"Geradlinigkeit ist eine Tugend, die man an Enzensbergers Werk oft vermißt hat. Dieser Autor hat die Vorzüge der Literatur von Anfang an anderswo gesehen; insbesondere den Essay hält er, um mit Montaigne zu sprechen, für eine Form, die "nicht das Sein, sondern den übergang beschreibt" Schon mit dem Titel seines neuen Buches bleibt er der überzeugung treu, daß es nicht das lineare Denken ist, das am ehesten zum Ziel führt. Wenn auch schwer zu erreichen, so ist dieses Ziel doch bescheiden: ein wenig Licht in unsere undurchsichtigen Verhältnisse zu bringen. Wen das anachronistisch anmutet - der Verdacht, es könnte sich um eine aufklärerische Absicht handeln, liegt ja nahe -, der kann sich durch den Aufsatz bestätigt fühlen, der den Band eröffnet und eben die Frage aufwirft, ob es wünschenswert ist, die Gleichzeitigkeit anzubeten.
Im übrigen legt Enzensberger hier Arbeiten aus den Jahren 1989-1996 vor. Drei Essays werden zum erstenmal gedruckt. Die anderen sind, bis auf minimale stilistische Retuschen, unverändert. Einige, wie der Kommentar zum Golfkrieg, haben heftige Kontroversen ausgelöst, während andere eher wie die stille Post wirkten - was nicht gegen sie zu sprechen braucht. Sie handeln, unter anderm, vom Verdampfen der Utopie, vom Terror der Verschwendung und von den Eigentümlichkeiten des lyrischen Betriebs.
Inhalt
I
Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus (1996)
II
Europa in Trümmern. Ein Prospekt (1990)
Die Helden des Rückzugs. Brouillon zu einer politischen Moral der Macht (1989)
Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie (1990)
Hitlers Wiedergänger. Mit einer Nachschrift (1991)
Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Postkarte (1992)
Haßproduzenten. Eine Erinnerung (1992)
Erbarmen mit den Politikern. Eine Handreichung (1992)
Vom Terror der Verschwendung. Eine Neujahrspredigt (1992)
III
Klamotten-Theater. Ein Nekrolog auf die Mode (1993)
Luxus -- woher und wohin damit? Reminiszenzen an den überfluß (1995)
Verunstaltung durch Veranstaltung. Eine Glosse über das Entbehrliche (1993)
Auswärts im Rückwärtsgang. Eine kulturpolitische Blamage (1995)
Meldungen vom lyrischen Betrieb. Drei Metaphrasen (1989)
Im übrigen legt Enzensberger hier Arbeiten aus den Jahren 1989-1996 vor. Drei Essays werden zum erstenmal gedruckt. Die anderen sind, bis auf minimale stilistische Retuschen, unverändert. Einige, wie der Kommentar zum Golfkrieg, haben heftige Kontroversen ausgelöst, während andere eher wie die stille Post wirkten - was nicht gegen sie zu sprechen braucht. Sie handeln, unter anderm, vom Verdampfen der Utopie, vom Terror der Verschwendung und von den Eigentümlichkeiten des lyrischen Betriebs.
Inhalt
I
Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus (1996)
II
Europa in Trümmern. Ein Prospekt (1990)
Die Helden des Rückzugs. Brouillon zu einer politischen Moral der Macht (1989)
Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie (1990)
Hitlers Wiedergänger. Mit einer Nachschrift (1991)
Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Postkarte (1992)
Haßproduzenten. Eine Erinnerung (1992)
Erbarmen mit den Politikern. Eine Handreichung (1992)
Vom Terror der Verschwendung. Eine Neujahrspredigt (1992)
III
Klamotten-Theater. Ein Nekrolog auf die Mode (1993)
Luxus -- woher und wohin damit? Reminiszenzen an den überfluß (1995)
Verunstaltung durch Veranstaltung. Eine Glosse über das Entbehrliche (1993)
Auswärts im Rückwärtsgang. Eine kulturpolitische Blamage (1995)
Meldungen vom lyrischen Betrieb. Drei Metaphrasen (1989)
»Ein Film läuft ab, in dem der Held der Menge immer ein paar Sekunden voraus ist. Im Rückblick schmilzt dieser Vorsprung zusammen; bedeutsam scheint nur noch die Laufrichtung.« Patrick Bahners Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997Postkarte vom Frühwarner aus Uganda
Kinder, wie die Zeit vergeht: Hans Magnus Enzensberger läuft im Zickzack durch offene Türen / Von Patrick Bahners
Jeder, der in einer deutschen Zeitung blättert, kann feststellen, daß wir in einem Land leben, das die Blockade seiner eigenen Möglichkeiten als Lebensversicherung betrachtet. Renten-, Steuer- und Gesundheitsreformen - alles bleibt im Matsch der Gewohnheit stecken. Im Immobilismus der Gewerkschaften, in der Trägheit der Universitäten, im verzweifelten Weitermachen der Agrarpolitik - überall zeigt sich die entschiedene Weigerung, einen neuen Gedanken zu fassen." Jeder, der in einer deutschen Zeitung blättert, kennt solche Aufrufe, die das Land wachrütteln sollen und doch nur den Verdacht wecken, der Verfasser sei selbst nicht bei Bewußtsein. Bürokratiekritik und Nationalpsychologie sind die Materialien einer Soziologie im Eigenbau. Die Methode ist Ikea abgeschaut: Zur Fertigung sind keine Denkwerkzeuge erforderlich. Den alten Gedanken, es fehle den tumben Deutschen zur Rettung aus ihrer Misere nur der neue Gedanke, hätte man Hans Magnus Enzensberger zuletzt zugetraut, der mit kaltem Lächeln die Selbsttäuschung der Intellektuellen zu analysieren liebt, der Wille zur Vernunft könne die Welt ins Lot bringen. Von ihm hätte man eher die kleine Apologie für den Matsch der Gewohnheit erwartet: Schmutzig, klebrig, feucht, sorgt er doch dafür, daß die Leute auf dem Boden bleiben.
