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Die Geschichte einer erotischen GratwanderungDieses Buch erzählt die Geschichte des Architekten Böhring, der den Sommerurlaub mit seiner Frau Ina und der Tochter Julia an der spanischen Mittelmeerküste verbringt. Im Gegensatz zu ihnen gelingt es dem alternden Böhring nicht, sich auf das entspannte Nichtstun am Strand, das Baden, die Ausflüge in die Umgebung, das ganze Flair eines südlichen Sommers einzulassen.Ohne daß er weiß weshalb, verwandelt sich die Welt um ihn herum in eine untergründige, gesichtslose Drohung.
Böhring weiß nicht, was er sucht, bis er es im plötzlichen Erschrecken
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Produktbeschreibung
Die Geschichte einer erotischen GratwanderungDieses Buch erzählt die Geschichte des Architekten Böhring, der den Sommerurlaub mit seiner Frau Ina und der Tochter Julia an der spanischen Mittelmeerküste verbringt. Im Gegensatz zu ihnen gelingt es dem alternden Böhring nicht, sich auf das entspannte Nichtstun am Strand, das Baden, die Ausflüge in die Umgebung, das ganze Flair eines südlichen Sommers einzulassen.Ohne daß er weiß weshalb, verwandelt sich die Welt um ihn herum in eine untergründige, gesichtslose Drohung.

Böhring weiß nicht, was er sucht, bis er es im plötzlichen Erschrecken erkennt. Die flirrende Hitze, die Sommergewitter, die wilde Natur jenseits der Ferienwelt bereiten den panischen Augenblick der Konfrontation mit dem Außerordentlichen vor.
Autorenporträt
Dieter Wellershoff, geboren am 3. November 1925 in Neuss, starb am 15. Juni 2018 in Köln. Er schrieb Romane, Novellen, Erzählungen, Essays und autobiographische Bücher, z.B. »Der Ernstfall«, 1995, über seine Erfahrungen im 2. Weltkrieg. Wellershoff hielt poetologische Vorlesungen an in- und ausländischen Universitäten, zuletzt in Frankfurt a.M. Er erhielt u.a. den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Heinrich-Böll-Preis, den Hölderlin-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik. Übersetzungen erschienen in bisher 15 Sprachen. Das Werk von Dieter Wellershoff ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.1995

Schwer hängt sie an seinem Hals
Gebildet baden: Dieter Wellershoff fährt in Urlaub

Der deutsche Urlauber wird gern als Karikatur gesehen. Er tummelt sich am Strand von Rimini, schlingt Unmengen von Spaghetti in sich hinein und stößt hie und da ein paar Brocken Italienisch falsch betont aus. Man möchte auch als deutscher Tourist nicht gern zu den deutschen Touristen gerechnet werden.

Dieter Wellershoff in seiner Novelle "Zikadengeschrei" hat damit entschlossen ein Ende gemacht. Sein Held Böhring ist der Tourist der gehobenen Klasse, den man daran erkennt, daß er geschickt Baden mit Bildung verbindet, Architekt von Beruf, mit Auto, Frau und Tochter unterwegs zu einer Bungalowsiedlung an der Costa Brava. Die drei sind kultiviert, haben auf dem Weg nach Spanien nur an Orten mit bedeutenden Sehenswürdigkeiten haltgemacht und sind entschlossen, nach einer Ruhepause am Strand die Kunstdenkmäler Kataloniens der Reihe nach anzuschauen. Tochter Julia macht bald Abitur und wird dann studieren. Frau Ina liest am Strand Marcel Proust.

Wellershoff, der sich diese drei ausgesucht hat, nimmt sie so ernst, wie er selbst ist. Der Ernst des Schreibens, den er seinem Dauerwohnsitz Köln zum Trotz pflegt, entstammt dem Ethos einer umfangreichen Lebensarbeit und verpflanzt sich unwiderstehlich auch auf den Architekten Böhring in der Gegend von Hospitalet. Er steht bei Wellershoffs Schreibweise Pate, einer gleichzeitig kunstvollen und buchhälterischen Genauigkeit, die mit allem verwandt ist, was sich seit den zwanziger Jahren als Neue Sachlichkeit oder Nouveau Roman präsentiert hat. Ein Dissertand, der etwa über die Wetterschilderungen Wellershoffs zu promovieren gedächte, fände das abwechslungsreichste Material.

