WAS FALSCH WAR - WAS RICHTIG BLEIBT - WAS SICH ÄNDERN MUSS: EIN LEITFADEN DURCH DAS GEFÄHRLICHE KRISENBÜNDEL UNSERER ZEIT
Der Westen steckt in seiner schwersten Krise. Heinrich August Winkler analysiert die Ursachen und erklärt die Zusammenhänge. Mit seinem glasklar formulierten Buch gibt der berühmte Autor der "Geschichte des Westens" dem Leser einen politischen Kompass in die Hand, der dabei hilft, sich im ebenso verwirrenden wie gefährlichen Krisenbündel unserer Zeit zurechtzufinden.
Zerbricht der Westen? Finanzkrise, Flüchtlingsströme, Brexit, autoritäre Regime in der EU und an ihren Grenzen, dazu ein amerikanischer Präsident, der weltweit für tiefe Verunsicherung sorgt - Europa und Amerika haben mit so vielen Herausforderungen gleichzeitig zu kämpfen, dass Endzeitstimmung aufkommt. Gleichsam als "Geschichte auf Widerruf" beschreibt der wohl beste Kenner des Westens Schritt für Schritt die jüngsten Ereignisse - und er spart dabei nicht mit klaren Urteilen überdas, was falsch gelaufen ist, was richtig bleibt und was sich dringend ändern muss, wenn der Westen die Krise überwinden will.
Der Westen steckt in seiner schwersten Krise. Heinrich August Winkler analysiert die Ursachen und erklärt die Zusammenhänge. Mit seinem glasklar formulierten Buch gibt der berühmte Autor der "Geschichte des Westens" dem Leser einen politischen Kompass in die Hand, der dabei hilft, sich im ebenso verwirrenden wie gefährlichen Krisenbündel unserer Zeit zurechtzufinden.
Zerbricht der Westen? Finanzkrise, Flüchtlingsströme, Brexit, autoritäre Regime in der EU und an ihren Grenzen, dazu ein amerikanischer Präsident, der weltweit für tiefe Verunsicherung sorgt - Europa und Amerika haben mit so vielen Herausforderungen gleichzeitig zu kämpfen, dass Endzeitstimmung aufkommt. Gleichsam als "Geschichte auf Widerruf" beschreibt der wohl beste Kenner des Westens Schritt für Schritt die jüngsten Ereignisse - und er spart dabei nicht mit klaren Urteilen überdas, was falsch gelaufen ist, was richtig bleibt und was sich dringend ändern muss, wenn der Westen die Krise überwinden will.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.08.2017Verfangen im Labyrinth
Heinrich August Winkler analysiert die zahllosen Krisen in Europa und in den USA und fragt voller Sorge, ob der Westen zerbricht.
Doch was ist „der Westen“ eigentlich? Winklers Definition hat gewisse Tücken – und auch zwei seiner Schlussfolgerungen sind nicht unproblematisch
VON ANDREAS ZIELCKE
Wenn der Westen zu zerbrechen droht, müsste er zerbrechlich sein. Heinrich August Winkler betont aber beharrlich, dass „der Westen“ kein politisches Gebilde sei, keine feste Allianz, noch nicht einmal eine geografische Einheit – schließlich gehören, sagt er, auch Neuseeland und Australien zu ihm. Der Westen sei ein „normatives Projekt“. Kann ein normatives Projekt zerbrechen?
Diese Frage beinhaltet mehr als nur semantische Pedanterie. Ohne zu klären, welche reale und nicht nur normative Substanz mit dem Begriff des „Westens“ verbunden ist, kommt selbst ein so gehaltvolles Buch wie dieses in die Bredouille, es fehlt ein identifizierbarer roter Faden. So beschreibt es insbesondere die Krise der Europäischen Union außerordentlich detailliert, ja ihre akuten Probleme nehmen den größten Teil des Buchs ein. Doch keineswegs ist ausgemacht und auch nicht dargelegt, dass die Konstruktionsfehler der Euro-Zone oder die Konflikte um die Sanierung Griechenlands und anderer hoch verschuldeter Euro-Staaten den Westen als normatives Projekt infrage stellen.
Dasselbe gilt für den ebenfalls ausführlich behandelten Brexit, auch wenn man ihn als Symptom dafür sieht, wie dramatisch die Bindekraft der Union nachlässt. Selbst der worst case, also die vollständige Auflösung der EU, würde noch keinen Bruch des Westens bedeuten. Auch dann könnten sich die einzelnen Länder seinen Grundwerten verpflichtet fühlen. Zweifellos würde ein wieder in Einzelstaaten zerfallendes Europa politisch nur noch ein schwaches Gegengewicht zu autoritären Großmächten wie Russland oder China bilden, von der Wucht der Weltwirtschaft gar nicht zu reden. Dennoch wären die Nationen des alten Kontinents in diesem Fall zwar erheblich einflussärmer, aber gehörten gleichwohl zum Westen.
In der Tat definiert Winkler den Westen nicht geopolitisch oder in Kategorien von Macht und Durchsetzungskraft, sondern als ein – ursprünglich eben rein okzidentales – Projekt der Institutionalisierung aufklärerischer Grundwerte. Der Kanon dieser Werte gruppiert sich um Menschenrechte, säkularisierte Hoheitsgewalt, repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheit und Rechtsstaat.
Darüber, dass dieser Kanon die unübertreffliche Finalität des politischen Entwicklungsprozesses darstellt, schienen sich in der Euphorie nach dem Mauerfall alle einig zu sein. Man wusste um die Mängel seiner Verwirklichung, doch die galten als zu überwindende Defizite und Rückstände. Heute aber sind wir mit neonationalistischen Bewegungen konfrontiert, die sich provokativ von dem liberalen Leitbild abwenden und offensiv, wie es Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen tun, eine „illiberale Demokratie“ propagieren. Mögen die Populisten und Identitären von Finnland bis Deutschland, von Österreich bis Italien oder auch unter Trump in den USA das freiheitliche Projekt nicht ganz so aggressiv herausfordern – an Winklers zutreffender Diagnose, dass die „liberale Demokratie des Westens in der Defensive ist“, ändert dies wenig.