Der Titel gibt dem Leser von Enzensbergers gesammelten öffentlichen Äußerungen der vergangenen acht Jahre vorab zu verstehen, Widerspruchsfreiheit dürfe er nicht suchen. Mit Adenauerscher Souveränität gegenüber dem eigenen Geschwätz tut der Autor heute die Frage nach einer Ästhetik des Staates als reaktionäre Marotte ab, um morgen über den spießigen Lebensstil der Berufspolitiker zu spotten. Die Verachtung des politischen Personals, die mit einer kuriosen Bewunderung der wirtschaftlichen Führungskräfte einhergeht, ändert aber nichts daran, daß manche Metapher Enzensbergers sich bruchlos einer beliebigen Politikerrede einfügen ließe. Könnte nicht auch Friedbert Pflüger die auswärtige Kulturpolitik als "dialogfähiges Frühwarnsystem" für den "unvermeidlichen Streit der Zivilisationen" empfehlen? Hätte den Dichter vor dem militärtechnischen Bild nicht die Überlegung warnen müssen, daß das Frühwarnsystem den Zweck hat, den zeitigen Gegenschlag zu ermöglichen? Wie eine solche Apparatur dialogfähig zu gestalten wäre, wissen die Götter. Vielleicht trifft Tim Burton Enzensbergers Intention, der in seinem Film "Mars attacks!" die Marsmenschen bei ihren Zerstörungsorgien ein schepperndes Tonband mit der Botschaft "Wir kommen als Freunde" abspielen läßt.
Die Verwechselbarkeit des Produkts wäre für den Poeten fatal. Beim politischen Schriftsteller mag sie den Erfolg markieren. Im Meinungskampf siegt, wer alle dazu bringt, so zu reden wie er. Anhand der vorliegenden Sammlung ließe sich eine politische Ideengeschichte der neunziger Jahre schreiben. Man erinnert sich beim Wiederlesen manches Textes, wie sehr einen die Originalität der Perspektive frappierte. Es konnte nicht ausbleiben, daß die optischen Entdeckungen die intellektuelle Brillenindustrie inspirierten. Schlau war Enzensbergers Position im wirren Streit um die deutsche Vereinigung. In der Beharrlichkeit der Ostdeutschen, die nicht Ruhe gaben, bis sie endlich ihre Banane kosten durften, entdeckte er ein Freiheitsstreben, das den ängstlichen Bevormundungswahn der Intellektuellen ebenso blamierte wie die etatistischen Kontrollphantasien der Politiker.
Aber wie abgestanden wirkt sieben Jahre später die schwärmerische Rede, die Demokratie sei "ein offener, produktiver, riskanter Prozeß, der sich selbst organisiert". In der Tat, "selbst der dreisteste Regierungssprecher" wiederholt heute nicht mehr "Hegels Diktum", der Staat sei "der erscheinende Gott". Der Aufklärer rennt hier Türen ein, die die Mächtigen selber aufgestoßen haben; sie glauben sowieso, daß Hegel fast so böse Dinge gedacht hat wie Carl Schmitt. In den Zeiten des neuen Vulgärliberalismus zeigt sich die Dreistigkeit von Regierungssprechern darin, daß sie die Notwendigkeit der Abschaffung der Regierung behaupten. Der "Dorfbürgermeister, der auf eigene Faust die eingebrochene Brücke reparieren ließ", und der "Schreiner, der die kaputte Kreissäge jenseits der Grenze wieder in Gang setzte", avancierten vielleicht schon in der nächsten Woche zu Titelhelden im "Spiegel"; daß sie für Balladen aus der Geschichte des Fortschritts taugen, hat Enzensberger zuerst entdeckt.
