Produktdetails
- Blue Ant Vol.3
- Verlag: Penguin Us; Putnam
- Gewicht: 631g
- ISBN-13: 9780399156823
- ISBN-10: 0399156828
- Artikelnr.: 28951359
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2011Dr. Mabuses Guerilla-Marketing
In seinem jüngsten Roman „Systemneustart“ verkuppelt William Gibson die Military-Mode mit der realen US-Armee
Der Schriftsteller William Gibson ist bei seinen Lesern dafür berühmt, Zeitgenossenschaft auf den Punkt zu bringen. Gelesen und verehrt wird er für die außerordentliche Fähigkeit, aus den schwirrenden Erscheinungen der Gegenwart allgemeine Konzepte und Bilder abzuleiten. Das ist seit seinem ersten Roman „Neuromancer“ so, der dem diffus aufziehenden digitalen Zeitalter 1984 die Leitidee vom „Cyberspace“ lieferte. Seit einigen Jahren aber funktioniert das deutlich anders als damals. Nicht Gibsons Sensorium hat sich im letzten Jahrzehnt geändert, sehr wohl aber seine Verfahrensweise.
Was durchaus mit diesem letzten Jahrzehnt zu tun haben könnte. „Systemneustart“, im amerikanischen Original von 2010 „Zero History“, ist Höhepunkt und Abschluss einer lose verbundenen Romantrilogie, die Gibson 2003 mit „Mustererkennung“ begonnen und 2007 mit „Quellcode“ fortgeführt hat. Die Erscheinungsdaten sind wichtig: Gibsons neue Werkphase setzt nach dem elften September ein, und nach dem Schauspiel des entfesselten Neuen Marktes. Überaus lässig antwortet seine Trilogie auf eine weltweit durchgesetzte, hysterisch beschleunigende Datengesellschaft, deren Innovationstempo jede fiktionale Weitertreibung sinnlos erscheinen lässt.
Gibson reagiert ganz simpel: Er spitzt seine Befunde nicht mehr in Zukunftsvisionen und Leitbegriffen zu, er verflacht sie eher. Klar, es gibt noch Romanhandlungen, doch scheinen sie jetzt noch unwichtiger als früher. In einer Art Freischwebstil schweifender Aufmerksamkeit werden stattdessen einfach Objekte, Räume und Szenerien des unmittelbaren Tagesgeschehens zueinander gestellt.
In „Systemneustart‘ kann ein Trenchcoat, den Roberto Cavalli für H&M geschneidert hat, ebenso schilderungswürdig erscheinen wie die Innendekoration eines Pariser Tee-Stores mit W-Lan-Hotspot. Von da ist es nicht weit zum Netz der Überwachungskameras in der Londoner City, und davon gelangt man dann etwa zu Überlegungen über „Terrorismus als Markenbildung“. Hat Gibson früher Sciencefiction geschrieben, so frönt er im neuen Jahrtausend nur noch der puren Gegenwart. Die aber schaut so zurück, wie sie von ihm betrachtet wird. Gibsons eigenartig springende, detailversessene Beobachtungsweise erzeugt irritierende Textflächen: Man liest von unserem scheinbar selbstverständlichen Alltag zu Anfang des 21. Jahrhunderts und merkt plötzlich, dass dieser leibhaftig eingetretene Sciencefiction ist.
Das geht Ex-Junkie Milgrim ähnlich, der nach vielen Jahren im Drogendämmer aus einem Sanatorium heraus auf die Romanbühne plumpst: „Weicher Ton, der nur darauf wartete, dass das neue Jahrhundert seinen verräterischen Abdruck auf ihm hinterließ.“ Milgrim ist zuständig für möglichst unwillkürliches Zeitempfinden, ihm gegenüber steht abgebrühter und thesenfester die Ex-Rocksängerin Hollis Henry. Beide gab es schon in „Quellcode“, hier jedoch werden sie zum ersten Mal vor den gleichen Karren gespannt. Wie meist bei Gibson (irgendetwas muss ja passieren) gibt es in locker nachgeahmter Thrillermanier einen Suchauftrag, dazu jede Menge Gegenaufträge, Seitenwechsel und Palastrevolutionen mit entspannt nebulös auf- und abtretendem Personal.
