Das Buch »Zhuangzi«, auch bekannt unter dem Ehrentitel »Das wahre Buch vom südlichen Blütenland«, ist zusammen mit Laozi (Laotse) der wichtigste Text des chinesischen Daoismus. Zhuangzi (Dschuang Dsi) soll im 4. Jahrhundert v. Chr. gelebt, sich allen Ämtern verweigert und als Gärtner gearbeitet haben. Ihm geht es darum, zurückzulenken auf das Eigentliche, das Einfache: die Freiheit, nichts Besonderes zu tun, die Freiheit, sich selbst zu folgen, die Freiheit, mit der Natur zu leben. Zhuangzi ist der wilde Denker, der, der keine vorgegebene Ordnung akzeptiert und alles in Frage stellt. Sein Buch besteht aus 300 kurzen Texten: Anekdoten, Gleichnissen, Gedanken, Dialogen, die in 33 Kapitel geordnet sind.Hermann Hesse hielt Zhuangzi für den originellsten und zugleich anschaulichsten Denker Chinas: »Dschuang Dsi ist der größte und glänzendste Poet unter den chinesischen Denkern, soweit wir sie kennen, zugleich der kühnste und witzigste Angreifer des Konfuzianismus ... Von allen Büchernchinesischer Denker, die ich kenne, hat dieses am meisten Reiz und Klang.«Für Stephan Schuhmacher, einen anderen Zhuangzi-Übersetzer, steht das Buch im Rang der Bibel: »Es ist ein Buch, das dich wie ein treuer Freund und weiser Ratgeber durch ein ganzes Leben begleiten kann; ein Buch, das sich in verschiedenen Lebensphasen und den unterschiedlichen Situationen als nie versiegende Quelle des Zuspruchs und der Inspiration erweist; ein Buch, das, wann immer man es aufschlägt, immer wieder neu und überraschend ist, weil es wie ein Diamant mit unzähligen Facetten das Licht unseres eigenen Bewusstseins je nach dessen Standpunkt und Befindlichkeit in immer neuen Farbkombinationen glitzernd und funkelnd reflektiert.«Viktor Kalinke hat 2017 nach 10-jähriger Arbeit mit einer vorbildlichen wissenschaftlichen Ausgabe die erste ernstzunehmende und vollständige Übersetzung des »Zhuangzi« aus dem Chinesischen ins Deutsche vorgelegt. Diese neue Übersetzung erscheint nun erstmals als ansprechendeLeseausgabe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2020Das nackte Leben
Besser nichts tun: Der chinesische Klassiker Zhuangzi zieht unorthodoxe Lehren aus der Selbstisolation. Der Leipziger Verleger Viktor Kalinke hat "Das Buch der daoistischen Weisheit" zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übertragen
Wer kann mit anderen zusammen sein, indem er nicht mit anderen zusammen ist; für andere etwas tun, indem er nichts für andere tut?" Diese Frage stellen sich im dritten vorchristlichen Jahrhundert der Meister der Maulbeerbaumzucht, der Älteste Meister der Umkehr und der Meister des Lautenspiels, drei Figuren aus dem Zhuangzi, einem der denkwürdigsten literarischen und philosophischen Werke des alten Chinas. Ein paar Zeilen später gibt die Antwort ein weiterer Meister, nachdem sich einer von dessen Schülern über das unorthodoxe, allen sozialen Regeln hohnsprechende Benehmen der drei Freunde beschwert hat: "Frei und unbekümmert widmen sie sich dem Geschäft des Nichtstuns. Warum sollten sie sich darum sorgen, wie allerwelts Sitten als Ritual zu befolgen sind und wie sie im Ohr und Auge der Menge erscheinen?"
