst, die Stein und seiner Lebensweise – immer im Flug – angepasst ist. Absturz ist der Wunsch aller Masse, und allen festen Körpern eignet die Zerbrechlichkeit. Schon Baudelaire hatte den Dandy mit einem „fallenden Stern” verglichen. Doch welch fallender Narziss, welch stürzender Ikarus könnte strahlender und kälter sein als ein Überschallflieger? „lasst die Concorde wieder fliegen!” Mit diesem Aufschrei endet Skwaras Roman: „Sie hatte ein Recht auf ihren Absturz! Menschen und Dinge haben das Recht auf ihr Zerbrechen! Und jeder Bankrott wird zum Sieg, wenn wir ihn nur mit eigener Stimme eingestehen.” Das ist heroisch. Also gibt es doch noch Sehnsucht in der Welt. Und das Schreiben von Literatur kann nicht völlig verloren sein. VOLKER BREIDECKER
ERICH WOLFGANG SKWARA: Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer. Insel Verlag Frankfurt am Main 2002. 303 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Der Untergeher, der Hinreißer
Unser aller Maudit: Über den Erzähler Erich Wolfgang Skwara / Von Martin Walser
Am liebsten würde ich sagen: Das ist der wahre Beckett. Verglichen mit diesem Buch, kommt mir die Beckett-Prosa (nicht sein Theater) vor wie ein Motorfahrzeug mit Getriebeschaden, es steht, läßt sich nicht mehr bewegen, aber der Motor läßt sich auch nicht mehr abstellen, er läuft, bis der Tank leer ist. Das wäre der Prosa-Beckett. Das Skwara-Buch erzählt kundig, hell, gesten- und farbenreich von Italien ebenso genau wie von Paris, von Südkalifornien oder vom Salzkammergut, ist aber an Nichtigkeitserfahrung kein bißchen gelinder als Beckett. Also eine Weltzersetzung bei vollkommener Weltpräsenz. Eine Gier nach Welt, die um so größer wird, je mehr die Welt sich weigert, dieser Gier zu entsprechen. Also keine Leerezelebrierung, sondern Verzweiflung in Hülle und Fülle.
Professor Steins Studienfreund Stéphane, jetzt Anwalt in Paris, kommt in die Zweimillionenstadt nach Südkalifornien zu Stein - so heißt (natürlich) der Zerbrechlichkeits-Held. Steins Frau ist zur Beerdigung ihres Vaters nach Kanada geflogen, die zwei Töchter sind außer Haus, Stein und Stéphane fahren herum, die Vergangenheit Steins verfolgt sie, verfolgt Stein, Skwara erzählt sie. Stein ist Professor für Literatur. Alle Eigenschaftswörter, die man ihm anhängen würde, wären zuviel. Er verzehrt sich, könnte man sagen. Er ist der negativste Romanheld, den ich kenne. Und schon stimmt das Eigenschaftswort nicht. So gierig nach gesteigertem Leben, das ist doch nicht negativ. Das ist eine unbehebbare Unglücksbedingung. Aber ist Unglück negativ? Professor Stein verzehrt sich. Mindestens zwei große Liebesgeschichten durchleidet er. Einmal mit dem TGV von Paris nach London zu einem Vortrag. Seine Geliebte Sophie bleibt in Paris, geht nicht ans Telefon, er rast sofort zurück, Selbstmordversuch, er rettet sie, verliert sie später, sensationsloser. Spannender als dieser Sophie-Roman, ergreifender kann nichts sein.
Das wäre in einem anderen Buch überhaupt der Roman geworden und geblieben. Aber hier fängt rücksichtslos einfach noch ein ganz anderer Roman an: Giovanni. Stein fühlt sich verabredet mit Giovanni. Als Sechzehnjähriger hat er den vierzehnjährigen Giovanni geliebt. Jetzt, Jahrzehnte später, wartet er auf Giovanni im Hotel Universo in einer vom Mauerring zusammengepreßten italienischen Kleinstadt, in der die Welt eingeteilt ist in dentro le mura und fuori le mura. Außer ihm wartet in der Hotelhalle noch ein Greis. Der wartet auf seine Verlobte Rosanna. Sozusagen immer schon. Und für immer. Er hat, um hier warten zu können, das Hotel gekauft. Stein wartet von Sonntag bis Dienstag um halb fünf. Er hält sich für verabredet. Auf wie viele Arten man unglücklich sein kann, erzählen die beiden Wartegeschichten.