An allen Fäden zieht auch diesmal der Medien-Hai Hubertus Bigend, eine Art ewiger New Economy-Mabuse mit Hang zu Frühstücksfleisch und ordinären Anzugsfarben. Bigend modelliert durch seine Aufträge die Beobachtungsinteressen Gibsons nach – zum Abschluss der Trilogie geht es ihm um: „Guerillamarketingstrategien. Seltsame Umkehrungen der Käuferlogik. Die absichtliche Konstruktion von parallelen Mikroökonomien, wo Wissen wichtiger ist als Reichtum.“
Milgrim und Hollis sollen eine ominöse Designerin aufstöbern, deren Mode als Geheimmarke nicht in den Handel kommt und darum bei Sammlern weltweit begehrt ist. Bigend will – ein für William Gibson bezeichnend irrer Assoziationssprung – mittels dieser Geheimmarke Uniform-Aufträge des US-Militärs an Land ziehen. „Der Designcode männlicher Straßenkleidung des 21. Jahrhunderts wurde größtenteils vom Code der Militärkleidung der Mitte des vergangenen Jahrhunderts beherrscht“; aus diesem Grund stünden offizielle Uniformschneidereien in ungünstigem Wettbewerb mit ihrem eigenen Produkt. Auffrischung kann nur aus abgekoppelten Reservoirs kommen, die nicht an „die Semiotik amerikanischer Massenbekleidung“ angeschlossen sind.
Denkt man das weiter, so nähert man sich einer der Ideen, die Gibson reichlich in seinem Wimmelbild versteckt hat. Nicht umsonst besteht das Personal seiner drei Jetztzeit-Romane komplett aus seltsam kernlosen, globalisierten Flexibelkreaturen wie Milgrim und Hollis, die auf ein Wort von Hubertus Bigend hin jederzeit jeden noch so absurden Suchauftrag annehmen würden. Als Stammesangehörige der weltweiten Aufmerksamkeitsökonomie können sie offenkundig gar nicht anders, als immer nur dem nächsten Trend nachzujagen. Heimlicher Sehnsuchtsort ist daher die Abkopplung, das Off. Es gibt einen erschütternden Moment in „Systemneustart“, als Hollis Henry endlich die Geheimdesignerin findet: Die beiden einigen sich, den Namen der Designerin nicht zu nennen. Sie machen ihn gewissermaßen ungooglebar für die Ränkespiele der Romanchargen und die gesamte Welt.
Was aber bedeutet ein solches absichtliches Verstummen bei einem Schriftsteller wie Gibson, der doch die gesamte Trilogie über die Orte, Institutionen und Praktiken unserer Gesellschaft mit nichts als Gerede, mit Aberhunderten von Nennungen aufgerufen hat? Früher, zu Zeiten der „Neuromancer“-Bücher, kämpften bei ihm noch Außenseiter gegen eine menschenfeindliche High-Tech-Welt an. In seiner aktuellen Trilogie dagegen sind Helden wie Milgrim und Hollis freundlich-trendsurfende Macbook-Besitzer, und auch er selbst scheint – vordergründig unkritisch – vor allem befasst mit dem Durchsuchen und Bewerten unserer Zeit. Die Sciencefiction-Welt unserer Tage wird anscheinend nicht von Maschinen beherrscht, sondern von Meinungen und Meinungsmache. Die Zeitdiagnostik, die der Schriftsteller William Gibson von seinem Romandebüt an so überaus erfolgreich betrieben hat – in seiner klugen, lustigen, entspannten Bestandsaufnahme der Gegenwart hat sie uns alle erfasst.
FLORIAN KESSLER
WILLIAM GIBSON: Systemneustart. Aus dem Amerikanischen von Hannes und Sara Riffel. Tropen Verlag, Stuttgart 2011. 490 Seiten, 24,95 Euro.