Die Begeisterung, mit der der Autor über die Segnungen der "Selbstorganisation" fabuliert, verrät das frische Lektüreerlebnis. Seit es die biologische Evolutionstheorie gibt, hält sich die Hoffnung, sie könne auch über die Entwicklung der Gesellschaft Auskunft geben. Nicht zufällig sind es vornehmlich Essayisten gewesen, die sich um diese Übertragung bemüht haben; ihnen war die vage Metapher genug, wo die Wissenschaft den präzisen Begriff verlangt hätte. In den harmloseren Fällen begnügte sich dieser Sozialdarwinismus mit dem tröstlichen Versprechen, es werde schon alles gut ausgehen, wenn man sich nur mit den Verhältnissen arrangiere. Diesen Rat hält auch Enzensberger bereit. "Statt auf die Erlösung durch eine schlagende Idee zu hoffen, vertraut man sich lieber einem unendlich verwickelten, sich selbst korrigierenden Prozeß an, der nicht nur den Fortschritt, sondern auch den Rückzug, nicht nur den Zugriff, sondern auch die Vermeidung kennt."
Den Hinweis Darwins, daß die Korrekturen im Prozeß der Evolution für die Betroffenen gewöhnlich tödlich ausgehen, haben seine Jünger von jeher gerne überhört. Nur die Fassade ihres Lehrgebäudes sah wissenschaftlich aus; dahinter verbarg sich der alte Tempel des metaphysischen Optimismus. Enzensbergers Anleihen bei der Naturwissenschaft sind nicht viel besser gedeckt. Der hergebrachten, auf Macht und Kompetenz ausgerichteten Staatslehre weissagt er einen "Paradigmensturz, wie ihn die klassische Physik längst erfahren hat". Die Meinung, es bestehe ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Relativitätstheorie und der Unschärferelation einerseits und dem Durcheinander im menschlichen Zusammenleben andererseits, ist ein Aberglaube der Moderne, für den Naturwissenschaftler interessanterweise am wenigsten anfällig sind.
An der Systemtheorie, der Enzensberger die Formeln von der Selbstorganisation entnimmt, interessieren ihn die Stimmungswerte, nicht die Argumente. Seine Klage über den Immobilismus der deutschen Gesellschaft muß dem Systemtheoretiker bizarr erscheinen, der es für ein Wunder hält, daß es überhaupt Stabilität gibt. "Daß es bisher gutgegangen ist", klagt Enzensberger, "gilt als Beweis dafür, daß alles so weitergehen muß." Für ein System, das sich im Rückgriff auf seine eigenen Zustände selbst organisiert, kann es aber gar kein stärkeres Argument geben. Es ist zu jenem Weitermachen mit Bordmitteln verdammt, das Enzensberger, wenn es nicht gerade um die leeren Kassen des Goethe-Instituts geht, in den schimmernden Farben eines alltäglichen Heroismus zu malen versteht. An dieser Stelle mag man sich der Zacken des Titels erinnern, die wie ein Damoklesschwert über dem Leser schweben: Bloß keine Konsistenz verlangen! Warum soll der Essayist, der Vagabund des Geistes, nicht heute den Zug der Systemtheorie besteigen und morgen wieder abspringen? Vom Essay ist schließlich gesagt worden, in ihm entledige sich der Gedanke der traditionellen Idee von der Wahrheit und sein innerstes Formgesetz sei die Ketzerei.
Bei Enzensbergers Produktionen verhält es sich freilich so, daß ihr innerstes Formgesetz die Orthodoxie ist. Jeder seiner Texte setzt eine Prämisse, postuliert etwa, daß das Reich der Freizeitmode ein Inferno der Häßlichkeit ist oder daß die Politiker unser Mitleid verdienen, und zieht dann alle logisch möglichen Konsequenzen. Der Leser muß nicht damit rechnen, daß der Autor im Verlauf der Untersuchung seinen Standpunkt relativiert. Im Gegenteil verdankt sich der Effekt gerade der strikten Einhaltung der Form. Das Verfahren ist rhetorisch; der Autor gestattet sich keinen Selbstzweifel, um die Wirkung seines Textes jederzeit zu kontrollieren. Das Ergebnis ist zwingend und kann, da dem Verfahren der logischen Ableitung eine Tendenz zur Eskalation innewohnt, sehr amüsant sein. Jedes dieser Exerzitien sieht gerade davon ab, ob es zu anderen Versuchen desselben Autors paßt oder nicht. Das Zickzackmuster des Buches ist also geplant und ungeplant zugleich. Hier ist nun in der Tat die Evolutionstheorie hilfreich, gibt doch nicht eine durchgehaltene Absicht dem Buch seine Einheit, sondern nur die Abfolge von Reaktionen eines gewandten Beobachters auf Probleme der Zeit. Ein Film läuft ab, in dem der Held der Menge immer ein paar Sekunden voraus ist. Im Rückblick schmilzt dieser Vorsprung zusammen; bedeutsam erscheint nur noch die Laufrichtung.
