Klingt eigentlich idyllisch: kleines Häuschen am Münchner Stadtrand, sogar mit eigenem Garten. Dort wohnt Lars Reichardt mit wechselnden schrulligen Bewohnern in einer Zweck-WG: Birgit ist Insektenforscherin, Li ein junger modebewusster Chinese, Rudi ein in Österreich prominenter Rockvideoproduzent. Welche Wohnkonzepte gäbe es noch für jemanden, der nicht in der Kleinfamilie oder als Single leben will? Diese Frage stellen sich heute viele Menschen angesichts überteuerter Mieten und zunehmender Vereinzelung. Lars Reichardt inspiziert verschiedene Modelle: eine in die Jahre gekommene deutsche Kommune in Italien, ein Mehrgenerationenhaus, ein Selbstversorgerdorf, das sozial gerecht und ökologisch nachhaltig wirtschaftet, eine Jesuiten-Kommunität, eine multikulturelle Wohnungsbaugenossenschaft, eine Zwei-Frauen-WG, die eint, dass beide mit demselben Mann verheiratet waren. Er spricht mit einem Architekten und mit einem Immobilienentwickler - all das, um sich und uns auf neue Ideen zubringen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lars Reichardt ist Autor des SZ-Magazins und glücklicher Eigentümer einer Wohnung in München, die er zur WG geöffnet hat. Quasi von selbst ergibt das unerschöpflichen Kolumnenstoff, aber Rezensent Kai Spanke findet es auch wirklich einnehmend, wie Reichardt über MitbewohnerInnen und WG-Alltag schreibt, mit milder Ironie und Nachsicht, ohne viel Reflexion, aber mit der gefälligen Schreibe eines kultivierten Münchners. Hoch rechnet Spanke dem Autor an, dass er sogar Sympathien für eine Impfgegnerin zu wecken versteht, die ein Hoodie mit der Aufschrift "Montreux Rave 2016" trägt und vorrechnet, wie viel Dezibel Lärm eine Dusche nach Mitternacht macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2023Wer putzt das Klo?
Lars Reichardt über Formen des Wohnens
Nach einem Drittel der Lektüre endlich zwei längst fällige Sätze: "Meine Mitbewohner verwundern mich. Und sie ärgern mich." Bis zu diesem Punkt scheint Lars Reichardt ein nachsichtiger Beobachter zu sein, der vor allem den phänomenologischen Blick des Reportage-Autors kultiviert. Beschreiben, charakterisieren, nicht zu viel werten, zwischendurch mit knappen Setzungen sagen, was der Fall ist oder zumindest der Fall sein könnte. Zum Beispiel über eine süddeutsche Kommune: "Tempelhof war und ist ein Sozialexperiment." Kurz darauf: "Vielleicht ist Tempelhof ein Symbol für die neue Landlust vieler Städter."
Reichardts Buch "Zimmer für immer" versammelt ein aktualisiertes Best-of seiner Texte aus dem "SZ-Magazin" über verschiedene Formen des Wohnens. Ausgeklammert bleiben die Kleinfamilie und das Singleleben. Detailliert berichtet er über die eigene Münchner Wohngemeinschaft, die diesen Namen nur mit Einschränkungen verdient, denn das Haus, in dem sie sich mit wechselndem Personal eingerichtet hat, gehört dem Autor. Er ist also so etwas wie der Boss und könnte, wenn er denn wollte, mit Mahnungen und Machtworten um die Ecke kommen. Will er aber nicht. Vor allem möchte er, wie er hervorhebt, nicht genervt klingen: "Ich mag meine Mitbewohner."
Das gilt auch für Birgit, Biologiestudentin mit Interesse an Schleimpilzen. Ein schwieriger WG-Fall. In der Corona-Zeit lange ungeimpft und überdies strikte Gegnerin nachmitternächtlichen Duschens, denn das sei "acht Dezibel laut und sie würde das nebenan hören". Fast täglich trägt sie einen Hoodie, entweder einen grünen oder einen gelben. Auf dem gelben ist zu lesen: "Montreux Rave 2016". Mehr muss man nicht wissen, um ein wenig ungnädig auf diese Frau zu schauen. Immer wieder bringt Reichardt leisen, fast vornehm klingenden Spott unter, allerdings nie, ohne später Ausgleichendes zu vermelden. Und so verwandelt sich Birgit am Ende tatsächlich in eine Sympathieträgerin.