Der Spur dieser eigenartigen Freiheit des Nichtstuns, mit der offenbar noch etwas anderes gemeint ist als bloß ein gegen die Verwertungsinteressen anderer gerichtetes Lob der Faulheit, sind in den europäischen und amerikanischen Geistesgeschichten seit mehr als hundert Jahren die unterschiedlichsten Autoren nachgegangen, in Deutschland zum Beispiel Kafka, Brecht, Döblin, Hesse und Heidegger. 1910 erschien die erste Zhuangzi-Auswahl auf Deutsch, aus dem Englischen übersetzt von Martin Buber, zwei Jahre später folgte unter dem Titel "Das wahre Buch vom südlichen Blütenland" die Übertragung durch den protestantischen Missionar Richard Wilhelm. Sie ist bis heute der einzige - allerdings unvollständige und unvollkommene - Versuch einer Übertragung des Gesamttexts aus dem Original geblieben (die 1998 veröffentlichte Ausgabe von Stephan Schuhmacher war eine Übersetzung aus dem Englischen). Nun hat sich in den letzten Jahren, bislang weitgehend unbemerkt von der an Anregungen aus anderen Weltgegenden anscheinend weniger als in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts interessierten intellektuellen Öffentlichkeit, ein weiteres Mal ein sinologischer Außenseiter an das gewaltige Werk herangetraut. Der Leipziger Verleger Viktor Kalinke gibt dieser Tage in dem von ihm gegründeten und geleiteten "Leipziger Literaturverlag" die verbesserte zweite Auflage einer schon 2017 erschienenen, neunhundert großformatige Seiten umfassenden Edition aus chinesischem Originaltext, lateinischer Umschrift, Interlinearübersetzung, Übertragung und Kommentar als E-Book heraus, und der Reclam Verlag hat das Extrakt davon veröffentlicht, eine Leseausgabe des übersetzten Texts. So philologisch genau und zugleich flüssig, unbelastet von esoterischem Jargon, war das Zhuangzi bislang nicht auf Deutsch zu lesen. Man könnte es ein Buch der Stunde nennen.
Es geht bei diesen quer zu allen damaligen und heutigen Üblichkeiten angesiedelten Parabeln, Dialogen und Reflektionen letztlich um das nackte Leben. Damit ist jedoch nichts Reduziertes, Biologistisches, Abgesondertes oder sonst wie Defizitäres gemeint, sondern das Gegenteil: Indem das nackte Leben alle fixen Ideen, Vorstellungen, Vorentscheidungen, mit denen Menschen das Leben üblicherweise besetzen und damit einengen, hinter sich lässt ("vergisst", wie sich das Zhuangzi ausdrückt), kann es sich mit allem Leben ringsum verbinden. Man könnte auch sagen: mit dem Kosmos, aber damit ist beim Zhuangzi keine feststehende Wesenheit gemeint, sondern Lebendigkeit schlechthin, also eine permanente Bewegung. Zhuangzi wählt für diese alles Leben überwölbende und durchdringende Aktivität den Begriff "Weg" ("Dao"). Um das weite Bedeutungsspektrum dieser Bezeichnung offenzuhalten, es nicht durch ein möglicherweise irreführende Assoziationen heraufbeschwörendes deutsches Wort einzuengen, lässt die neue Ausgabe diesen Terminus "Dao" unübersetzt stehen. Dadurch setzt sie ihn allerdings dem Missverständnis einer irgendwie mystisch-mysteriösen Sondersprache aus, statt hier wie auch sonst die sich aus dem jeweiligen Zusammenhang erschließende Alltagssprache zu verwenden.
Das nackte Leben, auf das das Zhuangzi hinauswill (ohne selber diesen Agambenschen Begriff zu benutzen), hat in Wirklichkeit nichts Mysteriöses, man kann es sich gar nicht einfach genug vorstellen. In mehreren der Geschichten ziehen sich die Protagonisten, um das zu begreifen, in die Selbstisolation zurück. Einer von ihnen, der nach einem Gespräch mit seinem Lehrer verstand, "dass er noch gar nicht begonnen hatte, wirklich zu lernen", ging drei Jahre lang nicht mehr aus dem Haus: "Er kochte für seine Frau, fütterte die Schweine, als versorge er Menschen. Es gab nichts, wofür er eine besondere Vorliebe hegte; was mit Schnitzereien verziert war, verwandelte er wieder in etwas Einfaches; einem Klotz glich seine Erscheinung, so stand er für sich." Die kulturelle Enthaltung dient hier nicht etwa einem romantischen "Zurück zur Natur"-Ideal wie bei Rousseau (was ja auch wieder eine kulturell hergeleitete Abstraktion wäre). Und auch nicht dem Rückzug in ein privatistisches, mit Gleichmut ausgestattetes Idyll, mit dem die sogenannte fernöstliche Weisheit im Westen oft assoziiert wird. Sondern eher der Einklammerung jeglicher Erwartungen, mit denen die Kultur das Leben aufladen kann und die das Zhuangzi alle für illusionär hält.