Das Buch ist voll von genau erzählten Begebenheiten, es wird genauso italienisch wie kalifornisch wie französisch gegessen, getrunken, gesprochen, erlebt. Der Autor - und das ist überhaupt die Voraussetzung für die Zerbrechlichkeit - ist vollkommen weltkundig, aber seine brillante Weltkundigkeit führt zu absolut nichts. Er verzehrt sich. Er ist eine einzige Gier nach allem, nach Männern und Frauen. Aber er kann nicht leben. Nur verzehren kann er sich.
Wenn wir noch eine literarische Gesellschaft wären, dann würde dieses Buch dazu führen, alles, wofür man zwei Namen, zwei Biographien, zwei Menschen brauchte - de Sade und Masoch -, jetzt in einen Namen zu packen: Skwara. Der Skwaraismus ist die Leidenschaft, die ihre Unerfüllbarkeit zum Programm macht. Das Buch ist eine Hochmuts- und Erniedrigungsorgie. Das kann man, wenn man nicht anders kann, auch nicht mögen. Es ist ein Entsetzlichkeitskatalog, grell bebildert.
Verglichen mit diesem Österreicher Skwara, kommt mir Thomas Bernhard (in der Prosa, nicht in den Stücken) wie Folklore vor, hübsch böse, staatstragend böse. Bei Skwara läßt sich nichts auf die Österreicher oder die Deutschen schieben, wenn es auch an krassem Aufprall nicht fehlt, aber bei ihm landet alles bei ihm selber. Bei Bernhard sind es immer die anderen und nur die anderen. Bei Skwara ist es letzten Endes immer er selbst. Diesmal eben der Skwara-Professor Stein, der sich nach dem Leben Verzehrende, der in alles gierig Hineinbeißende, der in allem hemmungslos Untergehende, der von allem Angeekelte, der Unglückliche par excellence.
Ich habe von Erich Wolfgang Skwara gelesen "Schwarze Segelschiffe", "Pest in Siena", "Die heimlichen Könige", "Tristan Island" und "Anruf aus Rom". Ich habe mich immer wieder darüber gewundert, daß Skwara von unseren Kritikern durch Nicht-wahrgenommen-Werden auf eine vernichtende Weise geschont wird. Das Zerbrechlichkeits-Buch erklärt das. Man will bestätigt werden beim Lesen. Auch der Kritiker, der professionelle Leser will unwillkürlich einen Daseinsgewinn schöpfen aus einem Buch. Das ist verständlich. Aber weniger verständlich ist für mich, warum die Daseinssteigerung durch Lesen nicht auch im zutiefst Abträglichen stattfinden kann.
Da ich dann und wann ein Skwara-Leser bin und weiß, daß andere das offenbar nicht sein wollen, möchte ich verstehen, was da vorliegt. Die ästhetischen Größen Beckett und Bernhard vollbringen ihre Weltnegationen mit wenig Wirklichkeit, um die Wirklichkeit schlechtzumachen. Der negative Gestus ist viel eindrucksvoller als das Material, mit dem er sich vorführt. Das Material, der Stoff sind eher dürftig. Skwaras Unglücksfuror erinnert viel mehr an Strindberg, der vor lauter Unglücksandrang, der aber stofflich brutal weithaltig ist, den Ausdruck gar nicht mehr ästhetisch steuern kann und der so öfter zum bloßen Protokollanten des Unglücksandrangs wird. Strindberg und Skwara sind keine souveränen Verfertiger ästhetischer Genießbarkeiten. Sie gehen eher unter in ihren Unglücksmassen. Deshalb fühlt sich vielleicht dieser oder jener feine Geist bei souverän extremen Gesten mit harmlosen, fast keimfreien Stoffen wohler als bei dem immer bis ins Peinlichste hineingerissenen Skwara.
Einer, der zum Feinsten zählt, was die Szene hergibt, beendete einmal eine Unterhaltung über Skwara, bevor sie beginnen konnte, mit: "Quatsch". Skwara erzählt darauflos, das stimmt. Aber das kann er sich, weil er durch Erfahrung weltvoll, welthaltig ist, leisten. Aber es besteht dann nichts. Es bleibt nichts positiv. Seine Existenz ist eine Art Säure, die alles Begegnende auflöst. Dabei geht es aber durchaus prächtig zu oder spannend oder lasziv oder elend gemein. An Farben und Klängen ist kein Mangel, aber eben an Befriedigendem. Und das ist vielleicht das Abträgliche.
