Vor 40 Jahren veröffentlichte Arno Schmidt sein wichtigstes Werk, Zettel's Traum: 1334 DIN-A-3-Seiten stark, über zehn Kilogramm schwer und als Faksimile vervielfältigt. Schmidts eigene Befürchtung - »Es wird sich nicht mehr setzen lassen« - hatte sich bewahrheitet. Vor dem komplexen Layout des dreispaltigen Romans mit seinen zahlreichen Randglossen kapitulierten Setzerei und Verlag.Nun endlich erscheint Zettel's Traum, das Werk, das Arno Schmidt auf einen Schlag berühmt machte, als gesetztes Buch. Jahrelange Arbeit von Setzern, Editoren und Korrektoren war nötig, um einen lesefreundlichen Schriftsatz herzustellen, ohne den Charakter des »Überbuchs« (Arno Schmidt) zu verändern und seine Eigenheiten zu glätten.Mit dieser Ausgabe gilt es, einen Riesenroman neu zu entdecken: Er erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem alternden Schriftsteller Daniel Pagenstecher und der sechzehnjährigen Franziska Jacobi und von Leben und Werk Edgar Allan Poes. Er entwirft eine eigene Literaturtheorie in der Nachfolge Sigmund Freuds und entwickelt wie nebenbei eine neue Rechtschreibung, die zum Beispiel die wahren Eigenschaften eines »Pleas'-see=Rocks« enthüllt. In Zettels' Traum finden Arno Schmidts Bemühungen um eine moderne Prosaform und eine angemessene sprachliche Abbildung des menschlichen Bewusstseins ihren vorläufigen Höhepunkt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können
Editorische Meisterleistung: Seit vierzig Jahren wird "Zettel's Traum" als Faksimile verlegt, mit allen Korrekturen und Ergänzungen. Jetzt erscheint Arno Schmidts Hauptwerk als richtiges Buch.
Von Tilman Spreckelsen
Gründe dafür, Arno Schmidts Riesenroman "Zettel's Traum" nicht zu lesen, gibt es genug: Die komplette Lektüre ist eine Arbeit von Wochen, wenn nicht von Monaten. Für den Preis noch der günstigsten Ausgabe wären sämtliche Finalisten des Deutschen Buchpreises zu haben. Ferner: Ist über den 1970 erschienenen Roman nicht längst die Zeit hinweggegangen? Und muss einer eigentlich so schreiben, dass jedes Rechtschreibprüfprogramm den Text in ein einziges Rot tauchen würde: "nur 2 abstracte Genossn hat er noch, ,Place & Time' - (: ? - : nu ,play & cloac'!)"?
Wer so fragt, befindet sich im empirisch ermittelten Modell der individuellen Arno-Schmidt-Leserschaft in Phase 1, vielleicht auch schon in Phase 3: Die erste gehört der vorsichtigen Annäherung an den Autor, vorzugsweise vom Leichten zum Schweren. Man fängt also etwa mit Schmidts Zeitungsarbeiten oder den kleinen Erzählungen an, vielleicht auch mit den frühen Romanen "Leviathan" oder "Brand's Heide" und begeistert sich an einer Sprache, die auf exakte Weltabbildung zielt, aber erfreulicherweise nie die nächste Pointe aus den Augen lässt. Es folgt Phase 2, die von Anhängerschaft gezeichnet ist und zu einer wachsenden Vertrautheit mit jedem Satz führt, den Arno Schmidt je veröffentlicht hat. Das allerdings ebnet den Weg in Phase 3, den Überdruss: Die "wiederholungsfreie Fülle" der sprachlichen Äußerung, die einer seiner Helden für sich in Anspruch nimmt, gilt für den Autor ganz sicher nicht, manche seiner Witze riechen mittlerweile ranzig, das ewige Backenaufblasen seiner Erzähler ermüdet - und dann erst die unangenehmen Besserwisser unter den Schmidt-Lesern aus Phase 2!
Für viele war es das dann mit Arno Schmidt. Glücklich, wer trotzdem die vierte Phase erreicht, die des entspannten, amüsierten Wiederlesens. "Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können", schreibt Schmidt einmal irgendwo. Und wer wollte ihm da widersprechen?