Der Westen, folgert er, mache daher eine „Zeit der Zerreißproben“ durch. Doch das eine ist, ob der Westen zerreißt, das andere aber, ob westliche demokratische Gesellschaften in ihrem Inneren zerreißen. Tatsächlich ist die nur allzu häufig in offenen Hass umschlagende tiefe Polarisierung, die den USA so viel zu schaffen macht, ein Beispiel solcher innenpolitischen und auch zivilgesellschaftlichen Zerrissenheit. Ein gemeinsames Wertefundament scheint man nicht mehr zu haben, noch nicht einmal eine verbindende Sprache. In einigen europäischen Landesregionen sieht es kaum besser aus. Allein das krasse ökonomische, aber auch ideologische Gefälle zwischen Metropolen und Provinz teilt viele westliche Länder inzwischen in nur schwer zu versöhnende Lager.
Ein Volk, das seinen Zusammenhalt aufkündigt, begibt sich seiner Volkssouveränität. Der Westen dagegen besitzt keine Souveränität, weil er kein politisches Subjekt ist, kein Akteur auf der Weltbühne. Ist die alles überragende Menschenrechtserklärung der UN ihrem Grunde nach eine westliche Schöpfung? Selbst dann sind die UN natürlich keine Organisation des Westens. Umso ergiebiger wäre es, die viel beschworene „westliche Wertegemeinschaft“ soziologisch zu analysieren: Realisiert sich diese Gemeinschaft de facto? Wenn ja, durch welche Interaktionen, durch welche wechselseitigen Bestärkungen oder auch Rivalitäten der einzelnen Demokratien? Durch welchen gemeinsamen Willen entfaltet sie eine eigene politische Gesamtdynamik?
Nicht zufällig bezweifelt der namhafte Spezialist für Globalgeschichte, der Historiker Jürgen Osterhammel, dass der Begriff des Westens überhaupt sinnvoll ist. In jedem Fall sei er ein historisches Produkt, eine relativ junge Selbstbeschreibung der transatlantischen Hemisphäre. Dass er sich nicht selten zumindest im Unterton mit dünkelhaftem Akzent vom seinem Pendant abgrenzt, dem nicht weniger schimärenhaften „Osten“, nimmt man im nahen und fernen Orient sensibler wahr als hier; man lese nur die Essays von einem der klügsten Kritiker des Westens, dem Inder Pankaj Mishra.
Immerhin kann Winkler sich trotz dieser berechtigten Skepsis auf einen eingespielten und unverdächtigen Sprachgebrauch berufen. So wie die Historiker Hans-Ulrich Wehler oder Jürgen Kocka die „Westbindung“ als die „politisch-moralische Grundentscheidung“ der Bundesrepublik rühmen, so wie Jürgen Habermas ein zwingendes Junktim herstellt zwischen dem Westen und dem Verfassungspatriotismus („der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet“), so gehört diese die Demokratien überwölbende Normeinheit „Westen“ zum Standardvokabular des hiesigen politisches Diskurses.
Wie weit dem Sprachgebilde ein Realgebilde entspricht, das ist, wie gesagt, die Frage. Nimmt man aber mit Winkler ernst, dass der Westen jedenfalls ein (normatives) „Projekt“ darstellt, also ein Entwicklungsprozess, ist es konsequent, sich nicht nur dem ideellen Wertekanon zu widmen, sondern auch seiner historischen Entstehung. Winkler skizziert darum die Vorgeschichte des heutigen Demokratiekonzepts von der Antike über das Hochmittelalter bis zur Aufklärungs- und schließlich zur Jetztzeit, wenn auch in sehr knappen Stichworten. Für eine schlüssige Beschreibung reicht ein solcher plakativer Stationenweg selbstverständlich nicht, aber hier kann Winkler zu Recht darauf vertrauen, dass man für die ideengeschichtliche Vertiefung vor allem auf den ersten Band seiner viel gerühmten „Geschichte des Westens“ zurückgreift.
Doch die Kürze hat auch ihren eigenen Effekt, sie zeichnet problematische Unterstellungen stärker ab. Zwei stechen besonders ins Auge, die wiederholte Warnung vor einem EU-Beitritt der Türkei und die Warnung vor „postnationalem“ Bestreben. Nicht dass in diesen Jahren etwas für den Beitritt der Türkei zur EU spräche, ganz im Gegenteil. Doch Winkler begnügt sich nicht mit dem Verweis auf die Demokratie- und Rechtsfeindlichkeit des jetzigen Regimes, die jeden Anschluss an die Union völlig indiskutabel macht. Zusätzlich sieht er in der türkisch-islamischen Tradition ein offenbar unüberwindliches Demokratiehindernis: kein hinreichender Sinn für die Trennung der Gewalten und von Politik und Religion, keine politische Aufklärung, kein Respekt vor Menschenrechten und Individualität wie im Westen.
Dass eine Demokratie über das bloße Institutionengerüst hinaus eine tragfähige politische und mentale Freiheitskultur braucht, ist inzwischen Allgemeinkenntnis. Doch lässt sich die Fähigkeit, den nötigen Entwicklungsgang nachzuholen, nicht-westlichen Nationen pauschal absprechen? Angesichts des atemberaubenden Entwicklungssprungs, den etwa Deutschland (nicht ohne Hilfe von außen) oder Spanien geschafft haben, scheint ein solches Urteil, vorsichtig gesagt, voreilig zu sein. Bei Winkler sieht es so aus, als sei der „Westen“ aus kulturellen Gründen endgültig an seine maximalen geografischen Grenzen gelangt. Dahinter liegen nur Kulturen, die angeblich nicht des Westens fähig sind.
