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Konrad Jarausch und Michael Geyer, die seit Jahrzehnten in den USA lehren und sich einen distanzierten Blick auf die deutsche Gegenwart bewahrt haben, unternehmen nun den Versuch, die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts neu zu deuten. Dabei gehen sie von dem Kontrast zwischen den anfänglichen Katastrophen und darauf folgenden Lernprozessen aus, betonen die Brüche statt der Kontinuitäten und wenden sich bislang vernachlässigten Themen zu wie etwa der Bedeutung der Zuwanderung, der Frauenemanzipation, der Massenkultur und der Suche nach einer neuen nationalen Identität.

Produktbeschreibung
Konrad Jarausch und Michael Geyer, die seit Jahrzehnten in den USA lehren und sich einen distanzierten Blick auf die deutsche Gegenwart bewahrt haben, unternehmen nun den Versuch, die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts neu zu deuten. Dabei gehen sie von dem Kontrast zwischen den anfänglichen Katastrophen und darauf folgenden Lernprozessen aus, betonen die Brüche statt der Kontinuitäten und wenden sich bislang vernachlässigten Themen zu wie etwa der Bedeutung der Zuwanderung, der Frauenemanzipation, der Massenkultur und der Suche nach einer neuen nationalen Identität.
Autorenporträt
Konrad Jarausch, geboren 1943, lehrt an der Universität von Chapel Hill, North Carolina, und ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2006

Verwischte Grenzen
Deutsche Zeitgeschichten zwischen historischer Analyse und politischer Publizistik

Der Plural ist Programm. Konrad Jarausch und Michael Geyer haben nichts Geringeres im Sinn, als eine "Neukonzipierung deutscher Geschichte(n) im 20. Jahrhundert anzuregen und einzuleiten". Ein nicht gerade bescheidener Anspruch - und ein riskanter überdies. Daß er gerade von zwei Wahlamerikanern formuliert wird, die die deutschen Verhältnisse seit geraumer Zeit aus einer gleichsam fernen Nähe beobachten, ist nicht weiter verwunderlich. Befremdlich wirkt hingegen jene Selbstverständlichkeit, mit der die Verfasser eine ganz und gar unabhängige, ja geradezu objektive Sichtweise reklamieren. Als "Grenzgänger", so Jarausch und Geyer, sei ihnen die "Suche nach historischer Wahrheit" nun einmal "wichtiger als der Respekt vor nationalen Orthodoxien" - als habe es in Deutschland nie eine Debatte um die Standortgebundenheit historischer Forschung gegeben.

Doch wie dem auch sei: Die deutsche Geschichte, im 20. Jahrhundert förmlich zerbrochen, mag sich für die Verfasser nicht mehr zu einem Ganzen zu fügen. So weit, so gut. Wenn ein Buch, das aus der Not eine Tugend machen will und antritt, die Vergangenheit zu pluralisieren, indem es deutsche Geschichten anschaulich rekonstruiert, wenn ein solches Buch ein Drittel seines Umfangs benötigt, um methodologische Probleme zu erörtern, so wirft das freilich Fragen auf. Gewiß ist es interessant, den Niedergang der klassischen Meistererzählungen, der nationalen wie der marxistischen, zu verfolgen. Und ganz gewiß ist es nicht von der Hand zu weisen, daß angesichts der radikalen Brüche der deutschen - aber eben nicht allein der deutschen - Geschichte jeder master narrative unter Vorbehalt steht. Wie wären denn auch die Gewaltverbrechen der ersten Jahrhunderthälfte, wie wären Krieg und Holocaust historisch sinnvoll mit Zivilgesellschaft und Wirtschaftswunder zu verknüpfen, wie die vielen Widersprüchlichkeiten überzeugend zu bündeln? Solchermaßen befragt, antworteten die Verfasser wohl lapidar: überhaupt nicht! Um gleich hinzuzufügen, man solle fortan "genauer die Scherben des zerbrochenen Spiegels deutscher Vergangenheit anschauen, um herauszufinden, wie sie einmal zueinander gepaßt haben und was sie hat zerbrechen lassen". Die deutsche Geschichte - ein Scherbenhaufen? Spätestens hier beschleichen den Leser leise Zweifel: Ob der rhetorische Aufwand, mit dem die Verfasser hundert Druckseiten lang gegen die alten Meister streiten, überhaupt notwendig ist? Daß es die deutsche Geschichte nicht gegeben hat, darf jedenfalls nicht gerade als allerneueste Erkenntnis gelten. Jarausch und Geyer bekennen sich nicht nur verbal zu ihrem postmodernen Ansatz, sondern setzen ihn auch so konsequent um, daß das Buch in sieben Essays zerfällt, die mehr oder minder isoliert "exemplarische Geschichten" rekonstruieren. Sie erzählen von Krieg und Völkermord, von der "Zähmung der deutschen Macht", aber auch von Mobilität und Migration: von der "erstaunlichen Bewegungslust" der Deutschen, von Flucht und Vertreibung, von der Wirklichkeitsverweigerung eines Staates, der längst zum Zuwanderungsland geworden ist. Und sie handeln von der Suche nach nationaler Identität, vom Wandel des Frauenbildes im Umfeld des neuen Feminismus und schließlich von der Massenkultur, der Sehnsucht nach dem "guten Leben" und jener vielleicht einzig geglückten Revolution in Deutschland, die den Kunden zum König werden ließ.