Die im Rahmen eines solchen Buchs unvermeidbare WG-Folklore fehlt auch hier nicht: Kühlschrank und Toilette, daran entzünden sich Zerwürfnisse; wenn erst einmal alles gegeneinander aufgerechnet wird, geht's bergab; gemeinsame Mahlzeiten sind das beste Heilmittel, sobald es kriselt. Derartige Klischees verzeiht man dem Autor, weil er sie an seinen Figuren lebhaft illustriert. Er liefert mal mild ironische, mal zugewandte Porträts, ohne den bei jeder Art von WG-Prosa naheliegenden Fehler zu begehen, lauter schrullige Typen aus Arthouse-Filmen zu skizzieren.
Auch Prominente aus der dritten Reihe haben ihren Auftritt, etwa Reichardts Mutter Barbara Valentin, der er vor fünf Jahren eine Monographie widmete und die in den Siebzigern in einigen Fassbinder-Filmen mitspielte. Oder Rudi Dolezal, der mit Hannes Rossacher unter dem Namen DoRo Beiträge fürs Jugendfernsehen und Musikvideos drehte, bei Reichardt kampierte, einen Fernseher zum Einschlafen braucht - und nicht weiß, wie lange man Nudeln kocht.
Das meiste in diesem Buch verdankt sich der eigenen und, das muss nicht schlecht sein, reflexionsarmen Anschauung. Reichardt pflegt einen schmucklos reihenden, gewissermaßen entschlackten und gerade deswegen einnehmenden Stil. Das klingt so: "Auch Ulf ist heute schon tot. Herzinfarkt auf dem Laufband mit sechzig. Ingrid, seine Frau und auch die Mutter zweier gemeinsamer Töchter, lebt heute allein in der Wohnung."
Dann kommen sie allerdings doch noch, die harten Fakten und Zahlen. Im Münchner Ledigenheim, vor knapp hundert Jahren von wohlhabenden Leuten für Alleinstehende und Wanderarbeiter finanziert, lebten 2021 rund vierhundert Männer aus zweiundfünfzig Nationen zu erschwinglichen Mietpreisen. Oder: Architekten moderner Bauten haben lange Zeit so auf Effizienz und Funktionalität geachtet, dass ihre Schlafzimmer oft gerade mal Platz für das damals 1,90 Meter lange und neunzig Zentimeter breite Durchschnittsbett hatten. Heute sind Betten größer, und die entsprechenden Schlafzimmertüren lassen sich nicht mehr ganz öffnen. Partywissen, keine Frage, aber Reichardt präsentiert es auf angenehm gefällige Art. KAI SPANKE
Lars Reichardt: "Zimmer für immer". Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben.
Verlag Kein & Aber, Zürich 2023. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lars Reichardt über Formen des Wohnens
Nach einem Drittel der Lektüre endlich zwei längst fällige Sätze: "Meine Mitbewohner verwundern mich. Und sie ärgern mich." Bis zu diesem Punkt scheint Lars Reichardt ein nachsichtiger Beobachter zu sein, der vor allem den phänomenologischen Blick des Reportage-Autors kultiviert. Beschreiben, charakterisieren, nicht zu viel werten, zwischendurch mit knappen Setzungen sagen, was der Fall ist oder zumindest der Fall sein könnte. Zum Beispiel über eine süddeutsche Kommune: "Tempelhof war und ist ein Sozialexperiment." Kurz darauf: "Vielleicht ist Tempelhof ein Symbol für die neue Landlust vieler Städter."
Reichardts Buch "Zimmer für immer" versammelt ein aktualisiertes Best-of seiner Texte aus dem "SZ-Magazin" über verschiedene Formen des Wohnens. Ausgeklammert bleiben die Kleinfamilie und das Singleleben. Detailliert berichtet er über die eigene Münchner Wohngemeinschaft, die diesen Namen nur mit Einschränkungen verdient, denn das Haus, in dem sie sich mit wechselndem Personal eingerichtet hat, gehört dem Autor. Er ist also so etwas wie der Boss und könnte, wenn er denn wollte, mit Mahnungen und Machtworten um die Ecke kommen. Will er aber nicht. Vor allem möchte er, wie er hervorhebt, nicht genervt klingen: "Ich mag meine Mitbewohner."