Und auch seine Aversion gegen „postnationale Konstellationen“ ist nicht leicht zu begreifen. Weder Jürgen Habermas oder Ulrich Beck noch die Globalisierungstheoretiker reden vom Ende des Nationalstaats. Sie versuchen mit ihren Thesen nur die Summe aller grenzüberschreitenden Prozesse zu ziehen, die auf die Gestaltungsmacht des Nationalstaats einwirken. Über ihre Schlüsse lässt sich streiten. Aber ist das normative Projekt des Westens überhaupt auf eine bestimmte national-transnationale Konstellation festgelegt?
Winklers Buch glänzt mit bewundernswertem Fleiß, mit dem jede Konferenz beschrieben wird, jedes politische Manöver auf dem Weg zur heutigen EU, zum Euro-Debakel, zu Trumps Wahl, zu all den Ereignissträngen, die am Ende in die bekannten demokratischen Krisen führen. Aber das sind die vielen Bäume, wo bleibt der Wald?
Es fehlt der rote Faden – wenn
man nur die normative, nicht
aber die reale Substanz betrachtet
Winklers Aversion gegen
„postnationale Konstellationen“
ist nicht leicht zu begreifen
Heinrich August Winkler:
Zerbricht der Westen?
Über die gegenwärtige
Krise in Europa und
Amerika. Verlag C.H.
Beck München 2017,
493 Seiten, 24,95 Euro.
(Das Buch erscheint am Dienstag, 29. August)
Im Westen viel Neues (im Uhrzeigersinn) – Vaterland first: Pegidisten in Dresden; Naked in Brussels:
Kunstaktion im EU-Viertel; Bigfoot forever: Trump-Unterstützerin. Make Britain great again: Nigel Farage mit Fans nach dem Brexit.
Fotos: Sean Gallup/Getty, Olivier Hoslet/dpa, TOBY MELVILLE/Reuters, Andrew Harrer/Bloomberg
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Heinrich August Winkler analysiert die zahllosen Krisen in Europa und in den USA und fragt voller Sorge, ob der Westen zerbricht.
Doch was ist „der Westen“ eigentlich? Winklers Definition hat gewisse Tücken – und auch zwei seiner Schlussfolgerungen sind nicht unproblematisch
VON ANDREAS ZIELCKE
Wenn der Westen zu zerbrechen droht, müsste er zerbrechlich sein. Heinrich August Winkler betont aber beharrlich, dass „der Westen“ kein politisches Gebilde sei, keine feste Allianz, noch nicht einmal eine geografische Einheit – schließlich gehören, sagt er, auch Neuseeland und Australien zu ihm. Der Westen sei ein „normatives Projekt“. Kann ein normatives Projekt zerbrechen?
Diese Frage beinhaltet mehr als nur semantische Pedanterie. Ohne zu klären, welche reale und nicht nur normative Substanz mit dem Begriff des „Westens“ verbunden ist, kommt selbst ein so gehaltvolles Buch wie dieses in die Bredouille, es fehlt ein identifizierbarer roter Faden. So beschreibt es insbesondere die Krise der Europäischen Union außerordentlich detailliert, ja ihre akuten Probleme nehmen den größten Teil des Buchs ein. Doch keineswegs ist ausgemacht und auch nicht dargelegt, dass die Konstruktionsfehler der Euro-Zone oder die Konflikte um die Sanierung Griechenlands und anderer hoch verschuldeter Euro-Staaten den Westen als normatives Projekt infrage stellen.
Dasselbe gilt für den ebenfalls ausführlich behandelten Brexit, auch wenn man ihn als Symptom dafür sieht, wie dramatisch die Bindekraft der Union nachlässt. Selbst der worst case, also die vollständige Auflösung der EU, würde noch keinen Bruch des Westens bedeuten. Auch dann könnten sich die einzelnen Länder seinen Grundwerten verpflichtet fühlen. Zweifellos würde ein wieder in Einzelstaaten zerfallendes Europa politisch nur noch ein schwaches Gegengewicht zu autoritären Großmächten wie Russland oder China bilden, von der Wucht der Weltwirtschaft gar nicht zu reden. Dennoch wären die Nationen des alten Kontinents in diesem Fall zwar erheblich einflussärmer, aber gehörten gleichwohl zum Westen.
In der Tat definiert Winkler den Westen nicht geopolitisch oder in Kategorien von Macht und Durchsetzungskraft, sondern als ein – ursprünglich eben rein okzidentales – Projekt der Institutionalisierung aufklärerischer Grundwerte. Der Kanon dieser Werte gruppiert sich um Menschenrechte, säkularisierte Hoheitsgewalt, repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheit und Rechtsstaat.
Darüber, dass dieser Kanon die unübertreffliche Finalität des politischen Entwicklungsprozesses darstellt, schienen sich in der Euphorie nach dem Mauerfall alle einig zu sein. Man wusste um die Mängel seiner Verwirklichung, doch die galten als zu überwindende Defizite und Rückstände. Heute aber sind wir mit neonationalistischen Bewegungen konfrontiert, die sich provokativ von dem liberalen Leitbild abwenden und offensiv, wie es Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen tun, eine „illiberale Demokratie“ propagieren. Mögen die Populisten und Identitären von Finnland bis Deutschland, von Österreich bis Italien oder auch unter Trump in den USA das freiheitliche Projekt nicht ganz so aggressiv herausfordern – an Winklers zutreffender Diagnose, dass die „liberale Demokratie des Westens in der Defensive ist“, ändert dies wenig.