Das wird besonders deutlich in einem der vielen Konfuzius-Dialoge, die für die abgründige Ironie des Buchs typisch sind. Offenbar galt schon zur Zeit seiner Abfassung Konfuzius als die übermächtige philosophische Autorität in China, und das Zhuangzi nutzt diese Berühmtheit nun dazu, dass es sie als Avatar für seine eigenen, allerdings entgegengesetzten Ansichten auftreten lässt. Entweder wird der Meister mit seinen auf Moral und Gesetze fixierten Lehren der Lächerlichkeit preisgegeben, oder aber er erscheint als der große Weise, der diese Lehren selber souverän ihrer Begrenztheit überführt. So wird Konfuzius in einem Dialog mit seinem Schüler Yan Hui zum größten Dekonstrukteur des Konfuzianismus und jeglicher Ideologeme. "Yan Hui sprach: ,Ich habe Fortschritte gemacht.' Konfuzius fragte: ,Was heißt das?' Hui sprach: ,Ich habe Menschlichkeit und Rechtschaffenheit vergessen.' Konfuzius erwiderte: ,Gut, aber das genügt nicht.' Anderentags trafen sie sich wieder, und Hui sprach: ,Ich habe Fortschritte gemacht.' Konfuzius fragte: ,Was heißt das?' Hui sprach: ,Ich habe Riten und Musik vergessen.' Konfuzius erwiderte: ,Gut, aber das genügt nicht.' Anderentags trafen sie sich wieder, und Hui sprach: ,Ich habe Fortschritte gemacht.' Konfuzius fragte: ,Was heißt das?' Hui sprach: ,Ich sitze da und vergesse.'" Da ist der Meister endlich zufrieden. Indem der schlechthin Weise persönlich die Figur des Weisen auseinandernimmt, wird diese auf eine neue Stufe gehoben.
Die Geschichte, wie der Übersetzer zu seinem Projekt kam, hört sich fast selbst wie eine Geschichte aus dem Zhuangzi an. Schon als Jugendlicher las der 1970 in Jena geborene Viktor Kalinke das "Daodejing" des anderen großen Daoisten, Laotse, und seither ließ ihn die Verwirrung angesichts der vielen unterschiedlichen, einander eigentlich ausschließenden, aber vom Text offenbar bewusst zugelassenen Deutungs- und Übersetzungsmöglichkeiten nicht mehr in Ruhe. Die Verwirrung führte ihn zu einem Studium des Altchinesischen an der Peking-Universität, zum Schreiben eines dreiteiligen Buchs über die Textvarianten und den Hintergrund des "Daodejing" und schließlich, da niemand das Buch drucken wollte, 1998 zur Gründung eines eigenen Verlags, dem seither mit Hilfe eines weitgespannten Freundes- und Mitarbeiterkreises zahlreiche literarische Neu- und Wiederentdeckungen, vor allem aus Osteuropa, gelungen sind. Und die Verwirrung führte ihn dazu, nach einem Studium der Psychologie anfangs beruflich und heute noch ehrenamtlich Strafgefangenen bei ihrer Resozialisierung zur Seite zu stehen. Der systemische Ansatz, den er den Daoisten abgelauscht hatte, helfe ihm bei diesen Gesprächen, erstarrte Verhältnisse zu verflüssigen, sagte Kalinke in seinem von expressiven chinesischen Kalligraphien dominierten Leipziger Verlagsbüro, als wir uns noch vor dem Corona-Lockdown dort trafen. "Was geschieht", schrieb er in seinem Laotse-Buch, "wenn eine Sache sich nicht so verhält, wie sie es soll? Die typische Reaktion des Europäers in einer solchen Situation ist das lautstarke Pochen auf Einhaltung der Regeln." Der Daoist passe sich dagegen erst "der Wirklichkeit und der Situation an", bevor er versuche, diese seinen Bedürfnissen anzupassen. Sieben Jahre arbeitete Kalinke dann an seiner Zhuangzi-Edition, die dank der Interlinearübertragung in der ursprünglichen Fassung den Lesern die Möglichkeit gibt, jede einzelne Übersetzungsentscheidung nachzuvollziehen.