Wer so denkt, ist reif für "Zettel's Traum", Arno Schmidts erklärtes Opus Magnum in acht Büchern, das im Frühjahr 1970 erschien und insgesamt etwa ein Viertel des Gesamtwerks Schmidts bildet. Die äußere Handlung umfasst vierundzwanzig Sommerstunden und ist so schlicht wie die innere kompliziert. Der eremitenhaft im südlichen Niedersachsen lebende Ex-Schriftsteller und Privatgelehrte Daniel ("Dän") Pagenstecher bekommt Besuch von dem befreundeten Übersetzerpaar Paul und Wilma Jacobi sowie deren sechzehnjähriger Tochter Franziska. Man spricht über Edgar Allan Poe, dessen Werke Paul und Wilma gerade ins Deutsche übertragen. Daniel versucht, ihnen seine "Etym"-Theorie näherzubringen, der zufolge sich im Klang und in der Schreibweise von Worten ein verborgener Sinn manifestiere. Während zwischen ihm und Franziska eine besondere Vertrautheit besteht und Paul vor seiner dominanten Gattin Trost im Alkohol sucht, lässt Wilma keine Gelegenheit aus, Franziska herunterzuputzen. Daniel erfährt schließlich, dass Franziska die Schule verlassen soll, um eine Lehre als Schuhverkäuferin zu beginnen. Einige Spaziergänge und Gespräche später erklärt Daniel sich bereit, Franziskas Ausbildung zu finanzieren, unter der Bedingung, dass sie ihn niemals mehr besuchen wird. Schließlich drückt er sich vor dem Abschied im Morgengrauen des nächsten Tages, beobachtet aber den Aufbruch der Jaobis genau, unter heftigen Selbstanklagen: ",Hau ab Kerl ! : in Deine WahnWeltn !' Oder: ,Hock doch ein in Dein verwünschtes FrazznHaus, Spinner ! : MondscheinMensch !' Auch: ,Geh lieber ma zu'm Arzt, armis Schwein ! Am bestn gleich zu Mehreren.'"
Solche Stellen machen "Zettel's Traum" zum Solitär - Passagen, die Kodderschnauze und weiches Herz des Erzählers gleichermaßen abbilden und auch in ihrer Orthographie ein Element von Sprunghaftigkeit offenbaren, das als Dauerreibefläche den Leser vor jeder flüchtigen Rezeption bewahrt. Einlesen aber wird man sich müssen, und das nicht zu knapp, auch wenn sich der Diskurs unter den Romanfiguren mitunter als überraschend schlicht offenbart.
Bislang ist das Buch, dessen Text über drei jeweils eigenen Erzählebenen gewidmeten Spalten mäandert, so publiziert worden, wie es die Schreibmaschine des Autors verlassen hat: Schmidt hielt sein Typoskript für nicht adäquat zu setzen, und so entspricht die seither in verschiedenen Ausgaben und insgesamt etwa 20 000 Exemplaren verbreitete Fassung einem Faksimile, das sämtliche Ausstreichungen und oft mit winzigem Bleistift notierte Verbesserungen des Autors getreu bewahrt. Ein work in progress also, was zum einen die Lesbarkeit minderte, zum anderen aber natürlich zur Aura des geheimnisvollen, alle Kategorien sprengenden Buches beitrug.
Muss das so sein? Offensichtlich nicht, denn die drei Romane, die "Zettel's Traum" noch folgten, bis Schmidt 1979 gestorben ist, wurden in den vergangenen Jahrzehnten durch den Typographen Friedrich Forssman erstmals gesetzt und damit einer Behandlung unterzogen, wie sie jetzt auch dem Großroman zuteil geworden ist. Schon am Beispiel von "Die Schule der Atheisten", "Abend mit Goldrand" und "Julia" also zeigte sich, dass die Typoskriptgestalt der späten Romane eben nicht schicksalhaft vorgegeben, sondern aus der damaligen Not geboren war.
Allerdings ist "Zettel's Traum" schon aufgrund des schieren Umfangs ein anderes Kaliber - erst jetzt, vierzig Jahre nach dem Erstdruck des Faksimiles, liegt es als gesetztes Buch vor. In einem "Editorischen Nachbericht" listet die Herausgeberin Susanne Fischer getreulich auf, wo sie in das Typoskript eingegriffen hat, um etwaige Tippfehler Schmidts zu korrigieren. Bleistiftanmerkungen wurden in den Text überführt, Streichungen als Streichungen behandelt und nunmehr unsichtbar gemacht, eingeklebte Bilder und Zeichnungen neuerlich an die vorgesehene Stelle gebracht. All dies ist tadellos und dient dem Leser mit diskreter Effizienz. Und an der einen Stelle, wo man einen riesigen schwarzen Block im Text nicht missen möchte, dort nämlich, wo Daniel Pagenstecher einen Herzinfarkt erleidet und dem Tod unmittelbar ins Auge blickt (Seite 752 der alten Fassung und Seite 793 der neuen), dort also findet sich auch in der gesetzten Ausgabe ein schwarzer Kasten als memento mori. Das ist weder eigenmächtig noch inkonsequent: Anders als bei allen übrigen Schwärzungen ist hier hinter der Farbe kein eliminierter Text verborgen - das dunkle Rechteck steht also offenbar im Text, weil es genau dort stehen soll. Und markiert so eine der unheimlichsten Stellen des gesamten Romans.