Nun wird niemand bestreiten, daß es sich bei diesen Themen tatsächlich um "einige der wichtigsten Fragen der deutschen Geschichte" handelt - womit zugleich gesagt ist, daß andere nicht minder wichtige Fragen kaum Beachtung finden, etwa solche der Arbeitswelt, der Religion, der Medien und der Kommunikation. Daß die Essays für sich genommen eine Fülle neuer Perspektiven und Einsichten eröffnen, ist dabei gar nicht zu übersehen. Wenn mancher Abschnitt auf den deutschen Leser gleichwohl wie Nachhilfe in Staatsbürgerkunde wirken mag, so ist das wohl dem Umstand geschuldet, daß das Buch ursprünglich für ein amerikanisches Publikum konzipiert worden ist. Für den deutschen Markt hätte sich eine gründliche Revision ebenso empfohlen wie eine solide Übersetzung, die nicht vom "französischen Kaufmann Jean Monnet", dem "ethisch deutschen Danzig" oder dem "System der Triage" spricht - was im Verlag offensichtlich niemanden gestört hat.

Problematischer noch ist der Umstand, daß die Verfasser ein ums andere Mal die Grenzen zwischen historischer Analyse und politischer Publizistik verwischen. Ob sie auf die "widerliche Kampagne bei der hessischen Landtagswahl von 1999" zu sprechen kommen, ob sie das Lob der Lichterkette singen oder die "gewinnende Gestalt von Rosa Luxemburg" gegen den "reaktionären Familienminister Franz-Josef Würmeling" ausspielen - Konrad Jarausch und Michael Geyer wissen stets, wie der Fortschritt tickt. Am meisten aber leidet das Buch darunter, daß die Verfasser vor solchen Wertungen im einzelnen zwar nicht zurückschrecken, eine Gesamtdeutung deutscher Geschichte jedoch verweigern und so am Ende jenes "unzusammenhängende Sammelsurium" produzieren, das sie gerade vermeiden wollten.

Wie die einzelnen Geschichten zusammenhängen, ja gelegentlich sogar "zu einem gemeinsamen, aber spezifisch verstandenen Gefühl des Deutschseins" konvergieren könnten, bleibt offen. Ebendies wäre allerdings die Aufgabe gewesen: zu zeigen, wie sich in den unterschiedlichen Geschichten gemeinsame Erfahrungen manifestieren, aus denen zwar nicht ein schwammiges "Gefühl des Deutschseins", wohl aber konkrete Deutungsmuster resultieren, die das Denken und Handeln der Menschen leiten. Weil jede Dekonstruktion zugleich Konstruktion ist, wird der Historiker stets nach dem Sinn des Ganzen zu fragen haben. Sonst wäre die Geschichtsschreibung am Ende. Und Klio trüge Trauer.

CARSTEN KRETSCHMANN

Konrad H. Jarausch/Michael Geyer: Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichten im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 493 S., 39,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Durchwachsen findet Carsten Kretschmann diesen Band über Deutsche Zeitgeschichte von Konrad H. Jarausch und Michael Geyer. Den postmodernen Ansatz, die Vergangenheit zu pluralisieren und statt von einer deutschen Geschichte von deutschen Geschichten zu sprechen, haben die Autoren seines Erachtens konsequent umgesetzt. Hier kommen auch seine Zweifel ins Spiel. Dass dieser Ansatz nicht wirklich originell ist, nimmt er den Autoren dabei gar nicht mal so übel. Auch scheint es ihm nicht uninteressant, den Niedergang der klassischen Meistererzählungen, der nationalen wie der marxistischen, zu verfolgen. Schließlich eröffnen die Essays für ihn eine Fülle von Einsichten und neuen Perspektiven. Aber trotzdem beharrt er auf der Frage, wie die von den Autoren erzählten Geschichten von Krieg und Völkermord, von der "Zähmung der deutschen Macht", von Mobilität und Migration, von der Suche nach nationaler Identität, vom Wandel des Frauenbildes, von der Massenkultur usw. zusammenhängen. Diese Frage bleibt zu seinem Bedauern nämlich offen. Zudem hält er den Autoren vor, immer wieder die Grenzen zwischen historischer Analyse und politischer Publizistik zu verwischen.

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