Der Westen, folgert er, mache daher eine „Zeit der Zerreißproben“ durch. Doch das eine ist, ob der Westen zerreißt, das andere aber, ob westliche demokratische Gesellschaften in ihrem Inneren zerreißen. Tatsächlich ist die nur allzu häufig in offenen Hass umschlagende tiefe Polarisierung, die den USA so viel zu schaffen macht, ein Beispiel solcher innenpolitischen und auch zivilgesellschaftlichen Zerrissenheit. Ein gemeinsames Wertefundament scheint man nicht mehr zu haben, noch nicht einmal eine verbindende Sprache. In einigen europäischen Landesregionen sieht es kaum besser aus. Allein das krasse ökonomische, aber auch ideologische Gefälle zwischen Metropolen und Provinz teilt viele westliche Länder inzwischen in nur schwer zu versöhnende Lager.
Ein Volk, das seinen Zusammenhalt aufkündigt, begibt sich seiner Volkssouveränität. Der Westen dagegen besitzt keine Souveränität, weil er kein politisches Subjekt ist, kein Akteur auf der Weltbühne. Ist die alles überragende Menschenrechtserklärung der UN ihrem Grunde nach eine westliche Schöpfung? Selbst dann sind die UN natürlich keine Organisation des Westens. Umso ergiebiger wäre es, die viel beschworene „westliche Wertegemeinschaft“ soziologisch zu analysieren: Realisiert sich diese Gemeinschaft de facto? Wenn ja, durch welche Interaktionen, durch welche wechselseitigen Bestärkungen oder auch Rivalitäten der einzelnen Demokratien? Durch welchen gemeinsamen Willen entfaltet sie eine eigene politische Gesamtdynamik?
Nicht zufällig bezweifelt der namhafte Spezialist für Globalgeschichte, der Historiker Jürgen Osterhammel, dass der Begriff des Westens überhaupt sinnvoll ist. In jedem Fall sei er ein historisches Produkt, eine relativ junge Selbstbeschreibung der transatlantischen Hemisphäre. Dass er sich nicht selten zumindest im Unterton mit dünkelhaftem Akzent vom seinem Pendant abgrenzt, dem nicht weniger schimärenhaften „Osten“, nimmt man im nahen und fernen Orient sensibler wahr als hier; man lese nur die Essays von einem der klügsten Kritiker des Westens, dem Inder Pankaj Mishra.
Immerhin kann Winkler sich trotz dieser berechtigten Skepsis auf einen eingespielten und unverdächtigen Sprachgebrauch berufen. So wie die Historiker Hans-Ulrich Wehler oder Jürgen Kocka die „Westbindung“ als die „politisch-moralische Grundentscheidung“ der Bundesrepublik rühmen, so wie Jürgen Habermas ein zwingendes Junktim herstellt zwischen dem Westen und dem Verfassungspatriotismus („der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet“), so gehört diese die Demokratien überwölbende Normeinheit „Westen“ zum Standardvokabular des hiesigen politisches Diskurses.
Wie weit dem Sprachgebilde ein Realgebilde entspricht, das ist, wie gesagt, die Frage. Nimmt man aber mit Winkler ernst, dass der Westen jedenfalls ein (normatives) „Projekt“ darstellt, also ein Entwicklungsprozess, ist es konsequent, sich nicht nur dem ideellen Wertekanon zu widmen, sondern auch seiner historischen Entstehung. Winkler skizziert darum die Vorgeschichte des heutigen Demokratiekonzepts von der Antike über das Hochmittelalter bis zur Aufklärungs- und schließlich zur Jetztzeit, wenn auch in sehr knappen Stichworten. Für eine schlüssige Beschreibung reicht ein solcher plakativer Stationenweg selbstverständlich nicht, aber hier kann Winkler zu Recht darauf vertrauen, dass man für die ideengeschichtliche Vertiefung vor allem auf den ersten Band seiner viel gerühmten „Geschichte des Westens“ zurückgreift.
Doch die Kürze hat auch ihren eigenen Effekt, sie zeichnet problematische Unterstellungen stärker ab. Zwei stechen besonders ins Auge, die wiederholte Warnung vor einem EU-Beitritt der Türkei und die Warnung vor „postnationalem“ Bestreben. Nicht dass in diesen Jahren etwas für den Beitritt der Türkei zur EU spräche, ganz im Gegenteil. Doch Winkler begnügt sich nicht mit dem Verweis auf die Demokratie- und Rechtsfeindlichkeit des jetzigen Regimes, die jeden Anschluss an die Union völlig indiskutabel macht. Zusätzlich sieht er in der türkisch-islamischen Tradition ein offenbar unüberwindliches Demokratiehindernis: kein hinreichender Sinn für die Trennung der Gewalten und von Politik und Religion, keine politische Aufklärung, kein Respekt vor Menschenrechten und Individualität wie im Westen.
Dass eine Demokratie über das bloße Institutionengerüst hinaus eine tragfähige politische und mentale Freiheitskultur braucht, ist inzwischen Allgemeinkenntnis. Doch lässt sich die Fähigkeit, den nötigen Entwicklungsgang nachzuholen, nicht-westlichen Nationen pauschal absprechen? Angesichts des atemberaubenden Entwicklungssprungs, den etwa Deutschland (nicht ohne Hilfe von außen) oder Spanien geschafft haben, scheint ein solches Urteil, vorsichtig gesagt, voreilig zu sein. Bei Winkler sieht es so aus, als sei der „Westen“ aus kulturellen Gründen endgültig an seine maximalen geografischen Grenzen gelangt. Dahinter liegen nur Kulturen, die angeblich nicht des Westens fähig sind.