Stolpersteine gibt es also genug in "Zettel's Traum", im Typoskript wie in der gesetzten Ausgabe. Das betrifft nicht zuletzt die Liebesgeschichte zwischen Daniel Pagenstecher und der ihn anhimmelnden Franziska, die man rührend oder albern finden mag, manchmal beides zugleich. Und man wird dort, durch frühere Schmidt-Lektüre zur Wachsamkeit erzogen, nach einem Verweissystem auf andere Texte suchen. ",WirsDu verschwiegn sein?' / ,Wie ein Fisch'chin!' (rief Sie begeistert) : ,Such Du schon immer aus - : Was De Mir dann, abmds, im Winter, vorliest : ach, Unser liebes=kleines=vertrauliches Haus!'" Meint der Autor, meint Franziska das so? Ist das ein albernes Zitat aus einem Rührstück um 1800 (Schmidt kannte sich da bestens aus)? Legt Schmidt das Franziska in den Mund, oder zitiert das Mädchen da etwas, das sich auch Daniel sofort als Zitat erschließt, womöglich aufgrund gemeinsamer Lektüre? Oder geht man mit derlei dem Autor nur umso gehöriger auf den Leim? "Satan dociert aus Dir", sagt Wilma einmal zu Daniel, und selten war man so auf ihrer Seite wie hier.
"Mit diesem Band ist die Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts abgeschlossen", heißt es im Prospekt, der jetzt "Zettel's Traum" ankündigt - was für ein bescheidener, was für ein stolzer Satz. Grund genug, eine fünfundzwanzigjährige philologische Arbeit zu würdigen, die mit dieser editorischen und typographischen Meisterleistung einen fulminanten Schlusspunkt setzt.
Arno Schmidt: "Zettel's Traum". Herausgegeben von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 1513 S., br., 198 [Euro].
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Editorische Meisterleistung: Seit vierzig Jahren wird "Zettel's Traum" als Faksimile verlegt, mit allen Korrekturen und Ergänzungen. Jetzt erscheint Arno Schmidts Hauptwerk als richtiges Buch.
Von Tilman Spreckelsen
Gründe dafür, Arno Schmidts Riesenroman "Zettel's Traum" nicht zu lesen, gibt es genug: Die komplette Lektüre ist eine Arbeit von Wochen, wenn nicht von Monaten. Für den Preis noch der günstigsten Ausgabe wären sämtliche Finalisten des Deutschen Buchpreises zu haben. Ferner: Ist über den 1970 erschienenen Roman nicht längst die Zeit hinweggegangen? Und muss einer eigentlich so schreiben, dass jedes Rechtschreibprüfprogramm den Text in ein einziges Rot tauchen würde: "nur 2 abstracte Genossn hat er noch, ,Place & Time' - (: ? - : nu ,play & cloac'!)"?
Wer so fragt, befindet sich im empirisch ermittelten Modell der individuellen Arno-Schmidt-Leserschaft in Phase 1, vielleicht auch schon in Phase 3: Die erste gehört der vorsichtigen Annäherung an den Autor, vorzugsweise vom Leichten zum Schweren. Man fängt also etwa mit Schmidts Zeitungsarbeiten oder den kleinen Erzählungen an, vielleicht auch mit den frühen Romanen "Leviathan" oder "Brand's Heide" und begeistert sich an einer Sprache, die auf exakte Weltabbildung zielt, aber erfreulicherweise nie die nächste Pointe aus den Augen lässt. Es folgt Phase 2, die von Anhängerschaft gezeichnet ist und zu einer wachsenden Vertrautheit mit jedem Satz führt, den Arno Schmidt je veröffentlicht hat. Das allerdings ebnet den Weg in Phase 3, den Überdruss: Die "wiederholungsfreie Fülle" der sprachlichen Äußerung, die einer seiner Helden für sich in Anspruch nimmt, gilt für den Autor ganz sicher nicht, manche seiner Witze riechen mittlerweile ranzig, das ewige Backenaufblasen seiner Erzähler ermüdet - und dann erst die unangenehmen Besserwisser unter den Schmidt-Lesern aus Phase 2!