Das gilt auch für Birgit, Biologiestudentin mit Interesse an Schleimpilzen. Ein schwieriger WG-Fall. In der Corona-Zeit lange ungeimpft und überdies strikte Gegnerin nachmitternächtlichen Duschens, denn das sei "acht Dezibel laut und sie würde das nebenan hören". Fast täglich trägt sie einen Hoodie, entweder einen grünen oder einen gelben. Auf dem gelben ist zu lesen: "Montreux Rave 2016". Mehr muss man nicht wissen, um ein wenig ungnädig auf diese Frau zu schauen. Immer wieder bringt Reichardt leisen, fast vornehm klingenden Spott unter, allerdings nie, ohne später Ausgleichendes zu vermelden. Und so verwandelt sich Birgit am Ende tatsächlich in eine Sympathieträgerin.
Die im Rahmen eines solchen Buchs unvermeidbare WG-Folklore fehlt auch hier nicht: Kühlschrank und Toilette, daran entzünden sich Zerwürfnisse; wenn erst einmal alles gegeneinander aufgerechnet wird, geht's bergab; gemeinsame Mahlzeiten sind das beste Heilmittel, sobald es kriselt. Derartige Klischees verzeiht man dem Autor, weil er sie an seinen Figuren lebhaft illustriert. Er liefert mal mild ironische, mal zugewandte Porträts, ohne den bei jeder Art von WG-Prosa naheliegenden Fehler zu begehen, lauter schrullige Typen aus Arthouse-Filmen zu skizzieren.
Auch Prominente aus der dritten Reihe haben ihren Auftritt, etwa Reichardts Mutter Barbara Valentin, der er vor fünf Jahren eine Monographie widmete und die in den Siebzigern in einigen Fassbinder-Filmen mitspielte. Oder Rudi Dolezal, der mit Hannes Rossacher unter dem Namen DoRo Beiträge fürs Jugendfernsehen und Musikvideos drehte, bei Reichardt kampierte, einen Fernseher zum Einschlafen braucht - und nicht weiß, wie lange man Nudeln kocht.
Das meiste in diesem Buch verdankt sich der eigenen und, das muss nicht schlecht sein, reflexionsarmen Anschauung. Reichardt pflegt einen schmucklos reihenden, gewissermaßen entschlackten und gerade deswegen einnehmenden Stil. Das klingt so: "Auch Ulf ist heute schon tot. Herzinfarkt auf dem Laufband mit sechzig. Ingrid, seine Frau und auch die Mutter zweier gemeinsamer Töchter, lebt heute allein in der Wohnung."
Dann kommen sie allerdings doch noch, die harten Fakten und Zahlen. Im Münchner Ledigenheim, vor knapp hundert Jahren von wohlhabenden Leuten für Alleinstehende und Wanderarbeiter finanziert, lebten 2021 rund vierhundert Männer aus zweiundfünfzig Nationen zu erschwinglichen Mietpreisen. Oder: Architekten moderner Bauten haben lange Zeit so auf Effizienz und Funktionalität geachtet, dass ihre Schlafzimmer oft gerade mal Platz für das damals 1,90 Meter lange und neunzig Zentimeter breite Durchschnittsbett hatten. Heute sind Betten größer, und die entsprechenden Schlafzimmertüren lassen sich nicht mehr ganz öffnen. Partywissen, keine Frage, aber Reichardt präsentiert es auf angenehm gefällige Art. KAI SPANKE
Lars Reichardt: "Zimmer für immer". Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben.
Verlag Kein & Aber, Zürich 2023. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Derartige Klischees verzeiht man dem Autor, weil er sie an seinen Figuren lebhaft illustriert. Er liefert mal mild ironische, mal zugewandte Porträts, ohne den bei jeder Art von WG-Prosa naheliegenden Fehler zu begehen, lauter schrullige Typen aus Arthouse-Filmen zu skizzieren.« Kai Spanke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.07.2023 FAZ 20230705