Und auch seine Aversion gegen „postnationale Konstellationen“ ist nicht leicht zu begreifen. Weder Jürgen Habermas oder Ulrich Beck noch die Globalisierungstheoretiker reden vom Ende des Nationalstaats. Sie versuchen mit ihren Thesen nur die Summe aller grenzüberschreitenden Prozesse zu ziehen, die auf die Gestaltungsmacht des Nationalstaats einwirken. Über ihre Schlüsse lässt sich streiten. Aber ist das normative Projekt des Westens überhaupt auf eine bestimmte national-transnationale Konstellation festgelegt?
Winklers Buch glänzt mit bewundernswertem Fleiß, mit dem jede Konferenz beschrieben wird, jedes politische Manöver auf dem Weg zur heutigen EU, zum Euro-Debakel, zu Trumps Wahl, zu all den Ereignissträngen, die am Ende in die bekannten demokratischen Krisen führen. Aber das sind die vielen Bäume, wo bleibt der Wald?
Es fehlt der rote Faden – wenn
man nur die normative, nicht
aber die reale Substanz betrachtet
Winklers Aversion gegen
„postnationale Konstellationen“
ist nicht leicht zu begreifen
Heinrich August Winkler:
Zerbricht der Westen?
Über die gegenwärtige
Krise in Europa und
Amerika. Verlag C.H.
Beck München 2017,
493 Seiten, 24,95 Euro.
(Das Buch erscheint am Dienstag, 29. August)
Im Westen viel Neues (im Uhrzeigersinn) – Vaterland first: Pegidisten in Dresden; Naked in Brussels:
Kunstaktion im EU-Viertel; Bigfoot forever: Trump-Unterstützerin. Make Britain great again: Nigel Farage mit Fans nach dem Brexit.
Fotos: Sean Gallup/Getty, Olivier Hoslet/dpa, TOBY MELVILLE/Reuters, Andrew Harrer/Bloomberg
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Er schreibt und schreibt und schreibt
Heinrich August Winkler erkennt die durch den Brexit und durch Donald Trump verschärfte Krise des Westens, nicht jedoch deren Ursachen.
Von Gregor Schöllgen
Zerbricht der Westen? Die Frage zu stellen heißt von der Existenz des Westens auszugehen. Das tut Heinrich August Winkler, längst emeritierter Ordinarius an der Berliner Humboldt-Universität und einer der fleißigsten deutschen Historiker seiner Generation. In vier Bänden mit insgesamt gut viereinhalbtausend Seiten hat er zuletzt die "Geschichte des Westens" von den "Anfängen in der Antike" bis zur Gegenwart aufgeschrieben. Wer wie er den Westen als Wertegemeinschaft begreift, wer Menschenrechte und Demokratie als das einigende Band dieser Gemeinschaft identifiziert, den müssen die Zeichen der Zeit beunruhigen. Deshalb hat er abermals zur Feder gegriffen. Das Buch knüpft an den letzten Band seiner Geschichte der westlichen Welt an, der die Entwicklung bis zur Ukraine-Krise des Jahres 2014 behandelt, und das heißt: Auf 500 Seiten, Rückblicke inklusive, werden jetzt die drei seither vergangenen Jahre Schritt für Schritt abgegangen.
Im Grunde handelt es sich um ein Itinerar, das die Entwicklung der Staaten und ihrer Gemeinschaften Woche für Woche, mitunter auch Tag für Tag verzeichnet und den Leser so zuverlässig durch das Dickicht der nationalen und internationalen Verwerfungen der vergangenen Monate führt. Alleine die jedes Detail ausleuchtende Rekonstruktion des Brexit nimmt 50 Seiten in Anspruch. Das macht die Lektüre mitunter mühsam, zumal der Autor auf einen durchgängigen analytischen Zugriff verzichtet. Andererseits gibt es so gut wie keine Weichenstellung der vergangenen Jahre, über die sich nicht streiten ließe. So gesehen, lädt Winkler - das ist eine Stärke seines Buches - ständig zum Widerspruch ein. So zum Beispiel mit seiner Antwort auf die Frage: "Was folgt aus dem Brexit?" Bedeutet das Ergebnis des britischen Referendums wirklich eine "tiefe Zäsur", gar eine "Erschütterung"? Tatsächlich kann die EU auch ohne ein Land auskommen, das der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erst nicht beitreten wollte, dann nicht beitreten durfte und schließlich seit der Aufnahme 1973 wie kein zweites Mitglied auf Sonderkonditionen und Ausnahmeregelungen bestanden hat. Schwerer wiegt, dass eine Mehrzahl der Briten offensichtlich der Überzeugung ist, internationale Krisen wie die unkontrollierte Migration ließen sich im Alleingang lösen.
Diese Auffassung teilen auch Amerikas republikanischer Präsident und mit ihm etwa die Hälfte seiner Landsleute, die im November 2016 zur Wahl gegangen sind. Für Winkler ist der "Bruch", den Donald Trump schon bei seiner Amtseinführung mit der bisherigen Politik der Vereinigten Staaten vollzog, "radikal". Insoweit der Präsident "kein Wort zu den unveräußerlichen Menschenrechten" oder auch zu den Verbündeten verlor, kann man dem Autor darin gewiss folgen. Aber gilt das auch für Winklers Einschätzung, Trumps Devise "America First" sei "eine Absage an die universellen Werte, in deren Zeichen die Vereinigten Staaten 1776 gegründet wurden"?
"America First" war die Maxime sämtlicher amerikanischer Präsidenten, gerade auch nach 1945. Keiner von ihnen ließ einen Zweifel daran, dass die Interessen des eigenen Landes Vorrang vor denen aller anderen Länder haben müssen, diejenigen der Verbündeten, Partner und Freunde eingeschlossen. Tatsächlich gibt es kein vernünftiges Argument, warum ein Staats- und Regierungschef die Interessen seines Landes nicht als vorrangig definieren sollte. Er oder sie muss das sogar tun. Denn den "Nutzen" des eigenen Landes zu "mehren" - so die deutsche Eidesformel - ist der ausdrückliche Auftrag auch eines Bundeskanzlers.