Für viele war es das dann mit Arno Schmidt. Glücklich, wer trotzdem die vierte Phase erreicht, die des entspannten, amüsierten Wiederlesens. "Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können", schreibt Schmidt einmal irgendwo. Und wer wollte ihm da widersprechen?
Wer so denkt, ist reif für "Zettel's Traum", Arno Schmidts erklärtes Opus Magnum in acht Büchern, das im Frühjahr 1970 erschien und insgesamt etwa ein Viertel des Gesamtwerks Schmidts bildet. Die äußere Handlung umfasst vierundzwanzig Sommerstunden und ist so schlicht wie die innere kompliziert. Der eremitenhaft im südlichen Niedersachsen lebende Ex-Schriftsteller und Privatgelehrte Daniel ("Dän") Pagenstecher bekommt Besuch von dem befreundeten Übersetzerpaar Paul und Wilma Jacobi sowie deren sechzehnjähriger Tochter Franziska. Man spricht über Edgar Allan Poe, dessen Werke Paul und Wilma gerade ins Deutsche übertragen. Daniel versucht, ihnen seine "Etym"-Theorie näherzubringen, der zufolge sich im Klang und in der Schreibweise von Worten ein verborgener Sinn manifestiere. Während zwischen ihm und Franziska eine besondere Vertrautheit besteht und Paul vor seiner dominanten Gattin Trost im Alkohol sucht, lässt Wilma keine Gelegenheit aus, Franziska herunterzuputzen. Daniel erfährt schließlich, dass Franziska die Schule verlassen soll, um eine Lehre als Schuhverkäuferin zu beginnen. Einige Spaziergänge und Gespräche später erklärt Daniel sich bereit, Franziskas Ausbildung zu finanzieren, unter der Bedingung, dass sie ihn niemals mehr besuchen wird. Schließlich drückt er sich vor dem Abschied im Morgengrauen des nächsten Tages, beobachtet aber den Aufbruch der Jaobis genau, unter heftigen Selbstanklagen: ",Hau ab Kerl ! : in Deine WahnWeltn !' Oder: ,Hock doch ein in Dein verwünschtes FrazznHaus, Spinner ! : MondscheinMensch !' Auch: ,Geh lieber ma zu'm Arzt, armis Schwein ! Am bestn gleich zu Mehreren.'"
Solche Stellen machen "Zettel's Traum" zum Solitär - Passagen, die Kodderschnauze und weiches Herz des Erzählers gleichermaßen abbilden und auch in ihrer Orthographie ein Element von Sprunghaftigkeit offenbaren, das als Dauerreibefläche den Leser vor jeder flüchtigen Rezeption bewahrt. Einlesen aber wird man sich müssen, und das nicht zu knapp, auch wenn sich der Diskurs unter den Romanfiguren mitunter als überraschend schlicht offenbart.
Bislang ist das Buch, dessen Text über drei jeweils eigenen Erzählebenen gewidmeten Spalten mäandert, so publiziert worden, wie es die Schreibmaschine des Autors verlassen hat: Schmidt hielt sein Typoskript für nicht adäquat zu setzen, und so entspricht die seither in verschiedenen Ausgaben und insgesamt etwa 20 000 Exemplaren verbreitete Fassung einem Faksimile, das sämtliche Ausstreichungen und oft mit winzigem Bleistift notierte Verbesserungen des Autors getreu bewahrt. Ein work in progress also, was zum einen die Lesbarkeit minderte, zum anderen aber natürlich zur Aura des geheimnisvollen, alle Kategorien sprengenden Buches beitrug.
Muss das so sein? Offensichtlich nicht, denn die drei Romane, die "Zettel's Traum" noch folgten, bis Schmidt 1979 gestorben ist, wurden in den vergangenen Jahrzehnten durch den Typographen Friedrich Forssman erstmals gesetzt und damit einer Behandlung unterzogen, wie sie jetzt auch dem Großroman zuteil geworden ist. Schon am Beispiel von "Die Schule der Atheisten", "Abend mit Goldrand" und "Julia" also zeigte sich, dass die Typoskriptgestalt der späten Romane eben nicht schicksalhaft vorgegeben, sondern aus der damaligen Not geboren war.