Es mutet daher seltsam an, daß dem Band eine programmatische, bislang unpublizierte Abhandlung über die Produktivität des Anachronismus vorangestellt ist. Das Buch enthält deutlich mehr zustimmungsfähige Positionen als ein durchschnittlicher Reader von Jürgen Habermas; schwerlich wird der Leser sich überzeugen lassen, er studiere unzeitgemäße Betrachtungen. Als anachronistische Figur schlechthin definiert Enzensberger den Dichter. Er steht neben der Zeit, stiehlt ihr ihre Begriffe, um sie in seine Bilder zu verwandeln. Soll man die folgenden Beiträge, allesamt für bestimmte Anlässe geschrieben, als dichterische Äußerungen interpretieren? Sind sie anders gemeint, als sie auf dem Papier stehen?
Man mag meinen, ein Text vor allem könnte eine solche nachträgliche Verfremdung vertragen. Am 4. Februar 1991 veröffentlichte Enzensberger im "Spiegel" eine Art Psychogramm des irakischen Staatschefs Saddam Hussein, den er als "Hitlers Wiedergänger" bezeichnete. Schon damals fragte sich mancher Leser, ob er die Sache ernst nehmen dürfe; aberwitzig erschienen sozialpsychologische Spekulationen, die geradezu mutwillig von aller Empirie absahen. Der Text selbst scheint es auszuschließen, ihn als künstlerisches Experiment zu verstehen. Ausdrücklich erklärt der Autor, "daß die Rede von Saddam Hussein als einem Nachfolger Hitlers keine journalistische Metapher, keine propagandistische Übertreibung ist, sondern das Wesen der Sache trifft". Welche Ontologie diese Wesensaussage tragen soll, bleibt dunkel. Im staatsrechtlichen Sinne ist Saddam jedenfalls nicht Hitlers Nachfolger. Enzensberger nennt ihn den "Feind der Menschheit". Er will wissen, daß die "Regungen" der Iraker heute und der Deutschen damals "identisch" sind, und leitet aus dieser unbelegten Behauptung ab, daß wir es "mit einer anthropologischen Tatsache zu tun haben".
Die Anthropologie ist eine durch fatale Hypostasierungen diskreditierte Wissenschaft; trotzdem dürfte sie nur selten so haltlos generalisiert haben wie hier. Selbst wer noch im Rückblick den Golfkrieg gutheißt, darf sich darüber wundern, wie hier alle strategischen, politischen und moralischen Unterscheidungen einem mythischen Phantasma zum Opfer gebracht wurden. Man weiß nicht, ob Enzensberger heute noch an seiner Theorie festhält. Von Versuchen, die Weltöffentlichkeit gegen den Feind der Menschheit zu mobilisieren, der fröhlich weiterlebt, obwohl doch "sein Modus der Herrschaft der Untergang" ist, ist jedenfalls nichts bekanntgeworden. Keine Radioappelle, keine Unterschriftenaktion, kein Schriftstellerkongreß. So eine schlechte Idee war der Antifaschismus nun auch wieder nicht!
An anderer Stelle erklärt Enzensberger selbst, warum Dichter so häufig in Gesellschaft der Kriegstreiber zu finden sind. "Augenmaß und Kompromiß sind für sie einfach keine sehr verlockende Option." Hatte Thomas Mann 1914 Künstler und Soldaten noch durch das Prinzip der Organisation verbunden gesehen, durch Solidität, Exaktheit und Umsicht, erkennt man im Rückblick auf das Jahrhundert, daß der Exzeß das Gemeinsame von moderner Kunst und totalem Krieg ist. Man darf vermuten, daß Enzensbergers Kriegserklärung im Namen der Menschheit ein Versuch war, für einen Moment jener Gewöhnlichkeit zu entkommen, deren Wonnen er so betörend zu besingen weiß. Es verdient Respekt, daß er dieses Dokument wieder abdruckt; er erleichtert die Arbeit der Doktoranden, die künftig über die intellektuelle Aufrüstung im Golfkriegswinter forschen werden.