Diese und jene Kritikerrunde würde sich auf ihre literarischen Schenkel schlagen und, vielleicht von einem Schweizer Feinfachmann sekundiert, entscheiden: Taugt nichts. Und das stimmt, wenn man es genauer faßt: Es taugt nicht zu etwas. Aber zu nichts schon. Da taugt es ganz schön. Finde ich. Und will das keinem einreden. Aber gestehen darf ich, daß ich anfällig bin für den Roman, der das Dasein erzählt als eine Gier nach etwas, was es nicht gibt. Als eine unbelehrbare Gier. Eine Disposition zum Unglück. Wer keinen Spaß am Unglück hat, sollte dieses Buch nicht lesen. Und wer es braucht zu seiner Selbstbefriedigung und -steigerung, daß an der unbehebbaren Misere immer die anderen schuld sind (die Österreicher, die Deutschen und so weiter), der sollte natürlich Bernhard lesen. Verglichen mit Skwara, ist Bernhard die reine Entlastungsliteratur. Narzißmusfutter. Aber wer seine eigene Unersättlichkeit einmal im angemessensten, also im vernichtendsten Licht erleben will, für den ist das Zerbrechlichkeits-Buch genau das richtige.
Über Bücher zu urteilen ist leichter, als von der Wirkung eines Buches zu berichten. Aber Loben und Tadeln sagt fast gleich wenig über ein Buch. Wenn Kritik auf Werbung (positive oder negative) reduziert wird, ist das eben nicht mehr Kritik, sondern Werbung (positive oder negative). Welche Wirkung ein Buch auf einen Leser hat, das hängt mindestens so sehr vom Leser ab wie vom Buch. Die Wirkung, die ein Buch auf mich hat, sagt über mich so viel wie über das Buch. Wer über ein Buch im Urteils- oder Bewertungsjargon schreibt, tut so, als sei dieses Buch unter allen Umständen so, wie er sagt, daß es sei.
Mir kommt diese herrschende Praxis eher komisch vor. Man kann, wenn man anderen etwas mitteilen will, überhaupt nicht von den eigenen Umständen absehen. Man sollte sie nennen oder gestehen oder andeuten oder doch spürbar werden lassen. Man sollte nicht unerwähnt lassen, daß man es selber ist, der diese Wirkung dieses Buches ermöglichte. Das kann noch immer etwas heißen über das Buch. Aber daß das, was man über das Buch sagt, auch ein Bekenntnis ist, sollte nicht verschwiegen werden.
Also: Erich Wolfgang Skwara hat wahrscheinlich auf mich gewirkt, weil ich von der kunstfertigen Zubereitung der Menschenmisere genug habe. Ich spüre eine Chance in der Nichtzubereitung der Misere, die Existenz dominiert. Einmal keine Unglücksverfälschung der Literatur zuliebe. Ich habe die Wirkung schon gestanden: das Dasein erzählt als eine Gier nach etwas, was es nicht gibt. Wenn ich Skwara aus ästhetischen Gelungenheitsübungen heraushalte, entferne ich ihn kein bißchen aus der Literatur. Er wirkt zwar eher kunstlos, aber daß er dem Unbefriedigenden so radikal treu bleibt, macht ihn zum Schriftsteller. Die Geschriebenheit macht das Schlimmste zum Schönsten. Aber nur, wenn man das Schlimmste nicht ästhetisch verharmlost. Literatur zwingt auch noch das Entsetzlichste, einen weißen Schatten zu werfen. Aber nur, wenn man das Entsetzlichste nicht ästhetisch verharmlost. Der weiße Schatten ist natürlich um so weißer, je dichter, je weithaltiger schwarz vor Gegenständlichkeit die jeweilige Literatur ist. Deshalb ist die schimpfende Leere, die monologisierende Öde, die vorsätzliche Negativität weniger hell als die Vorführung der Weltfülle in ihrer gloriosen, ihrer nicht genug zu rühmenden Armseligkeit.
