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Produktdetails
  • Rotbuch Taschenbücher Nr.1015
  • Verlag: Rotbuch Verlag
  • 1995.
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 349g
  • ISBN-13: 9783880223653
  • ISBN-10: 3880223653
  • Artikelnr.: 05702343
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.1995

Barrikaden des Gewissens
Cum ira et studio: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi

Klaus Behnke, Jürgen Fuchs (Herausgeber): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Rotbuch Taschenbuch 1015. Rotbuch Verlag, Hamburg 1995, 347 Seiten, 24,90 Mark.

Um aus ihren "Inoffiziellen Mitarbeitern" (IMs) wirklich alles herauszuholen, mußten die Führungsoffiziere psychologische, ja fast psychotherapeutische Qualitäten haben. Denn neben den ideologisch überzeugten Spitzeln gab es viele, die aus Suche nach Geborgenheit, Anlehnung, aus Schwäche, aus dem Drang nach Identifikation mit der Macht, aus einem in ihren Biographien verankerten Zwang oder wenigstens der Bereitschaft zum Verrat mitmachten. Sie zu rekrutieren, bei der Stange zu halten, zu überprüfen, neu zu motivieren und ihr Feindbild zu festigen, bedurfte es der Menschenkenntnis wie der Einfühlung. Aber die Führungsoffiziere mußten auch wissen, wie man "zersetzt", Mißtrauen sät, angst macht, einschüchtert. Es kam wohl zu einer latenten Rivalität zwischen zwei Denkschulen: den Repressions-Praktikern des gesunden tschekistischen Menschenverstandes und denen, die auf Verwissenschaftlichung der Zersetzung hofften. Die wissenschaftlich-praktischen "Lernziele" der Destruktion förderten Vertreter von Psychologie und Psychiatrie, die sich in den Dienst der Herrschaftssicherung stellten, zum Teil sogar in der "Tarnkappe" von Therapie und Beratung, meist aber in geheimer und nur dem Ministerium für Staatssicherheit zugänglicher Forschung. Psychologie und Psychiatrie ließen sich vielfach in Dienst nehmen. Es gab Orden für erfolgreiches Aushorchen von Menschen in der mißbrauchten Arzt-Patient-Situation. Der hippokratische Eid wurde verfälscht durch die größere Loyalität zur politischen Führung oder zum MfS, das sich nicht scheute, im internen Betrieb rühmend von "tschekistischer Psychiatrie" zu sprechen. Totalitäre Systeme, und so auch die SED-Regierung, definieren Gegnerschaft, aber oft auch schon loyale Kritik als eine Art Krankheit, der es mit allen Mitteln zu Leibe zu rücken gilt. Menschen mit starker Selbständigkeit oder starkem Gewissen werden dabei gleichsam zu staatsfeindlichen Viren, deren Ausbreitung auch um den Preis ihrer Zerstörung verhindert werden muß. Aus dieser Sicht ist bereits das Pochen eines Menschen auf seine Freiheitsrechte ein Beweis dafür, daß er im Lager des "Klassenfeindes" steht.

Der von Klaus Behnke und Jürgen Fuchs, zwei stasileidgeprüften Dissidenten und Psychologen, herausgegebene Band "Zersetzung der Seele", der zum Teil auf einen Kongreß in der früheren Stasi-Zentrale zurückgeht, sieht die Stasi, so wenige Jahre nach der Wende sicher zu Recht, im wesentlichen aus der Perspektive der Opfer, also begreiflicherweise cum ira et studio, mit Zorn und wohl auch mit Rachegefühlen. Breiten Raum nehmen in verschiedenen Beiträgen die Rekrutierung der IMs, die Prinzipien ihrer Führung, zu denen neben der "Vervollkommnung des Feindbildes" auch die Loslösung von individuellen Gewissensregungen gegenüber dem bespitzelten Freundeskreis gehört. Daran sind viele zerbrochen, auch wenn der Führungsoffizier Hilfe gab bei der Erkenntnis, daß jede Freundschaft aufzuhören hat, wenn es um Absichten etwa von Republikflucht ging. Im Zentrum jeder Loyalität durfte nur noch das allwissende und allmächtige MfS stehen. Gegenüber dem "Klassenfeind" war alles erlaubt. Oberstes Ziel war totale Kontrolle und Zerschlagung schon der "Keimbahnen" gefährlichen Denkens und "staatsfeindlicher" Gruppenbildung - dafür genügte oft schon eine Betätigung in kirchlichen Gruppen.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, daß Honecker, Mielke und andere ihre Prägung im Untergrund oder in den Gefängnissen des NS-Staates oder unter der Anleitung des Stalinismus erhielten, und dem Ausmaß der paranoiden Perfektionierung der geheimen Kontrolle über ein Volk, dem man mißtraute.

Was in dem Band fehlt, sind Überlegungen darüber, wie sich wohl die geheimen Untergangs- und Unrechtsphantasien ausgewirkt haben, die es trotz Honeckers blinder Zuversicht in den Sieg des Sozialismus bis kurz vor seinem Zusammenbruch gegeben haben muß. Das paranoide Klima der Stasi war ja in gewissem Sinn berechtigt. Es richtete sich nur in grotesker Verkennung der Weltpolitik gegen den "inneren Feind", der die größte Gefahr darzustellen schien, letztlich also gegen die Seelen seiner Bürger.

Einige Beiträge sind den moralischen Modellen des gelungenen "Ausstiegs" aus dem konspirativen Verrat gewidmet. Das führt sehr rasch zu einer Ethik der tapferen Vorbilder mit dem Tenor: Widerstand war jederzeit möglich, mit der latenten Beschuldigung aller übrigen, die diese moralische Kraft nicht besaßen. Anderseits lassen wichtige Aufsätze erkennen, wie raffiniert die Stasi, nach langem "Vorlauf", jede Schwäche und Erpreßbarkeit des zukünftigen IMs erkundete. Die Verflechtung von privater Pathologie und Verfallensein an den Auftrag ist immer wieder erschütternd: Das Kindheitselend quillt aus den Biographien der Verstrickten und erschwert die Anwendung von klaren Begriffen wie Schuld, Strafe und Verbrechen. Man hat sozusagen im System von einer latenten Infektion mit paranoider Angst und Bereitschaft zum Verrat auszugehen, einer "Volkskrankheit Stasi", die sich der verschiedensten Seelenlagen bediente. Oft bildet jedoch ideologische Überzeugung, ja Fanatismus den Hintergrund der Motivation. Es wird deutlich, daß viele Spitzel den Auftrag sehnlich erwartet haben als eine Auszeichnung. Andererseits wird aus MfS-internen statistischen Auswertungen klar, daß der ideologische Führungsauftrag der Offiziere bei wankelmütigen IMs Wirkung zeigte: Nach einigen Dienstjahren als IM wuchs die ideologische Rechtfertigung, ja Verklärung des Auftrags. Die Ideologie der unversöhnlichen Feindschaft zwischen den politischen Lagern bildete die Abfederung des Gewissens. Wenn es dann noch gelang, den Ausdruck "Spitzel" als aus dem Wortschatz des "Gegners" kommend zu entlarven, war eine der letzten Gewissensbarrieren gefallen. TILMANN MOSER

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