Der Zhuangzi, also Meister Zhuang, der dem Buch seinen Namen gibt, ist eine legendäre Figur. Laut dem Geschichtsschreiber Sima Qian aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert soll er die zurückgezogene Stellung eines Gärtners in einer Kleinstadt bekleidet haben. Über den wirklichen Autor oder das Autorenkollektiv, die hinter dem Werk stecken, weiß man nichts Zuverlässiges. Doch es gibt im Buch selbst ein Selbstporträt des Verfassers: Er erkennt sich da in einem riesigen knorrigen und nutzlosen Baum wieder. Als ihn ein Dialogpartner mit einem solchen Baum vergleicht - "Nun, Meister, du drechselst große und nutzlose Worte, daher wendet sich die Menge einmütig von dir ab" -, stimmt er zu, gibt aber gerade das als seinen Vorzug aus: "Da kannst du, wenn du nichts zu tun hast, um ihn herumspazieren oder dich unbekümmert zum Ausruhen bei ihm niederlegen." Das ist nicht einfach eine Koketterie mit seiner von ihm selbst offenbar deutlich empfundenen und reflektierten Merkwürdigkeit, so als ob es sich dabei bloß um eine ausgefuchste ästhetische Strategie handelte. Vielmehr erklärt er die eigene "Philosophie" da zum Exempel ihres Inhalts: Diese Dialoge und Geschichten sollen nicht einfach eine Lehre mehr sein, sondern ein Stück des Lebens selbst, das sie zur Sprache bringen. Man soll in der Gegenwart dieser Philosophie unbekümmert nichts tun können.
Damit plädiert das Buch weder für Passivität noch für Eskapismus. Das Nichtstun erscheint hier vielmehr als andere Seite der systematisch betriebenen Desillusionierung, die hinter der kulturellen Enthaltung steckt: also zu entdecken, wie vollständig schon das nackte Leben ist und wie wenig sein Wert von sich aus der Optimierung durch das eigene Eingreifen bedarf. Diese Art Nichtstun, könnte man mit nur geringfügiger Überspitzung sagen, ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, unideologisch, umsichtig und entschlossen zu handeln.
MARK SIEMONS
Zhuangzi: "Das Buch der daoistischen Weisheit. Gesamttext". Aus dem Chinesischen von Viktor Kalinke. Reclam Verlag, 456 Seiten, 30 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Besser nichts tun: Der chinesische Klassiker Zhuangzi zieht unorthodoxe Lehren aus der Selbstisolation. Der Leipziger Verleger Viktor Kalinke hat "Das Buch der daoistischen Weisheit" zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übertragen
Wer kann mit anderen zusammen sein, indem er nicht mit anderen zusammen ist; für andere etwas tun, indem er nichts für andere tut?" Diese Frage stellen sich im dritten vorchristlichen Jahrhundert der Meister der Maulbeerbaumzucht, der Älteste Meister der Umkehr und der Meister des Lautenspiels, drei Figuren aus dem Zhuangzi, einem der denkwürdigsten literarischen und philosophischen Werke des alten Chinas. Ein paar Zeilen später gibt die Antwort ein weiterer Meister, nachdem sich einer von dessen Schülern über das unorthodoxe, allen sozialen Regeln hohnsprechende Benehmen der drei Freunde beschwert hat: "Frei und unbekümmert widmen sie sich dem Geschäft des Nichtstuns. Warum sollten sie sich darum sorgen, wie allerwelts Sitten als Ritual zu befolgen sind und wie sie im Ohr und Auge der Menge erscheinen?"