Die Frage ist nur, wie das geschieht. Die transatlantische Allianz war seit ihrer Gründung im Frühjahr 1949 immer auch, wenn nicht in erster Linie, ein Mittel amerikanischer Interessenpolitik auch in und gegenüber Europa. Das war legitim, denn die Westeuropäer verdankten der massiven Präsenz der Vereinigten Staaten ihre Freiheit und ihren Wohlstand. Im Gegenzug teilten oder akzeptierten sie den Wertekanon Amerikas und nahmen ihn als Synonym für die Werte des Westens.
Spätestens seit dessen Vor- und Garantiemacht unter Berufung auf diese Werte in Vietnam einen zehnjährigen Krieg führte, der für manchen Beobachter Züge eines Genozids trug und der erste Ökozid der jüngeren Geschichte gewesen ist, hatte der Westen allerdings seine Glaubwürdigkeit verloren. Und das nicht nur beim weltpolitischen Gegner oder in der damals sogenannten Dritten Welt, sondern auch in den eigenen Reihen. Auch deshalb gibt es diesen alten Westen nicht mehr. Vor allem aber ist ihm vor einem Vierteljahrhundert der Osten abhandengekommen. Dieser Verlust lässt sich schwerlich überschätzen, weil der Wertekanon der Nato oder der europäischen Gemeinschaften gerade in der Abgrenzung von der kommunistischen Welt seine volle Überzeugungskraft entfaltete.
Keine der westlichen Gemeinschaften hat es in den vergangenen 25 Jahren geschafft, sich diesen grundlegend geänderten Verhältnissen anzupassen, im Gegenteil: Unfähig oder unwillens zur Reform, aber auch überwältigt vom Andrang der jungen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, nahmen Nato und Europäische Union in Serie neue Mitglieder auf, von denen viele die Vorgaben bestenfalls auf dem Papier erfüllten. Lediglich bei der Türkei zog Europa dann doch noch die Notbremse, wie Winkler anschaulich schildert.
So gesehen, handelt sein Buch von Symptomen der Krise, nicht von ihren Ursachen. Geht es wirklich darum, die "Reform der Währungsunion und der Europäischen Union" voranzutreiben, sich also in den nicht bewährten Bahnen weiterzubewegen? Oder ist es nicht an der Zeit, die Anachronismen hinter sich zu lassen und den Realitäten der globalisierten Welt Rechnung zu tragen? Zu ihnen gehört die Renaissance des Nationalstaates, auch in Europa. Man mag sie beklagen, man mag sie begrüßen, aufhalten kann man sie nicht. Nichts verbindet die Menschen so sehr wie die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, die gemeinsame natürliche Umwelt, die gemeinsame Geschichte und immer auch eine gemeinsame Gefahr: Die Flüchtlingskrise - auch sie ist zentrales Thema dieses Buches - wurde in ausnahmslos allen Ländern als nationale Herausforderung begriffen.
Die von Winkler diagnostizierte "Entnationalisierung der westlichen Demokratien" war vielleicht in einigen Phasen des Kalten Krieges - und dann namentlich in der Bundesrepublik, einem Land ohne vollständige äußere Souveränität - zu besichtigen. Die Wirklichkeit sieht nicht erst seit Brexit und Trump anders aus. Mit einer Reparatur hier, einer Ergänzung alter Verträge dort ist es nicht getan.
Die westliche Wertegemeinschaft, auch das auseinanderdriftende Europa, muss durch die dazu bereiten Nationen von Grund auf neu verhandelt werden, was nicht mit der Entsorgung, sondern mit der Erhaltung von Bewährtem gleichzusetzen ist. Nicht zufällig tauchte dieser Gedanke, auch in Deutschland, im Umfeld der sogenannten Ost-Erweiterung der EU auf. In einer Zeit, in der einige der Neuankömmlinge den Wertekanon der EU und damit des Westens in Frage stellen, ist er aktueller denn je.
Heinrich August Winkler: Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika.
C.H. Beck Verlag, München 2017. 493 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinrich August Winkler erkennt die durch den Brexit und durch Donald Trump verschärfte Krise des Westens, nicht jedoch deren Ursachen.
Von Gregor Schöllgen
Zerbricht der Westen? Die Frage zu stellen heißt von der Existenz des Westens auszugehen. Das tut Heinrich August Winkler, längst emeritierter Ordinarius an der Berliner Humboldt-Universität und einer der fleißigsten deutschen Historiker seiner Generation. In vier Bänden mit insgesamt gut viereinhalbtausend Seiten hat er zuletzt die "Geschichte des Westens" von den "Anfängen in der Antike" bis zur Gegenwart aufgeschrieben. Wer wie er den Westen als Wertegemeinschaft begreift, wer Menschenrechte und Demokratie als das einigende Band dieser Gemeinschaft identifiziert, den müssen die Zeichen der Zeit beunruhigen. Deshalb hat er abermals zur Feder gegriffen. Das Buch knüpft an den letzten Band seiner Geschichte der westlichen Welt an, der die Entwicklung bis zur Ukraine-Krise des Jahres 2014 behandelt, und das heißt: Auf 500 Seiten, Rückblicke inklusive, werden jetzt die drei seither vergangenen Jahre Schritt für Schritt abgegangen.
