Zhan Dui liegt in der alten tibetischen Region Kham. Heute ist es der Kreis Xinlong des tibetischen Autonomen Bezirks Garz in der chinesischen Provinz Sichuan. Die Tibeter dieser Region, die Khampas, waren schon immer besonders unerschrocken. Unter ihnen waren die Einwohner von Zhan Dui besonders für ihre Tapferkeit bekannt. Sie waren stolz darauf, wie aus Eisen zu sein.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Sinologe Wolfgang Kubin empfiehlt diesen "Dokumentarroman" des tibetisch-chinesischen Schriftstellers A Lai. Dem Autor gelingt es laut Kubin, ein differenziertes, etwas anderes Bild von Tibet und dem Dalai Lama zu entwerfen, als wir es kennen. Nicht Frieden und Eintracht prägen das Land bei A Lai, sondern Rückständigkeit und Krieg. Die "flüssige" Übersetzung von Cord Eberspächer und Beidi Meng führt Kubin ins alte Zhandui an der Grenze zum noch unbesetzten Tibet und entlang der letzten 200 Jahre seiner Geschichte, die der Autor mit Betrachtungen zum neuen China untermalt, wie Kubin erklärt. Entstanden ist ein sachlich gehaltenes "Bild von unten", das laut Kubin nur gestört wird durch eine Reihe von Druckfehlern und einige stilistische Mängel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2022Oh, wie wenig schön war Tibet
Romantisierung ist seine Sache nicht: A Lai erzählt in dem Montageroman "Zhan Dui" die Geschichte von Unterdrückung und Widerstand seiner Heimat
Tibet nimmt im Denken der Deutschen eine nostalgische Stellung ein. Dies hat mit dem Erfolg eines Buchs aus dem Jahr 1952 zu tun. "Sieben Jahre in Tibet" lautet der Titel, unter dem der Bergsteiger Heinrich Harrer (1912 bis 2006) seine Erlebnisse zwischen 1944 und 1951 im Umfeld des Dalai Lama niedergelegt hat. A Lai (geboren 1959), ein Schriftsteller tibetisch-chinesischer Herkunft, würde die Haltung von Harrers Buch als Romantisierung bezeichnen. In der Tat entwirft er mit seinem Roman "Zhan Dui - Geschmolzenes Eisen" ein völlig anderes Bild als das, welches der Dalai Lama zu verbreiten beliebt: keines von Frieden und Eintracht im damals noch unbesetzten Tibet, sondern eines von Krieg und Raub.
Als ich 2015 den Autor in Chengdu kennenlernte, wahrten wir zunächst Distanz. A Lai war nicht sehr glücklich über meine Kritik an der chinesischen Gegenwartsliteratur, in die ich ihn 2006 miteinbezogen hatte. Wir kamen trotzdem ins Gespräch miteinander. Seine Offenheit und sein Mut überraschten mich. Er sprach von der Schwierigkeit, seinen neuesten Roman in China zu veröffentlichen, und von seinem Unwillen, der Zensur nachzugeben. Wahrscheinlich handelte es sich dabei aber nicht um das Werk, das der Historiker Cord Eberspächer nun zusammen mit der Übersetzerin Beidi Meng ins Deutsche gebracht hat.
Das Genre des Romans scheint der Autor eigenwillig gewählt zu haben. Denn er mischt tibetische und chinesische Dokumente, die er mit Kommentaren, Erklärungen und vor Ort getätigten Beobachtungen begleitet. Sein "Held" ist ein Kreis in der Provinz Sichuan, den er gründlich bereist und ergründet hat. Der hieß früher Zhandui und wird hauptsächlich von Tibetern bewohnt. In der Umschrift wird durch die getrennte Schreibung "Zhan Dui" aus dem Gebiet eine Person. Wir haben es also mit einem Dokumentarroman zu tun, wie er heute modisch geworden ist. Aktuelle Werke von Manfred Wieninger ("Die Banalität des Guten") oder Liao Yiwu ("Wuhan") warten im Untertitel mit der genannten Bezeichnung auf.
Wie jedes gute Buch spielt "Zhan Dui" auf zwei verschiedenen Ebenen. Auf der einen Seite scheint der Erzähler die Geschichte der heutigen Kreisstadt Xinlong im nun Abazhou genannten Landkreis nachzuzeichnen, auf der anderen Seite erhebt er jedoch seine Erkenntnisse zu allgemeinen Betrachtungen über das neue China, dessen (autonomer) Teil die Provinz Tibet ist. Dabei stehen die historischen Ereignisse der letzten zweihundert Jahre im Vordergrund.