Der Spur dieser eigenartigen Freiheit des Nichtstuns, mit der offenbar noch etwas anderes gemeint ist als bloß ein gegen die Verwertungsinteressen anderer gerichtetes Lob der Faulheit, sind in den europäischen und amerikanischen Geistesgeschichten seit mehr als hundert Jahren die unterschiedlichsten Autoren nachgegangen, in Deutschland zum Beispiel Kafka, Brecht, Döblin, Hesse und Heidegger. 1910 erschien die erste Zhuangzi-Auswahl auf Deutsch, aus dem Englischen übersetzt von Martin Buber, zwei Jahre später folgte unter dem Titel "Das wahre Buch vom südlichen Blütenland" die Übertragung durch den protestantischen Missionar Richard Wilhelm. Sie ist bis heute der einzige - allerdings unvollständige und unvollkommene - Versuch einer Übertragung des Gesamttexts aus dem Original geblieben (die 1998 veröffentlichte Ausgabe von Stephan Schuhmacher war eine Übersetzung aus dem Englischen). Nun hat sich in den letzten Jahren, bislang weitgehend unbemerkt von der an Anregungen aus anderen Weltgegenden anscheinend weniger als in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts interessierten intellektuellen Öffentlichkeit, ein weiteres Mal ein sinologischer Außenseiter an das gewaltige Werk herangetraut. Der Leipziger Verleger Viktor Kalinke gibt dieser Tage in dem von ihm gegründeten und geleiteten "Leipziger Literaturverlag" die verbesserte zweite Auflage einer schon 2017 erschienenen, neunhundert großformatige Seiten umfassenden Edition aus chinesischem Originaltext, lateinischer Umschrift, Interlinearübersetzung, Übertragung und Kommentar als E-Book heraus, und der Reclam Verlag hat das Extrakt davon veröffentlicht, eine Leseausgabe des übersetzten Texts. So philologisch genau und zugleich flüssig, unbelastet von esoterischem Jargon, war das Zhuangzi bislang nicht auf Deutsch zu lesen. Man könnte es ein Buch der Stunde nennen.
Es geht bei diesen quer zu allen damaligen und heutigen Üblichkeiten angesiedelten Parabeln, Dialogen und Reflektionen letztlich um das nackte Leben. Damit ist jedoch nichts Reduziertes, Biologistisches, Abgesondertes oder sonst wie Defizitäres gemeint, sondern das Gegenteil: Indem das nackte Leben alle fixen Ideen, Vorstellungen, Vorentscheidungen, mit denen Menschen das Leben üblicherweise besetzen und damit einengen, hinter sich lässt ("vergisst", wie sich das Zhuangzi ausdrückt), kann es sich mit allem Leben ringsum verbinden. Man könnte auch sagen: mit dem Kosmos, aber damit ist beim Zhuangzi keine feststehende Wesenheit gemeint, sondern Lebendigkeit schlechthin, also eine permanente Bewegung. Zhuangzi wählt für diese alles Leben überwölbende und durchdringende Aktivität den Begriff "Weg" ("Dao"). Um das weite Bedeutungsspektrum dieser Bezeichnung offenzuhalten, es nicht durch ein möglicherweise irreführende Assoziationen heraufbeschwörendes deutsches Wort einzuengen, lässt die neue Ausgabe diesen Terminus "Dao" unübersetzt stehen. Dadurch setzt sie ihn allerdings dem Missverständnis einer irgendwie mystisch-mysteriösen Sondersprache aus, statt hier wie auch sonst die sich aus dem jeweiligen Zusammenhang erschließende Alltagssprache zu verwenden.