Die Selbstauslieferung an die Unvernunft des Augenblicks blieb im Berichtszeitraum die Ausnahme. Rhetorisch wahrt der Autor die Distanz zur eigenen Zeit und zum eigenen Land. Er ist weit herumgekommen. "Wer je einer griechischen Dorfhochzeit oder einem kaukasischen Gastmahl beigewohnt hat, der weiß, daß in vielen Gegenden der Welt auch die ärmste Familie bereit ist, sich auf Jahre hinaus zu ruinieren, wenn es darum geht, sich über den elenden Alltag zu erheben." Auf "den Straßen von Moskau" kennt sich der Reisende nicht weniger aus als "in den Bazaren von Manila"; aus Uganda schickt er eine Postkarte nach Berlin mit Warnungen zum Bosnienkrieg: ein monologfähiges Frühwarnsystem. Oft genug ist Entwarnung die Botschaft. Vor dem Auge des universalhistorisch gebildeten Betrachters nehmen sich die Sorgen der Gegenwart klein und lächerlich aus. "Es ist gar nicht so lange her, da waren Güter wie Zucker und Glas, Samt und Licht, Pfeffer und Spiegel in Europa einer kleinen Minderheit von Mächtigen und Vermögenden vorbehalten." Kinder, wie die Zeit vergeht! Auch die Aufregung der Utopiedebatte verfliegt, hat man sich einmal überlegt, daß die Utopie "das spezifische Produkt einer ganz bestimmten, nämlich der europäischen Kultur" ist, "eine griechische Idee, die später auf unserem Kontinent eine, wie zu vermuten ist, relativ kurze Blüte erlebt hat, von Bacon und Campanella bis zu Fourier und Marx". Recht besehen ist jede Zeitspanne relativ kurz: ein Paradigmensturz, den sich die Physik noch nicht hat träumen lassen.
Die Freude, mit der Enzensberger auch bekannte Sachverhalte als Neuigkeiten präsentiert, weist ihn als unverbesserlichen Humanisten aus. Und keinem seiner Leser wird alles bekannt sein. Der eine hat vielleicht noch nie einer griechischen Dorfhochzeit beigewohnt, der andere wußte bislang nicht, daß "schon die sprichwörtliche spartanische Erziehung, was ihre Motive und Methoden angeht, kaum etwas mit den Lehren der Kyniker gemein" hatte. Nur der sprichwörtliche Zyniker wird mutmaßen, "Aufsätze" und nicht Essays habe der Autor seine Texte genannt, weil ihm selbst beim Wiederlesen ihr streberhafter Ton aufgefallen sei. Man spotte nicht über die Liebe zur Belehrung; sie war nicht die schlechteste griechische Idee, die später auf unserem Kontinent eine relativ kurze Blüte erlebt hat. Nach der Zwischenlagerung in diesem Buch werden Enzensbergers dialektische Übungen zweifellos bald dorthin gelangen, wohin sie gehören: ins Lesebuch für die Oberstufe.
Hans Magnus Enzensberger: "Zickzack". Aufsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 200 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kinder, wie die Zeit vergeht: Hans Magnus Enzensberger läuft im Zickzack durch offene Türen / Von Patrick Bahners
Jeder, der in einer deutschen Zeitung blättert, kann feststellen, daß wir in einem Land leben, das die Blockade seiner eigenen Möglichkeiten als Lebensversicherung betrachtet. Renten-, Steuer- und Gesundheitsreformen - alles bleibt im Matsch der Gewohnheit stecken. Im Immobilismus der Gewerkschaften, in der Trägheit der Universitäten, im verzweifelten Weitermachen der Agrarpolitik - überall zeigt sich die entschiedene Weigerung, einen neuen Gedanken zu fassen." Jeder, der in einer deutschen Zeitung blättert, kennt solche Aufrufe, die das Land wachrütteln sollen und doch nur den Verdacht wecken, der Verfasser sei selbst nicht bei Bewußtsein. Bürokratiekritik und Nationalpsychologie sind die Materialien einer Soziologie im Eigenbau. Die Methode ist Ikea abgeschaut: Zur Fertigung sind keine Denkwerkzeuge erforderlich. Den alten Gedanken, es fehle den tumben Deutschen zur Rettung aus ihrer Misere nur der neue Gedanke, hätte man Hans Magnus Enzensberger zuletzt zugetraut, der mit kaltem Lächeln die Selbsttäuschung der Intellektuellen zu analysieren liebt, der Wille zur Vernunft könne die Welt ins Lot bringen. Von ihm hätte man eher die kleine Apologie für den Matsch der Gewohnheit erwartet: Schmutzig, klebrig, feucht, sorgt er doch dafür, daß die Leute auf dem Boden bleiben.
Der Titel gibt dem Leser von Enzensbergers gesammelten öffentlichen Äußerungen der vergangenen acht Jahre vorab zu verstehen, Widerspruchsfreiheit dürfe er nicht suchen. Mit Adenauerscher Souveränität gegenüber dem eigenen Geschwätz tut der Autor heute die Frage nach einer Ästhetik des Staates als reaktionäre Marotte ab, um morgen über den spießigen Lebensstil der Berufspolitiker zu spotten. Die Verachtung des politischen Personals, die mit einer kuriosen Bewunderung der wirtschaftlichen Führungskräfte einhergeht, ändert aber nichts daran, daß manche Metapher Enzensbergers sich bruchlos einer beliebigen Politikerrede einfügen ließe. Könnte nicht auch Friedbert Pflüger die auswärtige Kulturpolitik als "dialogfähiges Frühwarnsystem" für den "unvermeidlichen Streit der Zivilisationen" empfehlen? Hätte den Dichter vor dem militärtechnischen Bild nicht die Überlegung warnen müssen, daß das Frühwarnsystem den Zweck hat, den zeitigen Gegenschlag zu ermöglichen? Wie eine solche Apparatur dialogfähig zu gestalten wäre, wissen die Götter. Vielleicht trifft Tim Burton Enzensbergers Intention, der in seinem Film "Mars attacks!" die Marsmenschen bei ihren Zerstörungsorgien ein schepperndes Tonband mit der Botschaft "Wir kommen als Freunde" abspielen läßt.