Die Bewohner des damaligen Zhandui bezeichnete man nach dem Landstrich Kham als Khampas. Sie galten als eisenhart und widersetzten sich aufmüpfig Gegnern jeglicher Art, ob Tibetern aus dem benachbarten Staat Tibet, von Peking entsandten Han-Chinesen oder den Mandschuren, die im achtzehnten Jahrhundert Lhasa dem chinesischen Kaiserreich der Qing (1644 bis 1911) zugeschlagen hatten. Zuletzt auch den Engländern, der Republik China (1912 bis 1949) und den Kommunisten. Und wenn die Khampas keine Kleinkriege führten? Dann gingen sie je nach Bedarf auf Raub aus. Raufhändel und Rache gehörten zum täglichen Leben.
Gab es keine Tempel, keine Mönche, keine Lamas, die diesem ständigen Mord und Totschlag Einhalt geboten hätten? Nach A Lai nicht, denn die heiligen Stätten waren wehrhaft: Sie verfügten über Krieger innerhalb ihrer Tore, und der Klerus griff selbst gern zu den Waffen. Man fürchtete nicht den Tod; Schimpf und Schande wirkten schlimmer.
A Lai entwirft die tibetische Welt als eine arme und rückständige. Reformer kamen aus dem noch kaiserlichen Peking, doch zu spät, als dass sie etwas hätten bewirken können. Von einem Groß-Tibet ließ sich vor 1949 nur träumen. Es ist jedoch dieses gläubige und arme Land, welches nicht nur die Sehnsüchte der Deutschen auf sich zog, sondern ebenfalls die junger hanchinesischer Schriftsteller, die in den Achtzigerjahren Lhasa aufsuchten und begeistert beschrieben, denn dort war man noch nicht den vermeintlichen Segnungen der Moderne verfallen. Ohne Straßennetz, moderne Waffen oder öffentliche Toiletten (Notdurft wurde vor aller Augen auf den Wegen verrichtet) bot sich das Leben als urwüchsig, schlicht und damit verführerisch an.
A Lai warnt vor der westlichen Verherrlichung des Dalai Lama, er kritisiert aber ebenfalls das hanchinesische Missverständnis einer auf tiefem Glauben basierenden und weniger materialistisch eingestellten Gesellschaft. Er entwirft ein bedenkenswertes Bild von unten, ohne Verzerrung, in Sachlichkeit und Ruhe. Die vielen historischen Scharmützel, die er anführt, erschweren zunächst die Lektüre, doch aufgrund der flüssig lesbaren Übersetzung legt man das Werk nicht vorzeitig aus den Händen. Kritisch anzumerken ist lediglich eine Reihe von Druckfehlern, grammatischen Fragwürdigkeiten und stilistischen Unzulänglichkeiten. Doch darf man nicht die Schwierigkeit einer angemessenen Übertragung bei der Beurteilung außer Acht lassen. WOLFGANG KUBIN
A Lai: "Zhan Dui - Geschmolzenes Eisen". Die Legende von Khampa.
Aus dem Chinesischen von Cord Eberspächer und Beidi Meng. Bacopa, Schiedlberg 2021. 359 S., geb., 34,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Romantisierung ist seine Sache nicht: A Lai erzählt in dem Montageroman "Zhan Dui" die Geschichte von Unterdrückung und Widerstand seiner Heimat
Tibet nimmt im Denken der Deutschen eine nostalgische Stellung ein. Dies hat mit dem Erfolg eines Buchs aus dem Jahr 1952 zu tun. "Sieben Jahre in Tibet" lautet der Titel, unter dem der Bergsteiger Heinrich Harrer (1912 bis 2006) seine Erlebnisse zwischen 1944 und 1951 im Umfeld des Dalai Lama niedergelegt hat. A Lai (geboren 1959), ein Schriftsteller tibetisch-chinesischer Herkunft, würde die Haltung von Harrers Buch als Romantisierung bezeichnen. In der Tat entwirft er mit seinem Roman "Zhan Dui - Geschmolzenes Eisen" ein völlig anderes Bild als das, welches der Dalai Lama zu verbreiten beliebt: keines von Frieden und Eintracht im damals noch unbesetzten Tibet, sondern eines von Krieg und Raub.
Als ich 2015 den Autor in Chengdu kennenlernte, wahrten wir zunächst Distanz. A Lai war nicht sehr glücklich über meine Kritik an der chinesischen Gegenwartsliteratur, in die ich ihn 2006 miteinbezogen hatte. Wir kamen trotzdem ins Gespräch miteinander. Seine Offenheit und sein Mut überraschten mich. Er sprach von der Schwierigkeit, seinen neuesten Roman in China zu veröffentlichen, und von seinem Unwillen, der Zensur nachzugeben. Wahrscheinlich handelte es sich dabei aber nicht um das Werk, das der Historiker Cord Eberspächer nun zusammen mit der Übersetzerin Beidi Meng ins Deutsche gebracht hat.