Im Grunde handelt es sich um ein Itinerar, das die Entwicklung der Staaten und ihrer Gemeinschaften Woche für Woche, mitunter auch Tag für Tag verzeichnet und den Leser so zuverlässig durch das Dickicht der nationalen und internationalen Verwerfungen der vergangenen Monate führt. Alleine die jedes Detail ausleuchtende Rekonstruktion des Brexit nimmt 50 Seiten in Anspruch. Das macht die Lektüre mitunter mühsam, zumal der Autor auf einen durchgängigen analytischen Zugriff verzichtet. Andererseits gibt es so gut wie keine Weichenstellung der vergangenen Jahre, über die sich nicht streiten ließe. So gesehen, lädt Winkler - das ist eine Stärke seines Buches - ständig zum Widerspruch ein. So zum Beispiel mit seiner Antwort auf die Frage: "Was folgt aus dem Brexit?" Bedeutet das Ergebnis des britischen Referendums wirklich eine "tiefe Zäsur", gar eine "Erschütterung"? Tatsächlich kann die EU auch ohne ein Land auskommen, das der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erst nicht beitreten wollte, dann nicht beitreten durfte und schließlich seit der Aufnahme 1973 wie kein zweites Mitglied auf Sonderkonditionen und Ausnahmeregelungen bestanden hat. Schwerer wiegt, dass eine Mehrzahl der Briten offensichtlich der Überzeugung ist, internationale Krisen wie die unkontrollierte Migration ließen sich im Alleingang lösen.
Diese Auffassung teilen auch Amerikas republikanischer Präsident und mit ihm etwa die Hälfte seiner Landsleute, die im November 2016 zur Wahl gegangen sind. Für Winkler ist der "Bruch", den Donald Trump schon bei seiner Amtseinführung mit der bisherigen Politik der Vereinigten Staaten vollzog, "radikal". Insoweit der Präsident "kein Wort zu den unveräußerlichen Menschenrechten" oder auch zu den Verbündeten verlor, kann man dem Autor darin gewiss folgen. Aber gilt das auch für Winklers Einschätzung, Trumps Devise "America First" sei "eine Absage an die universellen Werte, in deren Zeichen die Vereinigten Staaten 1776 gegründet wurden"?
"America First" war die Maxime sämtlicher amerikanischer Präsidenten, gerade auch nach 1945. Keiner von ihnen ließ einen Zweifel daran, dass die Interessen des eigenen Landes Vorrang vor denen aller anderen Länder haben müssen, diejenigen der Verbündeten, Partner und Freunde eingeschlossen. Tatsächlich gibt es kein vernünftiges Argument, warum ein Staats- und Regierungschef die Interessen seines Landes nicht als vorrangig definieren sollte. Er oder sie muss das sogar tun. Denn den "Nutzen" des eigenen Landes zu "mehren" - so die deutsche Eidesformel - ist der ausdrückliche Auftrag auch eines Bundeskanzlers.
Die Frage ist nur, wie das geschieht. Die transatlantische Allianz war seit ihrer Gründung im Frühjahr 1949 immer auch, wenn nicht in erster Linie, ein Mittel amerikanischer Interessenpolitik auch in und gegenüber Europa. Das war legitim, denn die Westeuropäer verdankten der massiven Präsenz der Vereinigten Staaten ihre Freiheit und ihren Wohlstand. Im Gegenzug teilten oder akzeptierten sie den Wertekanon Amerikas und nahmen ihn als Synonym für die Werte des Westens.
Spätestens seit dessen Vor- und Garantiemacht unter Berufung auf diese Werte in Vietnam einen zehnjährigen Krieg führte, der für manchen Beobachter Züge eines Genozids trug und der erste Ökozid der jüngeren Geschichte gewesen ist, hatte der Westen allerdings seine Glaubwürdigkeit verloren. Und das nicht nur beim weltpolitischen Gegner oder in der damals sogenannten Dritten Welt, sondern auch in den eigenen Reihen. Auch deshalb gibt es diesen alten Westen nicht mehr. Vor allem aber ist ihm vor einem Vierteljahrhundert der Osten abhandengekommen. Dieser Verlust lässt sich schwerlich überschätzen, weil der Wertekanon der Nato oder der europäischen Gemeinschaften gerade in der Abgrenzung von der kommunistischen Welt seine volle Überzeugungskraft entfaltete.
Keine der westlichen Gemeinschaften hat es in den vergangenen 25 Jahren geschafft, sich diesen grundlegend geänderten Verhältnissen anzupassen, im Gegenteil: Unfähig oder unwillens zur Reform, aber auch überwältigt vom Andrang der jungen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, nahmen Nato und Europäische Union in Serie neue Mitglieder auf, von denen viele die Vorgaben bestenfalls auf dem Papier erfüllten. Lediglich bei der Türkei zog Europa dann doch noch die Notbremse, wie Winkler anschaulich schildert.
So gesehen, handelt sein Buch von Symptomen der Krise, nicht von ihren Ursachen. Geht es wirklich darum, die "Reform der Währungsunion und der Europäischen Union" voranzutreiben, sich also in den nicht bewährten Bahnen weiterzubewegen? Oder ist es nicht an der Zeit, die Anachronismen hinter sich zu lassen und den Realitäten der globalisierten Welt Rechnung zu tragen? Zu ihnen gehört die Renaissance des Nationalstaates, auch in Europa. Man mag sie beklagen, man mag sie begrüßen, aufhalten kann man sie nicht. Nichts verbindet die Menschen so sehr wie die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, die gemeinsame natürliche Umwelt, die gemeinsame Geschichte und immer auch eine gemeinsame Gefahr: Die Flüchtlingskrise - auch sie ist zentrales Thema dieses Buches - wurde in ausnahmslos allen Ländern als nationale Herausforderung begriffen.
Die von Winkler diagnostizierte "Entnationalisierung der westlichen Demokratien" war vielleicht in einigen Phasen des Kalten Krieges - und dann namentlich in der Bundesrepublik, einem Land ohne vollständige äußere Souveränität - zu besichtigen. Die Wirklichkeit sieht nicht erst seit Brexit und Trump anders aus. Mit einer Reparatur hier, einer Ergänzung alter Verträge dort ist es nicht getan.