Das nackte Leben, auf das das Zhuangzi hinauswill (ohne selber diesen Agambenschen Begriff zu benutzen), hat in Wirklichkeit nichts Mysteriöses, man kann es sich gar nicht einfach genug vorstellen. In mehreren der Geschichten ziehen sich die Protagonisten, um das zu begreifen, in die Selbstisolation zurück. Einer von ihnen, der nach einem Gespräch mit seinem Lehrer verstand, "dass er noch gar nicht begonnen hatte, wirklich zu lernen", ging drei Jahre lang nicht mehr aus dem Haus: "Er kochte für seine Frau, fütterte die Schweine, als versorge er Menschen. Es gab nichts, wofür er eine besondere Vorliebe hegte; was mit Schnitzereien verziert war, verwandelte er wieder in etwas Einfaches; einem Klotz glich seine Erscheinung, so stand er für sich." Die kulturelle Enthaltung dient hier nicht etwa einem romantischen "Zurück zur Natur"-Ideal wie bei Rousseau (was ja auch wieder eine kulturell hergeleitete Abstraktion wäre). Und auch nicht dem Rückzug in ein privatistisches, mit Gleichmut ausgestattetes Idyll, mit dem die sogenannte fernöstliche Weisheit im Westen oft assoziiert wird. Sondern eher der Einklammerung jeglicher Erwartungen, mit denen die Kultur das Leben aufladen kann und die das Zhuangzi alle für illusionär hält.
Das wird besonders deutlich in einem der vielen Konfuzius-Dialoge, die für die abgründige Ironie des Buchs typisch sind. Offenbar galt schon zur Zeit seiner Abfassung Konfuzius als die übermächtige philosophische Autorität in China, und das Zhuangzi nutzt diese Berühmtheit nun dazu, dass es sie als Avatar für seine eigenen, allerdings entgegengesetzten Ansichten auftreten lässt. Entweder wird der Meister mit seinen auf Moral und Gesetze fixierten Lehren der Lächerlichkeit preisgegeben, oder aber er erscheint als der große Weise, der diese Lehren selber souverän ihrer Begrenztheit überführt. So wird Konfuzius in einem Dialog mit seinem Schüler Yan Hui zum größten Dekonstrukteur des Konfuzianismus und jeglicher Ideologeme. "Yan Hui sprach: ,Ich habe Fortschritte gemacht.' Konfuzius fragte: ,Was heißt das?' Hui sprach: ,Ich habe Menschlichkeit und Rechtschaffenheit vergessen.' Konfuzius erwiderte: ,Gut, aber das genügt nicht.' Anderentags trafen sie sich wieder, und Hui sprach: ,Ich habe Fortschritte gemacht.' Konfuzius fragte: ,Was heißt das?' Hui sprach: ,Ich habe Riten und Musik vergessen.' Konfuzius erwiderte: ,Gut, aber das genügt nicht.' Anderentags trafen sie sich wieder, und Hui sprach: ,Ich habe Fortschritte gemacht.' Konfuzius fragte: ,Was heißt das?' Hui sprach: ,Ich sitze da und vergesse.'" Da ist der Meister endlich zufrieden. Indem der schlechthin Weise persönlich die Figur des Weisen auseinandernimmt, wird diese auf eine neue Stufe gehoben.