Erich Wolfgang Skwara: "Zerbrechlichkeit oder die Toten der Place Baudoyer". Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002. 296 S., geb., 19,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unser aller Maudit: Über den Erzähler Erich Wolfgang Skwara / Von Martin Walser
Am liebsten würde ich sagen: Das ist der wahre Beckett. Verglichen mit diesem Buch, kommt mir die Beckett-Prosa (nicht sein Theater) vor wie ein Motorfahrzeug mit Getriebeschaden, es steht, läßt sich nicht mehr bewegen, aber der Motor läßt sich auch nicht mehr abstellen, er läuft, bis der Tank leer ist. Das wäre der Prosa-Beckett. Das Skwara-Buch erzählt kundig, hell, gesten- und farbenreich von Italien ebenso genau wie von Paris, von Südkalifornien oder vom Salzkammergut, ist aber an Nichtigkeitserfahrung kein bißchen gelinder als Beckett. Also eine Weltzersetzung bei vollkommener Weltpräsenz. Eine Gier nach Welt, die um so größer wird, je mehr die Welt sich weigert, dieser Gier zu entsprechen. Also keine Leerezelebrierung, sondern Verzweiflung in Hülle und Fülle.
Professor Steins Studienfreund Stéphane, jetzt Anwalt in Paris, kommt in die Zweimillionenstadt nach Südkalifornien zu Stein - so heißt (natürlich) der Zerbrechlichkeits-Held. Steins Frau ist zur Beerdigung ihres Vaters nach Kanada geflogen, die zwei Töchter sind außer Haus, Stein und Stéphane fahren herum, die Vergangenheit Steins verfolgt sie, verfolgt Stein, Skwara erzählt sie. Stein ist Professor für Literatur. Alle Eigenschaftswörter, die man ihm anhängen würde, wären zuviel. Er verzehrt sich, könnte man sagen. Er ist der negativste Romanheld, den ich kenne. Und schon stimmt das Eigenschaftswort nicht. So gierig nach gesteigertem Leben, das ist doch nicht negativ. Das ist eine unbehebbare Unglücksbedingung. Aber ist Unglück negativ? Professor Stein verzehrt sich. Mindestens zwei große Liebesgeschichten durchleidet er. Einmal mit dem TGV von Paris nach London zu einem Vortrag. Seine Geliebte Sophie bleibt in Paris, geht nicht ans Telefon, er rast sofort zurück, Selbstmordversuch, er rettet sie, verliert sie später, sensationsloser. Spannender als dieser Sophie-Roman, ergreifender kann nichts sein.
Das wäre in einem anderen Buch überhaupt der Roman geworden und geblieben. Aber hier fängt rücksichtslos einfach noch ein ganz anderer Roman an: Giovanni. Stein fühlt sich verabredet mit Giovanni. Als Sechzehnjähriger hat er den vierzehnjährigen Giovanni geliebt. Jetzt, Jahrzehnte später, wartet er auf Giovanni im Hotel Universo in einer vom Mauerring zusammengepreßten italienischen Kleinstadt, in der die Welt eingeteilt ist in dentro le mura und fuori le mura. Außer ihm wartet in der Hotelhalle noch ein Greis. Der wartet auf seine Verlobte Rosanna. Sozusagen immer schon. Und für immer. Er hat, um hier warten zu können, das Hotel gekauft. Stein wartet von Sonntag bis Dienstag um halb fünf. Er hält sich für verabredet. Auf wie viele Arten man unglücklich sein kann, erzählen die beiden Wartegeschichten.
Das Buch ist voll von genau erzählten Begebenheiten, es wird genauso italienisch wie kalifornisch wie französisch gegessen, getrunken, gesprochen, erlebt. Der Autor - und das ist überhaupt die Voraussetzung für die Zerbrechlichkeit - ist vollkommen weltkundig, aber seine brillante Weltkundigkeit führt zu absolut nichts. Er verzehrt sich. Er ist eine einzige Gier nach allem, nach Männern und Frauen. Aber er kann nicht leben. Nur verzehren kann er sich.
Wenn wir noch eine literarische Gesellschaft wären, dann würde dieses Buch dazu führen, alles, wofür man zwei Namen, zwei Biographien, zwei Menschen brauchte - de Sade und Masoch -, jetzt in einen Namen zu packen: Skwara. Der Skwaraismus ist die Leidenschaft, die ihre Unerfüllbarkeit zum Programm macht. Das Buch ist eine Hochmuts- und Erniedrigungsorgie. Das kann man, wenn man nicht anders kann, auch nicht mögen. Es ist ein Entsetzlichkeitskatalog, grell bebildert.