Die Verwechselbarkeit des Produkts wäre für den Poeten fatal. Beim politischen Schriftsteller mag sie den Erfolg markieren. Im Meinungskampf siegt, wer alle dazu bringt, so zu reden wie er. Anhand der vorliegenden Sammlung ließe sich eine politische Ideengeschichte der neunziger Jahre schreiben. Man erinnert sich beim Wiederlesen manches Textes, wie sehr einen die Originalität der Perspektive frappierte. Es konnte nicht ausbleiben, daß die optischen Entdeckungen die intellektuelle Brillenindustrie inspirierten. Schlau war Enzensbergers Position im wirren Streit um die deutsche Vereinigung. In der Beharrlichkeit der Ostdeutschen, die nicht Ruhe gaben, bis sie endlich ihre Banane kosten durften, entdeckte er ein Freiheitsstreben, das den ängstlichen Bevormundungswahn der Intellektuellen ebenso blamierte wie die etatistischen Kontrollphantasien der Politiker.
Aber wie abgestanden wirkt sieben Jahre später die schwärmerische Rede, die Demokratie sei "ein offener, produktiver, riskanter Prozeß, der sich selbst organisiert". In der Tat, "selbst der dreisteste Regierungssprecher" wiederholt heute nicht mehr "Hegels Diktum", der Staat sei "der erscheinende Gott". Der Aufklärer rennt hier Türen ein, die die Mächtigen selber aufgestoßen haben; sie glauben sowieso, daß Hegel fast so böse Dinge gedacht hat wie Carl Schmitt. In den Zeiten des neuen Vulgärliberalismus zeigt sich die Dreistigkeit von Regierungssprechern darin, daß sie die Notwendigkeit der Abschaffung der Regierung behaupten. Der "Dorfbürgermeister, der auf eigene Faust die eingebrochene Brücke reparieren ließ", und der "Schreiner, der die kaputte Kreissäge jenseits der Grenze wieder in Gang setzte", avancierten vielleicht schon in der nächsten Woche zu Titelhelden im "Spiegel"; daß sie für Balladen aus der Geschichte des Fortschritts taugen, hat Enzensberger zuerst entdeckt.
Die Begeisterung, mit der der Autor über die Segnungen der "Selbstorganisation" fabuliert, verrät das frische Lektüreerlebnis. Seit es die biologische Evolutionstheorie gibt, hält sich die Hoffnung, sie könne auch über die Entwicklung der Gesellschaft Auskunft geben. Nicht zufällig sind es vornehmlich Essayisten gewesen, die sich um diese Übertragung bemüht haben; ihnen war die vage Metapher genug, wo die Wissenschaft den präzisen Begriff verlangt hätte. In den harmloseren Fällen begnügte sich dieser Sozialdarwinismus mit dem tröstlichen Versprechen, es werde schon alles gut ausgehen, wenn man sich nur mit den Verhältnissen arrangiere. Diesen Rat hält auch Enzensberger bereit. "Statt auf die Erlösung durch eine schlagende Idee zu hoffen, vertraut man sich lieber einem unendlich verwickelten, sich selbst korrigierenden Prozeß an, der nicht nur den Fortschritt, sondern auch den Rückzug, nicht nur den Zugriff, sondern auch die Vermeidung kennt."
Den Hinweis Darwins, daß die Korrekturen im Prozeß der Evolution für die Betroffenen gewöhnlich tödlich ausgehen, haben seine Jünger von jeher gerne überhört. Nur die Fassade ihres Lehrgebäudes sah wissenschaftlich aus; dahinter verbarg sich der alte Tempel des metaphysischen Optimismus. Enzensbergers Anleihen bei der Naturwissenschaft sind nicht viel besser gedeckt. Der hergebrachten, auf Macht und Kompetenz ausgerichteten Staatslehre weissagt er einen "Paradigmensturz, wie ihn die klassische Physik längst erfahren hat". Die Meinung, es bestehe ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Relativitätstheorie und der Unschärferelation einerseits und dem Durcheinander im menschlichen Zusammenleben andererseits, ist ein Aberglaube der Moderne, für den Naturwissenschaftler interessanterweise am wenigsten anfällig sind.