Für eine geheimes Mode-Label Aufträge des US-Militärs an Land ziehen: Das ist die Geschäftsidee in „Systemneustart“. Fotos: picture press (links), picture alliance/dpa
William Gibson. Foto: wireimage
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem jüngsten Roman „Systemneustart“ verkuppelt William Gibson die Military-Mode mit der realen US-Armee
Der Schriftsteller William Gibson ist bei seinen Lesern dafür berühmt, Zeitgenossenschaft auf den Punkt zu bringen. Gelesen und verehrt wird er für die außerordentliche Fähigkeit, aus den schwirrenden Erscheinungen der Gegenwart allgemeine Konzepte und Bilder abzuleiten. Das ist seit seinem ersten Roman „Neuromancer“ so, der dem diffus aufziehenden digitalen Zeitalter 1984 die Leitidee vom „Cyberspace“ lieferte. Seit einigen Jahren aber funktioniert das deutlich anders als damals. Nicht Gibsons Sensorium hat sich im letzten Jahrzehnt geändert, sehr wohl aber seine Verfahrensweise.
Was durchaus mit diesem letzten Jahrzehnt zu tun haben könnte. „Systemneustart“, im amerikanischen Original von 2010 „Zero History“, ist Höhepunkt und Abschluss einer lose verbundenen Romantrilogie, die Gibson 2003 mit „Mustererkennung“ begonnen und 2007 mit „Quellcode“ fortgeführt hat. Die Erscheinungsdaten sind wichtig: Gibsons neue Werkphase setzt nach dem elften September ein, und nach dem Schauspiel des entfesselten Neuen Marktes. Überaus lässig antwortet seine Trilogie auf eine weltweit durchgesetzte, hysterisch beschleunigende Datengesellschaft, deren Innovationstempo jede fiktionale Weitertreibung sinnlos erscheinen lässt.
Gibson reagiert ganz simpel: Er spitzt seine Befunde nicht mehr in Zukunftsvisionen und Leitbegriffen zu, er verflacht sie eher. Klar, es gibt noch Romanhandlungen, doch scheinen sie jetzt noch unwichtiger als früher. In einer Art Freischwebstil schweifender Aufmerksamkeit werden stattdessen einfach Objekte, Räume und Szenerien des unmittelbaren Tagesgeschehens zueinander gestellt.
In „Systemneustart‘ kann ein Trenchcoat, den Roberto Cavalli für H&M geschneidert hat, ebenso schilderungswürdig erscheinen wie die Innendekoration eines Pariser Tee-Stores mit W-Lan-Hotspot. Von da ist es nicht weit zum Netz der Überwachungskameras in der Londoner City, und davon gelangt man dann etwa zu Überlegungen über „Terrorismus als Markenbildung“. Hat Gibson früher Sciencefiction geschrieben, so frönt er im neuen Jahrtausend nur noch der puren Gegenwart. Die aber schaut so zurück, wie sie von ihm betrachtet wird. Gibsons eigenartig springende, detailversessene Beobachtungsweise erzeugt irritierende Textflächen: Man liest von unserem scheinbar selbstverständlichen Alltag zu Anfang des 21. Jahrhunderts und merkt plötzlich, dass dieser leibhaftig eingetretene Sciencefiction ist.
Das geht Ex-Junkie Milgrim ähnlich, der nach vielen Jahren im Drogendämmer aus einem Sanatorium heraus auf die Romanbühne plumpst: „Weicher Ton, der nur darauf wartete, dass das neue Jahrhundert seinen verräterischen Abdruck auf ihm hinterließ.“ Milgrim ist zuständig für möglichst unwillkürliches Zeitempfinden, ihm gegenüber steht abgebrühter und thesenfester die Ex-Rocksängerin Hollis Henry. Beide gab es schon in „Quellcode“, hier jedoch werden sie zum ersten Mal vor den gleichen Karren gespannt. Wie meist bei Gibson (irgendetwas muss ja passieren) gibt es in locker nachgeahmter Thrillermanier einen Suchauftrag, dazu jede Menge Gegenaufträge, Seitenwechsel und Palastrevolutionen mit entspannt nebulös auf- und abtretendem Personal.