Verglichen mit diesem Österreicher Skwara, kommt mir Thomas Bernhard (in der Prosa, nicht in den Stücken) wie Folklore vor, hübsch böse, staatstragend böse. Bei Skwara läßt sich nichts auf die Österreicher oder die Deutschen schieben, wenn es auch an krassem Aufprall nicht fehlt, aber bei ihm landet alles bei ihm selber. Bei Bernhard sind es immer die anderen und nur die anderen. Bei Skwara ist es letzten Endes immer er selbst. Diesmal eben der Skwara-Professor Stein, der sich nach dem Leben Verzehrende, der in alles gierig Hineinbeißende, der in allem hemmungslos Untergehende, der von allem Angeekelte, der Unglückliche par excellence.
Ich habe von Erich Wolfgang Skwara gelesen "Schwarze Segelschiffe", "Pest in Siena", "Die heimlichen Könige", "Tristan Island" und "Anruf aus Rom". Ich habe mich immer wieder darüber gewundert, daß Skwara von unseren Kritikern durch Nicht-wahrgenommen-Werden auf eine vernichtende Weise geschont wird. Das Zerbrechlichkeits-Buch erklärt das. Man will bestätigt werden beim Lesen. Auch der Kritiker, der professionelle Leser will unwillkürlich einen Daseinsgewinn schöpfen aus einem Buch. Das ist verständlich. Aber weniger verständlich ist für mich, warum die Daseinssteigerung durch Lesen nicht auch im zutiefst Abträglichen stattfinden kann.
Da ich dann und wann ein Skwara-Leser bin und weiß, daß andere das offenbar nicht sein wollen, möchte ich verstehen, was da vorliegt. Die ästhetischen Größen Beckett und Bernhard vollbringen ihre Weltnegationen mit wenig Wirklichkeit, um die Wirklichkeit schlechtzumachen. Der negative Gestus ist viel eindrucksvoller als das Material, mit dem er sich vorführt. Das Material, der Stoff sind eher dürftig. Skwaras Unglücksfuror erinnert viel mehr an Strindberg, der vor lauter Unglücksandrang, der aber stofflich brutal weithaltig ist, den Ausdruck gar nicht mehr ästhetisch steuern kann und der so öfter zum bloßen Protokollanten des Unglücksandrangs wird. Strindberg und Skwara sind keine souveränen Verfertiger ästhetischer Genießbarkeiten. Sie gehen eher unter in ihren Unglücksmassen. Deshalb fühlt sich vielleicht dieser oder jener feine Geist bei souverän extremen Gesten mit harmlosen, fast keimfreien Stoffen wohler als bei dem immer bis ins Peinlichste hineingerissenen Skwara.
Einer, der zum Feinsten zählt, was die Szene hergibt, beendete einmal eine Unterhaltung über Skwara, bevor sie beginnen konnte, mit: "Quatsch". Skwara erzählt darauflos, das stimmt. Aber das kann er sich, weil er durch Erfahrung weltvoll, welthaltig ist, leisten. Aber es besteht dann nichts. Es bleibt nichts positiv. Seine Existenz ist eine Art Säure, die alles Begegnende auflöst. Dabei geht es aber durchaus prächtig zu oder spannend oder lasziv oder elend gemein. An Farben und Klängen ist kein Mangel, aber eben an Befriedigendem. Und das ist vielleicht das Abträgliche.
Diese und jene Kritikerrunde würde sich auf ihre literarischen Schenkel schlagen und, vielleicht von einem Schweizer Feinfachmann sekundiert, entscheiden: Taugt nichts. Und das stimmt, wenn man es genauer faßt: Es taugt nicht zu etwas. Aber zu nichts schon. Da taugt es ganz schön. Finde ich. Und will das keinem einreden. Aber gestehen darf ich, daß ich anfällig bin für den Roman, der das Dasein erzählt als eine Gier nach etwas, was es nicht gibt. Als eine unbelehrbare Gier. Eine Disposition zum Unglück. Wer keinen Spaß am Unglück hat, sollte dieses Buch nicht lesen. Und wer es braucht zu seiner Selbstbefriedigung und -steigerung, daß an der unbehebbaren Misere immer die anderen schuld sind (die Österreicher, die Deutschen und so weiter), der sollte natürlich Bernhard lesen. Verglichen mit Skwara, ist Bernhard die reine Entlastungsliteratur. Narzißmusfutter. Aber wer seine eigene Unersättlichkeit einmal im angemessensten, also im vernichtendsten Licht erleben will, für den ist das Zerbrechlichkeits-Buch genau das richtige.