Allerdings ist "Zettel's Traum" schon aufgrund des schieren Umfangs ein anderes Kaliber - erst jetzt, vierzig Jahre nach dem Erstdruck des Faksimiles, liegt es als gesetztes Buch vor. In einem "Editorischen Nachbericht" listet die Herausgeberin Susanne Fischer getreulich auf, wo sie in das Typoskript eingegriffen hat, um etwaige Tippfehler Schmidts zu korrigieren. Bleistiftanmerkungen wurden in den Text überführt, Streichungen als Streichungen behandelt und nunmehr unsichtbar gemacht, eingeklebte Bilder und Zeichnungen neuerlich an die vorgesehene Stelle gebracht. All dies ist tadellos und dient dem Leser mit diskreter Effizienz. Und an der einen Stelle, wo man einen riesigen schwarzen Block im Text nicht missen möchte, dort nämlich, wo Daniel Pagenstecher einen Herzinfarkt erleidet und dem Tod unmittelbar ins Auge blickt (Seite 752 der alten Fassung und Seite 793 der neuen), dort also findet sich auch in der gesetzten Ausgabe ein schwarzer Kasten als memento mori. Das ist weder eigenmächtig noch inkonsequent: Anders als bei allen übrigen Schwärzungen ist hier hinter der Farbe kein eliminierter Text verborgen - das dunkle Rechteck steht also offenbar im Text, weil es genau dort stehen soll. Und markiert so eine der unheimlichsten Stellen des gesamten Romans.
Stolpersteine gibt es also genug in "Zettel's Traum", im Typoskript wie in der gesetzten Ausgabe. Das betrifft nicht zuletzt die Liebesgeschichte zwischen Daniel Pagenstecher und der ihn anhimmelnden Franziska, die man rührend oder albern finden mag, manchmal beides zugleich. Und man wird dort, durch frühere Schmidt-Lektüre zur Wachsamkeit erzogen, nach einem Verweissystem auf andere Texte suchen. ",WirsDu verschwiegn sein?' / ,Wie ein Fisch'chin!' (rief Sie begeistert) : ,Such Du schon immer aus - : Was De Mir dann, abmds, im Winter, vorliest : ach, Unser liebes=kleines=vertrauliches Haus!'" Meint der Autor, meint Franziska das so? Ist das ein albernes Zitat aus einem Rührstück um 1800 (Schmidt kannte sich da bestens aus)? Legt Schmidt das Franziska in den Mund, oder zitiert das Mädchen da etwas, das sich auch Daniel sofort als Zitat erschließt, womöglich aufgrund gemeinsamer Lektüre? Oder geht man mit derlei dem Autor nur umso gehöriger auf den Leim? "Satan dociert aus Dir", sagt Wilma einmal zu Daniel, und selten war man so auf ihrer Seite wie hier.
"Mit diesem Band ist die Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts abgeschlossen", heißt es im Prospekt, der jetzt "Zettel's Traum" ankündigt - was für ein bescheidener, was für ein stolzer Satz. Grund genug, eine fünfundzwanzigjährige philologische Arbeit zu würdigen, die mit dieser editorischen und typographischen Meisterleistung einen fulminanten Schlusspunkt setzt.
Arno Schmidt: "Zettel's Traum". Herausgegeben von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 1513 S., br., 198 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Auf angemessenen zwei Seiten widmet sich Stephan Wackwitz Arno Schmidts Riesenwerk "Zettel's Traum", das der Suhrkamp Verlag in einer sieben Kilo schweren Bargfelder Ausgabe vorgelegt hat. Wackwitz erinnert an die Entstehung des Werks, die vor allem für Alice Schmidt eine harte Zeit gewesen sein muss und regt an, es nicht in den "fußgängerischen Mittellagen" der deutschen Nachkriegsliteratur anzusiedeln, sondern in den Himalaya-Regionen "autistischer Monumentalkunstwerke" wie etwa Henry Dargers Lebenswerk. Beim Wiederlesen überkam den Rezensenten Bewunderung, die aber allmählich in Ekel überging und schließlich in den pervers-faszinierten Genuss, einer pathologischen Unternehmung bezuwohnen. Denn im Grunde, erkennt Wackwitz, habe Schmidt Freud eklatant missverstanden: So unraffiniert, fantasielos und espritarm wie bei Schmidts oversexed Helden Daniel Pagenstecher kann kein Unterbewusstsein sein! Und so wird dem Rezensenten immer deutlicher, dass er es hier nicht nur mit großer Kunst zu tun hat, sondern auch mit einer "kompliziert ausgearbeitete Dachschaden".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Vierzig Jahre lang galt Arno Schmidts Hauptwerk Zettel's Traum als schwer zugänglich. Jetzt erscheint es in völlig neuer Gestalt - eine echte editorische Herausforderung und ein Glücksfall für uns Leser.« Tilman Spreckelsen Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20100606