Diese wohltemperierte Genauigkeit langweilt nicht, weil man sich ähnlicher Erfahrungen bewußt wird, die hier ihre Formel gefunden haben. Sie führt auch in das Innenleben der Figuren, in die Lebenskrise unseres Architekten, in die Distanziertheit seiner Frau, während die Tochter zwischen leichter Aufmüpfigkeit und lebhafter Neigung zum Amüsement auf eigene Faust wechselt. Die Ehemannsfragen und Ehefrauenantworten sind genau einer Wirklichkeit abgehorcht, in der gereizte Friedfertigkeit herrscht, Einklang aus Einsicht, vorsichtiger Umgang mit Empfindlichkeiten. Die Natur macht ihr Konzert dazu, zum Beispiel mit Zikadengeschrei, dessen Tonarten der Autor so sorgfältig erforscht hat wie die Semantik des Ehedialogs.

Lange Zeit geschieht in dieser Hundertzwanzig-Seiten-Novelle nichts außer Besichtigung, Einkauf, Schwimmen, Konversation mit den Bungalownachbarn. Frau Ina liest weiter Proust, ihr Mann fragt, warum, aber es stellt sich heraus, daß das zu schwer zu erklären ist. Auch was endlich auf Seite 68 passiert, wird sich erst später als belangvoll erweisen. Es wird Tortosa besichtigt, und auf dem Markt, beim Einkaufen, sieht Böhring eine Bungalownachbarin, die sich bis dahin verborgen gehalten hat. Ihre eine Gesichtshälfte ist offenbar infolge einer schlecht verlaufenen Operation verzerrt. Die unversehrte Seite zeigt ein schönes, kraftvoll gezeichnetes Profil.

Der geneigte Leser kann nicht umhin zu ahnen, daß sich hier ein Blitzschlag ereignet, auch wenn sein Opfer Böhring weiterhin die Ruhe bewahrt und Gottesanbeterinnen mit der Kamera beobachtet. Aber das Schicksal, das ja in ordnungsmäßig gebauten Novellen fast die Hauptfigur ist, fügt es so, daß nicht nur Böhring, sondern auch die Frau mit den zwei Seiten eine einsame Wanderung in Richtung aufs Gebirge unternimmt. Ihr knickt der Fuß um, er findet sie, und schwer an seinem Hals hängend wird sie von ihm nach Hause geschleppt.

Der Blitz, die Liebe auf den ersten Blick, wie sie auf deutsch verharmlosend heißt, entzieht sich Wellershoffs penibler Beschreibungslust. Sie bleibt Traum, Unruhe, Bewußtsein möglicher Größe und Erlösung, aber - so heißt es - unser Held "wehrte sich gegen dieses Verlangen, für das es in seinem Leben keinen Platz und keine Hoffnung gab". Ja, so war's, so ist's, wie sollte bei solchen archaischen Momenten ein wohlgeformter Urlaub noch zustande kommen, vom Berufsleben ganz zu schweigen?

Der Mann der Zauberfrau jedenfalls kann sich nicht genugtun an Danksagungen für den hilfreichen Kavalier, und Frau Ina meint sogar, daß es ungehörig sei, wenn er drüben bei der gestürzten Dame keinen Besuch mache, mit Strauß in der Hand. "Ich versteh' dich nicht", sagt sie ahnungslos, "das kann doch kein so großer Ausgang für dich sein. Es sind doch wirklich nur ein paar Schritte."

Die Novelle ist meister- und musterhaft erzählt. Das ist zugleich ihr Handicap. Das Beschreibungstalent, das sich am Zikadengeschrei oder an wechselnden Wolkenhimmeln gütlich tut, kann den Sturm der Gefühle nicht in klassische Prosa verwandeln. So ist damit zu rechnen, daß die Familie den Rückweg sorgfältig und kulturbewußt plant, neue Sehenswürdigkeiten ins Auge faßt und zu Hause die Reisefotos entwickelt und einklebt, unter denen sich weder die verzerrte Seite noch die sieghaft strahlende des Gesichts der Bungalowfrau befindet, die Böhring fast den Urlaub verdorben hätte. WERNER ROSS

Dieter Wellershoff: "Zikadengeschrei". Novelle. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995, 125 S., geb., 24,80 DM.

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»Bei allem existentiellen Schwergewicht ist dieses kleine Buch eines großen Menschenkenners angenehm leicht zu lesen.« Der Spiegel