Das Genre des Romans scheint der Autor eigenwillig gewählt zu haben. Denn er mischt tibetische und chinesische Dokumente, die er mit Kommentaren, Erklärungen und vor Ort getätigten Beobachtungen begleitet. Sein "Held" ist ein Kreis in der Provinz Sichuan, den er gründlich bereist und ergründet hat. Der hieß früher Zhandui und wird hauptsächlich von Tibetern bewohnt. In der Umschrift wird durch die getrennte Schreibung "Zhan Dui" aus dem Gebiet eine Person. Wir haben es also mit einem Dokumentarroman zu tun, wie er heute modisch geworden ist. Aktuelle Werke von Manfred Wieninger ("Die Banalität des Guten") oder Liao Yiwu ("Wuhan") warten im Untertitel mit der genannten Bezeichnung auf.
Wie jedes gute Buch spielt "Zhan Dui" auf zwei verschiedenen Ebenen. Auf der einen Seite scheint der Erzähler die Geschichte der heutigen Kreisstadt Xinlong im nun Abazhou genannten Landkreis nachzuzeichnen, auf der anderen Seite erhebt er jedoch seine Erkenntnisse zu allgemeinen Betrachtungen über das neue China, dessen (autonomer) Teil die Provinz Tibet ist. Dabei stehen die historischen Ereignisse der letzten zweihundert Jahre im Vordergrund.
Die Bewohner des damaligen Zhandui bezeichnete man nach dem Landstrich Kham als Khampas. Sie galten als eisenhart und widersetzten sich aufmüpfig Gegnern jeglicher Art, ob Tibetern aus dem benachbarten Staat Tibet, von Peking entsandten Han-Chinesen oder den Mandschuren, die im achtzehnten Jahrhundert Lhasa dem chinesischen Kaiserreich der Qing (1644 bis 1911) zugeschlagen hatten. Zuletzt auch den Engländern, der Republik China (1912 bis 1949) und den Kommunisten. Und wenn die Khampas keine Kleinkriege führten? Dann gingen sie je nach Bedarf auf Raub aus. Raufhändel und Rache gehörten zum täglichen Leben.
Gab es keine Tempel, keine Mönche, keine Lamas, die diesem ständigen Mord und Totschlag Einhalt geboten hätten? Nach A Lai nicht, denn die heiligen Stätten waren wehrhaft: Sie verfügten über Krieger innerhalb ihrer Tore, und der Klerus griff selbst gern zu den Waffen. Man fürchtete nicht den Tod; Schimpf und Schande wirkten schlimmer.
A Lai entwirft die tibetische Welt als eine arme und rückständige. Reformer kamen aus dem noch kaiserlichen Peking, doch zu spät, als dass sie etwas hätten bewirken können. Von einem Groß-Tibet ließ sich vor 1949 nur träumen. Es ist jedoch dieses gläubige und arme Land, welches nicht nur die Sehnsüchte der Deutschen auf sich zog, sondern ebenfalls die junger hanchinesischer Schriftsteller, die in den Achtzigerjahren Lhasa aufsuchten und begeistert beschrieben, denn dort war man noch nicht den vermeintlichen Segnungen der Moderne verfallen. Ohne Straßennetz, moderne Waffen oder öffentliche Toiletten (Notdurft wurde vor aller Augen auf den Wegen verrichtet) bot sich das Leben als urwüchsig, schlicht und damit verführerisch an.
A Lai warnt vor der westlichen Verherrlichung des Dalai Lama, er kritisiert aber ebenfalls das hanchinesische Missverständnis einer auf tiefem Glauben basierenden und weniger materialistisch eingestellten Gesellschaft. Er entwirft ein bedenkenswertes Bild von unten, ohne Verzerrung, in Sachlichkeit und Ruhe. Die vielen historischen Scharmützel, die er anführt, erschweren zunächst die Lektüre, doch aufgrund der flüssig lesbaren Übersetzung legt man das Werk nicht vorzeitig aus den Händen. Kritisch anzumerken ist lediglich eine Reihe von Druckfehlern, grammatischen Fragwürdigkeiten und stilistischen Unzulänglichkeiten. Doch darf man nicht die Schwierigkeit einer angemessenen Übertragung bei der Beurteilung außer Acht lassen. WOLFGANG KUBIN
A Lai: "Zhan Dui - Geschmolzenes Eisen". Die Legende von Khampa.
Aus dem Chinesischen von Cord Eberspächer und Beidi Meng. Bacopa, Schiedlberg 2021. 359 S., geb., 34,80 Euro.
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