An der Systemtheorie, der Enzensberger die Formeln von der Selbstorganisation entnimmt, interessieren ihn die Stimmungswerte, nicht die Argumente. Seine Klage über den Immobilismus der deutschen Gesellschaft muß dem Systemtheoretiker bizarr erscheinen, der es für ein Wunder hält, daß es überhaupt Stabilität gibt. "Daß es bisher gutgegangen ist", klagt Enzensberger, "gilt als Beweis dafür, daß alles so weitergehen muß." Für ein System, das sich im Rückgriff auf seine eigenen Zustände selbst organisiert, kann es aber gar kein stärkeres Argument geben. Es ist zu jenem Weitermachen mit Bordmitteln verdammt, das Enzensberger, wenn es nicht gerade um die leeren Kassen des Goethe-Instituts geht, in den schimmernden Farben eines alltäglichen Heroismus zu malen versteht. An dieser Stelle mag man sich der Zacken des Titels erinnern, die wie ein Damoklesschwert über dem Leser schweben: Bloß keine Konsistenz verlangen! Warum soll der Essayist, der Vagabund des Geistes, nicht heute den Zug der Systemtheorie besteigen und morgen wieder abspringen? Vom Essay ist schließlich gesagt worden, in ihm entledige sich der Gedanke der traditionellen Idee von der Wahrheit und sein innerstes Formgesetz sei die Ketzerei.
Bei Enzensbergers Produktionen verhält es sich freilich so, daß ihr innerstes Formgesetz die Orthodoxie ist. Jeder seiner Texte setzt eine Prämisse, postuliert etwa, daß das Reich der Freizeitmode ein Inferno der Häßlichkeit ist oder daß die Politiker unser Mitleid verdienen, und zieht dann alle logisch möglichen Konsequenzen. Der Leser muß nicht damit rechnen, daß der Autor im Verlauf der Untersuchung seinen Standpunkt relativiert. Im Gegenteil verdankt sich der Effekt gerade der strikten Einhaltung der Form. Das Verfahren ist rhetorisch; der Autor gestattet sich keinen Selbstzweifel, um die Wirkung seines Textes jederzeit zu kontrollieren. Das Ergebnis ist zwingend und kann, da dem Verfahren der logischen Ableitung eine Tendenz zur Eskalation innewohnt, sehr amüsant sein. Jedes dieser Exerzitien sieht gerade davon ab, ob es zu anderen Versuchen desselben Autors paßt oder nicht. Das Zickzackmuster des Buches ist also geplant und ungeplant zugleich. Hier ist nun in der Tat die Evolutionstheorie hilfreich, gibt doch nicht eine durchgehaltene Absicht dem Buch seine Einheit, sondern nur die Abfolge von Reaktionen eines gewandten Beobachters auf Probleme der Zeit. Ein Film läuft ab, in dem der Held der Menge immer ein paar Sekunden voraus ist. Im Rückblick schmilzt dieser Vorsprung zusammen; bedeutsam erscheint nur noch die Laufrichtung.
Es mutet daher seltsam an, daß dem Band eine programmatische, bislang unpublizierte Abhandlung über die Produktivität des Anachronismus vorangestellt ist. Das Buch enthält deutlich mehr zustimmungsfähige Positionen als ein durchschnittlicher Reader von Jürgen Habermas; schwerlich wird der Leser sich überzeugen lassen, er studiere unzeitgemäße Betrachtungen. Als anachronistische Figur schlechthin definiert Enzensberger den Dichter. Er steht neben der Zeit, stiehlt ihr ihre Begriffe, um sie in seine Bilder zu verwandeln. Soll man die folgenden Beiträge, allesamt für bestimmte Anlässe geschrieben, als dichterische Äußerungen interpretieren? Sind sie anders gemeint, als sie auf dem Papier stehen?
Man mag meinen, ein Text vor allem könnte eine solche nachträgliche Verfremdung vertragen. Am 4. Februar 1991 veröffentlichte Enzensberger im "Spiegel" eine Art Psychogramm des irakischen Staatschefs Saddam Hussein, den er als "Hitlers Wiedergänger" bezeichnete. Schon damals fragte sich mancher Leser, ob er die Sache ernst nehmen dürfe; aberwitzig erschienen sozialpsychologische Spekulationen, die geradezu mutwillig von aller Empirie absahen. Der Text selbst scheint es auszuschließen, ihn als künstlerisches Experiment zu verstehen. Ausdrücklich erklärt der Autor, "daß die Rede von Saddam Hussein als einem Nachfolger Hitlers keine journalistische Metapher, keine propagandistische Übertreibung ist, sondern das Wesen der Sache trifft". Welche Ontologie diese Wesensaussage tragen soll, bleibt dunkel. Im staatsrechtlichen Sinne ist Saddam jedenfalls nicht Hitlers Nachfolger. Enzensberger nennt ihn den "Feind der Menschheit". Er will wissen, daß die "Regungen" der Iraker heute und der Deutschen damals "identisch" sind, und leitet aus dieser unbelegten Behauptung ab, daß wir es "mit einer anthropologischen Tatsache zu tun haben".