Die westliche Wertegemeinschaft, auch das auseinanderdriftende Europa, muss durch die dazu bereiten Nationen von Grund auf neu verhandelt werden, was nicht mit der Entsorgung, sondern mit der Erhaltung von Bewährtem gleichzusetzen ist. Nicht zufällig tauchte dieser Gedanke, auch in Deutschland, im Umfeld der sogenannten Ost-Erweiterung der EU auf. In einer Zeit, in der einige der Neuankömmlinge den Wertekanon der EU und damit des Westens in Frage stellen, ist er aktueller denn je.
Heinrich August Winkler: Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika.
C.H. Beck Verlag, München 2017. 493 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Historiker Heinrich August Winkler hat dem "Westen" bereits vier dicke, mehrere tausend Seiten lange Bücher gewidmet. Dieser Band ist gewissermaßen der Nachklapp zu seiner eigentlich abgeschlossenen Reihe. Er behandelt die Zeit von 2015 bis 2017, in der er die Krise der westlichen Demokratien (Aufstieg des Rechtspopulismus, Brexit, Währungsunion) manifest werden sieht. Eine Antwort auf die Titelfrage gibt er dabei nicht so recht, meint Rezensent Eckhard Jesse, der auf diesen Band wohl hätte verzichten können. Es fehlt ihm hier etwas die "Distanz zum Zeitgeschehen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Der Autor begegnet dem Leser als der brillante Historiker, der er ist und der viele kluge Einsichten und Analysen bietet."
Hessische Niedersächsische Allgemeine, 18. Dezember 2017
"Ein profilierter Publizist, der prägnant zu formulieren versteht."
Eckhard Jesse, Neue Zürcher Zeitung, 28. Dezember 2017
"Zeigt den Historiker als unermüdlichen Dokumentaristen und aufmerksamen Beobachter der Zeitläufte."
Hermann Rudolph, Tagesspiegel, 20. Dezember 2017
"Winklers Buch ist engagierter Debattenbeitrag und kluge Analyse tagespolitischer Ereignisse - und damit Orientierung in unübersichtlichen Zeiten."
Michael Hirz, Cicero, Oktober 2017
"Winkler plädiert leidenschaftlich für eine Rückbesinnung auf Partnerschaft, Pluralität und Repräsentativität in der Demokratie."
Gunther Hartwig, Schwäbische Post, 5. Oktober 2017
"Winklers Buch ist engagierter Debattenbeitrag und kluge Analyse tagespolitischer Ereignisse - und damit Orientierung in unübersichtlichen Zeiten."
Cicero LITERATUREN, 30. September 2017
"Es ist ein düsteres Bild, das Winkler vom Westen zeichnet: Zerstritten, verunsichert, scheinbar handlungsunfähig. Auch wenn man vieles was beschreibt, in den vergangenen Jahren miterleben konnte: So verdichtet und strukturiert, wie Winkler die Entwicklungen seit 2014 präsentiert, wird einem beim Lesen erst so richtig bewusst, dass nicht nur die EU, sondern das, was wir als westliche Welt bezeichnen, tatsächlich zerbrechen könnte."
Jan Ehlert, NDR Kultur, 12. September 2017
"Was den Autor seit je auszeichnet, das trägt auch diesmal: Er ist einfach ein guter Erzähler."
Stephan Speicher, ZEIT, 7. September 2017
"Die faktenreiche Darstellung des Berliner Historikers liest sich fast wie ein Kriminalroman (...) gut lesbare und sehr informative Studie."
Guido Kalberer, Der Bund, 2. September 2017
Hessische Niedersächsische Allgemeine, 18. Dezember 2017
"Ein profilierter Publizist, der prägnant zu formulieren versteht."
Eckhard Jesse, Neue Zürcher Zeitung, 28. Dezember 2017
"Zeigt den Historiker als unermüdlichen Dokumentaristen und aufmerksamen Beobachter der Zeitläufte."
Hermann Rudolph, Tagesspiegel, 20. Dezember 2017
"Winklers Buch ist engagierter Debattenbeitrag und kluge Analyse tagespolitischer Ereignisse - und damit Orientierung in unübersichtlichen Zeiten."
Michael Hirz, Cicero, Oktober 2017
"Winkler plädiert leidenschaftlich für eine Rückbesinnung auf Partnerschaft, Pluralität und Repräsentativität in der Demokratie."
Gunther Hartwig, Schwäbische Post, 5. Oktober 2017
"Winklers Buch ist engagierter Debattenbeitrag und kluge Analyse tagespolitischer Ereignisse - und damit Orientierung in unübersichtlichen Zeiten."
Cicero LITERATUREN, 30. September 2017
"Es ist ein düsteres Bild, das Winkler vom Westen zeichnet: Zerstritten, verunsichert, scheinbar handlungsunfähig. Auch wenn man vieles was beschreibt, in den vergangenen Jahren miterleben konnte: So verdichtet und strukturiert, wie Winkler die Entwicklungen seit 2014 präsentiert, wird einem beim Lesen erst so richtig bewusst, dass nicht nur die EU, sondern das, was wir als westliche Welt bezeichnen, tatsächlich zerbrechen könnte."
Jan Ehlert, NDR Kultur, 12. September 2017
"Was den Autor seit je auszeichnet, das trägt auch diesmal: Er ist einfach ein guter Erzähler."
Stephan Speicher, ZEIT, 7. September 2017
"Die faktenreiche Darstellung des Berliner Historikers liest sich fast wie ein Kriminalroman (...) gut lesbare und sehr informative Studie."
Guido Kalberer, Der Bund, 2. September 2017