Die Geschichte, wie der Übersetzer zu seinem Projekt kam, hört sich fast selbst wie eine Geschichte aus dem Zhuangzi an. Schon als Jugendlicher las der 1970 in Jena geborene Viktor Kalinke das "Daodejing" des anderen großen Daoisten, Laotse, und seither ließ ihn die Verwirrung angesichts der vielen unterschiedlichen, einander eigentlich ausschließenden, aber vom Text offenbar bewusst zugelassenen Deutungs- und Übersetzungsmöglichkeiten nicht mehr in Ruhe. Die Verwirrung führte ihn zu einem Studium des Altchinesischen an der Peking-Universität, zum Schreiben eines dreiteiligen Buchs über die Textvarianten und den Hintergrund des "Daodejing" und schließlich, da niemand das Buch drucken wollte, 1998 zur Gründung eines eigenen Verlags, dem seither mit Hilfe eines weitgespannten Freundes- und Mitarbeiterkreises zahlreiche literarische Neu- und Wiederentdeckungen, vor allem aus Osteuropa, gelungen sind. Und die Verwirrung führte ihn dazu, nach einem Studium der Psychologie anfangs beruflich und heute noch ehrenamtlich Strafgefangenen bei ihrer Resozialisierung zur Seite zu stehen. Der systemische Ansatz, den er den Daoisten abgelauscht hatte, helfe ihm bei diesen Gesprächen, erstarrte Verhältnisse zu verflüssigen, sagte Kalinke in seinem von expressiven chinesischen Kalligraphien dominierten Leipziger Verlagsbüro, als wir uns noch vor dem Corona-Lockdown dort trafen. "Was geschieht", schrieb er in seinem Laotse-Buch, "wenn eine Sache sich nicht so verhält, wie sie es soll? Die typische Reaktion des Europäers in einer solchen Situation ist das lautstarke Pochen auf Einhaltung der Regeln." Der Daoist passe sich dagegen erst "der Wirklichkeit und der Situation an", bevor er versuche, diese seinen Bedürfnissen anzupassen. Sieben Jahre arbeitete Kalinke dann an seiner Zhuangzi-Edition, die dank der Interlinearübertragung in der ursprünglichen Fassung den Lesern die Möglichkeit gibt, jede einzelne Übersetzungsentscheidung nachzuvollziehen.
Der Zhuangzi, also Meister Zhuang, der dem Buch seinen Namen gibt, ist eine legendäre Figur. Laut dem Geschichtsschreiber Sima Qian aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert soll er die zurückgezogene Stellung eines Gärtners in einer Kleinstadt bekleidet haben. Über den wirklichen Autor oder das Autorenkollektiv, die hinter dem Werk stecken, weiß man nichts Zuverlässiges. Doch es gibt im Buch selbst ein Selbstporträt des Verfassers: Er erkennt sich da in einem riesigen knorrigen und nutzlosen Baum wieder. Als ihn ein Dialogpartner mit einem solchen Baum vergleicht - "Nun, Meister, du drechselst große und nutzlose Worte, daher wendet sich die Menge einmütig von dir ab" -, stimmt er zu, gibt aber gerade das als seinen Vorzug aus: "Da kannst du, wenn du nichts zu tun hast, um ihn herumspazieren oder dich unbekümmert zum Ausruhen bei ihm niederlegen." Das ist nicht einfach eine Koketterie mit seiner von ihm selbst offenbar deutlich empfundenen und reflektierten Merkwürdigkeit, so als ob es sich dabei bloß um eine ausgefuchste ästhetische Strategie handelte. Vielmehr erklärt er die eigene "Philosophie" da zum Exempel ihres Inhalts: Diese Dialoge und Geschichten sollen nicht einfach eine Lehre mehr sein, sondern ein Stück des Lebens selbst, das sie zur Sprache bringen. Man soll in der Gegenwart dieser Philosophie unbekümmert nichts tun können.
Damit plädiert das Buch weder für Passivität noch für Eskapismus. Das Nichtstun erscheint hier vielmehr als andere Seite der systematisch betriebenen Desillusionierung, die hinter der kulturellen Enthaltung steckt: also zu entdecken, wie vollständig schon das nackte Leben ist und wie wenig sein Wert von sich aus der Optimierung durch das eigene Eingreifen bedarf. Diese Art Nichtstun, könnte man mit nur geringfügiger Überspitzung sagen, ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, unideologisch, umsichtig und entschlossen zu handeln.
MARK SIEMONS
Zhuangzi: "Das Buch der daoistischen Weisheit. Gesamttext". Aus dem Chinesischen von Viktor Kalinke. Reclam Verlag, 456 Seiten, 30 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das legendäre Buch 'Zhuangzi', das philosophischste (und anarchischste) unter den chinesischen Weisheitsbüchern liegt jetzt in einer neuen und erstmalig das gesamte Buch umfassenden Übersetzung vor. Vivat Reclam!« »So philologisch genau und zugleich flüssig, unbelastet von esoterischem Jargon, war das 'Zhuangzi' bislang nicht auf Deutsch zu lesen. Ein Buch der Stunde!« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.04.2020