Die Anthropologie ist eine durch fatale Hypostasierungen diskreditierte Wissenschaft; trotzdem dürfte sie nur selten so haltlos generalisiert haben wie hier. Selbst wer noch im Rückblick den Golfkrieg gutheißt, darf sich darüber wundern, wie hier alle strategischen, politischen und moralischen Unterscheidungen einem mythischen Phantasma zum Opfer gebracht wurden. Man weiß nicht, ob Enzensberger heute noch an seiner Theorie festhält. Von Versuchen, die Weltöffentlichkeit gegen den Feind der Menschheit zu mobilisieren, der fröhlich weiterlebt, obwohl doch "sein Modus der Herrschaft der Untergang" ist, ist jedenfalls nichts bekanntgeworden. Keine Radioappelle, keine Unterschriftenaktion, kein Schriftstellerkongreß. So eine schlechte Idee war der Antifaschismus nun auch wieder nicht!
An anderer Stelle erklärt Enzensberger selbst, warum Dichter so häufig in Gesellschaft der Kriegstreiber zu finden sind. "Augenmaß und Kompromiß sind für sie einfach keine sehr verlockende Option." Hatte Thomas Mann 1914 Künstler und Soldaten noch durch das Prinzip der Organisation verbunden gesehen, durch Solidität, Exaktheit und Umsicht, erkennt man im Rückblick auf das Jahrhundert, daß der Exzeß das Gemeinsame von moderner Kunst und totalem Krieg ist. Man darf vermuten, daß Enzensbergers Kriegserklärung im Namen der Menschheit ein Versuch war, für einen Moment jener Gewöhnlichkeit zu entkommen, deren Wonnen er so betörend zu besingen weiß. Es verdient Respekt, daß er dieses Dokument wieder abdruckt; er erleichtert die Arbeit der Doktoranden, die künftig über die intellektuelle Aufrüstung im Golfkriegswinter forschen werden.
Die Selbstauslieferung an die Unvernunft des Augenblicks blieb im Berichtszeitraum die Ausnahme. Rhetorisch wahrt der Autor die Distanz zur eigenen Zeit und zum eigenen Land. Er ist weit herumgekommen. "Wer je einer griechischen Dorfhochzeit oder einem kaukasischen Gastmahl beigewohnt hat, der weiß, daß in vielen Gegenden der Welt auch die ärmste Familie bereit ist, sich auf Jahre hinaus zu ruinieren, wenn es darum geht, sich über den elenden Alltag zu erheben." Auf "den Straßen von Moskau" kennt sich der Reisende nicht weniger aus als "in den Bazaren von Manila"; aus Uganda schickt er eine Postkarte nach Berlin mit Warnungen zum Bosnienkrieg: ein monologfähiges Frühwarnsystem. Oft genug ist Entwarnung die Botschaft. Vor dem Auge des universalhistorisch gebildeten Betrachters nehmen sich die Sorgen der Gegenwart klein und lächerlich aus. "Es ist gar nicht so lange her, da waren Güter wie Zucker und Glas, Samt und Licht, Pfeffer und Spiegel in Europa einer kleinen Minderheit von Mächtigen und Vermögenden vorbehalten." Kinder, wie die Zeit vergeht! Auch die Aufregung der Utopiedebatte verfliegt, hat man sich einmal überlegt, daß die Utopie "das spezifische Produkt einer ganz bestimmten, nämlich der europäischen Kultur" ist, "eine griechische Idee, die später auf unserem Kontinent eine, wie zu vermuten ist, relativ kurze Blüte erlebt hat, von Bacon und Campanella bis zu Fourier und Marx". Recht besehen ist jede Zeitspanne relativ kurz: ein Paradigmensturz, den sich die Physik noch nicht hat träumen lassen.
Die Freude, mit der Enzensberger auch bekannte Sachverhalte als Neuigkeiten präsentiert, weist ihn als unverbesserlichen Humanisten aus. Und keinem seiner Leser wird alles bekannt sein. Der eine hat vielleicht noch nie einer griechischen Dorfhochzeit beigewohnt, der andere wußte bislang nicht, daß "schon die sprichwörtliche spartanische Erziehung, was ihre Motive und Methoden angeht, kaum etwas mit den Lehren der Kyniker gemein" hatte. Nur der sprichwörtliche Zyniker wird mutmaßen, "Aufsätze" und nicht Essays habe der Autor seine Texte genannt, weil ihm selbst beim Wiederlesen ihr streberhafter Ton aufgefallen sei. Man spotte nicht über die Liebe zur Belehrung; sie war nicht die schlechteste griechische Idee, die später auf unserem Kontinent eine relativ kurze Blüte erlebt hat. Nach der Zwischenlagerung in diesem Buch werden Enzensbergers dialektische Übungen zweifellos bald dorthin gelangen, wohin sie gehören: ins Lesebuch für die Oberstufe.
Hans Magnus Enzensberger: "Zickzack". Aufsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 200 S., geb., 32,- DM.
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