An allen Fäden zieht auch diesmal der Medien-Hai Hubertus Bigend, eine Art ewiger New Economy-Mabuse mit Hang zu Frühstücksfleisch und ordinären Anzugsfarben. Bigend modelliert durch seine Aufträge die Beobachtungsinteressen Gibsons nach – zum Abschluss der Trilogie geht es ihm um: „Guerillamarketingstrategien. Seltsame Umkehrungen der Käuferlogik. Die absichtliche Konstruktion von parallelen Mikroökonomien, wo Wissen wichtiger ist als Reichtum.“
Milgrim und Hollis sollen eine ominöse Designerin aufstöbern, deren Mode als Geheimmarke nicht in den Handel kommt und darum bei Sammlern weltweit begehrt ist. Bigend will – ein für William Gibson bezeichnend irrer Assoziationssprung – mittels dieser Geheimmarke Uniform-Aufträge des US-Militärs an Land ziehen. „Der Designcode männlicher Straßenkleidung des 21. Jahrhunderts wurde größtenteils vom Code der Militärkleidung der Mitte des vergangenen Jahrhunderts beherrscht“; aus diesem Grund stünden offizielle Uniformschneidereien in ungünstigem Wettbewerb mit ihrem eigenen Produkt. Auffrischung kann nur aus abgekoppelten Reservoirs kommen, die nicht an „die Semiotik amerikanischer Massenbekleidung“ angeschlossen sind.
Denkt man das weiter, so nähert man sich einer der Ideen, die Gibson reichlich in seinem Wimmelbild versteckt hat. Nicht umsonst besteht das Personal seiner drei Jetztzeit-Romane komplett aus seltsam kernlosen, globalisierten Flexibelkreaturen wie Milgrim und Hollis, die auf ein Wort von Hubertus Bigend hin jederzeit jeden noch so absurden Suchauftrag annehmen würden. Als Stammesangehörige der weltweiten Aufmerksamkeitsökonomie können sie offenkundig gar nicht anders, als immer nur dem nächsten Trend nachzujagen. Heimlicher Sehnsuchtsort ist daher die Abkopplung, das Off. Es gibt einen erschütternden Moment in „Systemneustart“, als Hollis Henry endlich die Geheimdesignerin findet: Die beiden einigen sich, den Namen der Designerin nicht zu nennen. Sie machen ihn gewissermaßen ungooglebar für die Ränkespiele der Romanchargen und die gesamte Welt.
Was aber bedeutet ein solches absichtliches Verstummen bei einem Schriftsteller wie Gibson, der doch die gesamte Trilogie über die Orte, Institutionen und Praktiken unserer Gesellschaft mit nichts als Gerede, mit Aberhunderten von Nennungen aufgerufen hat? Früher, zu Zeiten der „Neuromancer“-Bücher, kämpften bei ihm noch Außenseiter gegen eine menschenfeindliche High-Tech-Welt an. In seiner aktuellen Trilogie dagegen sind Helden wie Milgrim und Hollis freundlich-trendsurfende Macbook-Besitzer, und auch er selbst scheint – vordergründig unkritisch – vor allem befasst mit dem Durchsuchen und Bewerten unserer Zeit. Die Sciencefiction-Welt unserer Tage wird anscheinend nicht von Maschinen beherrscht, sondern von Meinungen und Meinungsmache. Die Zeitdiagnostik, die der Schriftsteller William Gibson von seinem Romandebüt an so überaus erfolgreich betrieben hat – in seiner klugen, lustigen, entspannten Bestandsaufnahme der Gegenwart hat sie uns alle erfasst.
FLORIAN KESSLER
WILLIAM GIBSON: Systemneustart. Aus dem Amerikanischen von Hannes und Sara Riffel. Tropen Verlag, Stuttgart 2011. 490 Seiten, 24,95 Euro.
Für eine geheimes Mode-Label Aufträge des US-Militärs an Land ziehen: Das ist die Geschäftsidee in „Systemneustart“. Fotos: picture press (links), picture alliance/dpa
William Gibson. Foto: wireimage
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de