Über Bücher zu urteilen ist leichter, als von der Wirkung eines Buches zu berichten. Aber Loben und Tadeln sagt fast gleich wenig über ein Buch. Wenn Kritik auf Werbung (positive oder negative) reduziert wird, ist das eben nicht mehr Kritik, sondern Werbung (positive oder negative). Welche Wirkung ein Buch auf einen Leser hat, das hängt mindestens so sehr vom Leser ab wie vom Buch. Die Wirkung, die ein Buch auf mich hat, sagt über mich so viel wie über das Buch. Wer über ein Buch im Urteils- oder Bewertungsjargon schreibt, tut so, als sei dieses Buch unter allen Umständen so, wie er sagt, daß es sei.
Mir kommt diese herrschende Praxis eher komisch vor. Man kann, wenn man anderen etwas mitteilen will, überhaupt nicht von den eigenen Umständen absehen. Man sollte sie nennen oder gestehen oder andeuten oder doch spürbar werden lassen. Man sollte nicht unerwähnt lassen, daß man es selber ist, der diese Wirkung dieses Buches ermöglichte. Das kann noch immer etwas heißen über das Buch. Aber daß das, was man über das Buch sagt, auch ein Bekenntnis ist, sollte nicht verschwiegen werden.
Also: Erich Wolfgang Skwara hat wahrscheinlich auf mich gewirkt, weil ich von der kunstfertigen Zubereitung der Menschenmisere genug habe. Ich spüre eine Chance in der Nichtzubereitung der Misere, die Existenz dominiert. Einmal keine Unglücksverfälschung der Literatur zuliebe. Ich habe die Wirkung schon gestanden: das Dasein erzählt als eine Gier nach etwas, was es nicht gibt. Wenn ich Skwara aus ästhetischen Gelungenheitsübungen heraushalte, entferne ich ihn kein bißchen aus der Literatur. Er wirkt zwar eher kunstlos, aber daß er dem Unbefriedigenden so radikal treu bleibt, macht ihn zum Schriftsteller. Die Geschriebenheit macht das Schlimmste zum Schönsten. Aber nur, wenn man das Schlimmste nicht ästhetisch verharmlost. Literatur zwingt auch noch das Entsetzlichste, einen weißen Schatten zu werfen. Aber nur, wenn man das Entsetzlichste nicht ästhetisch verharmlost. Der weiße Schatten ist natürlich um so weißer, je dichter, je weithaltiger schwarz vor Gegenständlichkeit die jeweilige Literatur ist. Deshalb ist die schimpfende Leere, die monologisierende Öde, die vorsätzliche Negativität weniger hell als die Vorführung der Weltfülle in ihrer gloriosen, ihrer nicht genug zu rühmenden Armseligkeit.
Erich Wolfgang Skwara: "Zerbrechlichkeit oder die Toten der Place Baudoyer". Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002. 296 S., geb., 19,90
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Martin Walsers Weisung in der FAZ, diesen Autor über so erstklassige literarische Nihilisten wie Beckett und Bernhard zu stellen, will Andreas Breitenstein partout nicht folgen. Skwaras zwischen Euphorie und Depression pendelnde einsame Helden wie im vorliegenden Roman der Literaturdozent Stein, Breitenstein nennt sie "Reisende in Sachen eigener Befindlichkeit", illustrierten am Ende doch bloß die Midlife-Crisis des Autors. Zu wenig interpretatorische Freiheit bietet das Buch dem Leser, der Hang zum Schematischen, zum Wehleidigen (wo sich Leiden artikulieren müsste) verhindert die Verwandlung des Stoffes ins Allgemeine, meint der Rezensent. Was Breitenstein außerdem vermisst, findet er indessen sogar bei Walser: die Ironie als "zuverlässiges Widerlager" zum pathetischen Selbstbild der Figur.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH