Zimzum steht in der Kabbala für die Selbstzusammenziehung Gottes vor der Erschaffung der Welt und zum Zweck der Weltschöpfung. Geprägt wurde dieser Begriff im 16. Jahrhundert durch die Lehren des jüdischen Mystikers Isaak Luria. Der vor der Schöpfung allgegenwärtige Gott muss sich im Zimzum von sich selbst in sich selbst zurückziehen und konzentrieren, um für die Erschaffung der Welt in seiner eigenen Mitte Platz zu machen. Dieses Buch spürt den Spuren des Zimzum quer durch die jüdische und christliche Geistesgeschichte in mehr als vier Jahrhunderten nach. Von den Kabbalisten in Safed bis zum Chassidismus, von den christlichen Hebraisten zu Newton und Schelling, von mystischen Handschriften bis zur Avantgarde von Else Lasker-Schüler oder Anselm Kiefer mischen und befruchten sich in den Deutungen und Aneignungen des Zimzum Göttliches und Menschliches, Jüdisches und Christliches, Mystik, Philosophie, Theologie, Literatur und Kunst. Im 20. Jahrhundert schließlich wird in der Idee der Selbstbegrenzung einerseits eine radikale Gottverlassenheit der modernen Welt erkannt, andererseits aber auch ein unverzichtbares Moment menschlicher Kreativität, innerer Freiheit und friedlicher Koexistenz.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es wäre schade, wenn dieses Buch nur von Spezialisten gelesen würde, meint Rezensent Eberhard Geisler, der es dringend jedem empfiehlt, der die europäische Geistesgeschichte auch als Abenteuer begreift, in das man sich einfach hineinstürzen muss. Worum geht es? Im 16. Jahrhundert entwickelte Isaak Luria den Gedanken des Zimzum, mit dem er die Kabbala verändern sollte. Zimzum beschreibt, so der Rezensent, den Selbstrückzug Gottes. Dieser hat gewissermaßen einen Ort geräumt und für den Menschen freigesetzt, der hier seine eigenen - auch säkularen - Gedanken entwickeln kann. Diese Vorstellung inspirierte von Schelling bis Barnett Newman und Anselm Kiefer zahlreiche Intellektuelle und Künstler, so Geisler, der nur einen Wunsch gehabt hätte: Dass Schulte die Idee des Rabbi Marc-Alain Ouaknin, Zimzum mit dem Dekonstruktivismus zu verbinden, weiter ausgeführt hätte. Denn aus dieser Verbindung, so der Rezensent, ließe sich ein "Funken fröhlicher Dankbarkeit" schlagen für einen Gott, der uns die Leere selbst füllen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2014Durch den Rückzug Gottes wurde die Welt möglich
Christoph Schulte zeigt, wie tief die Lehre der Kabbalisten in die europäische Gedankenwelt eingedrungen ist
Von den wenigen hebräischen Worten, die heutzutage zum gebildeten Wortschatz gehören, sind "Tora" und "Kabbala" die wohl am meisten bekannten. Verschwunden ist hingegen der Begriff "Zimzum", der "Begrenzung", "Selbstbeschränkung" oder "Konzentration" bedeutet und auch unter jüdischen Gelehrten nur noch selten Verwendung findet. Nun, es war nicht immer so. Das gerade erschienene Buch des Potsdamer Professors für Jüdische Philosophie Christoph Schulte ist eine umfassende Darstellung der zwischen dem siebzehnten und zwanzigsten Jahrhundert populären philosophischen und literarischen Traditionen des "Zimzum".
Diese Epoche war eine fruchtbare und tolerante, in der sich auch christliche Philosophie und Theologie eine mystische Welt zu eigen gemacht haben, die im sechzehnten Jahrhundert in Galiläa in esoterischen jüdischen Gruppen und vom strengen Geheimnis geprägten kabbalistischen Schulen entstanden war. Hinter dem Begriff "Zimzum" verbirgt sich eine komplexe Schöpfungstheorie. Ihr Urheber ist der Kabbalist Isaak Luria (1534 bis 1572). Laut Luria erschuf die "Selbstverschränkung" Gottes einen leeren Raum, in den sich die Gottheit emanierte. Dabei beschreibt er den Prozess des "Zimzum" als Einatmen Gottes, gleich einem "Mann, der seinen Atem sammelt und zurückzieht".
Eine solche Auffassung des göttlichen Schöpfungsaktes wird in der lurianischen Lehre zum kosmologischen Grundprinzip erhoben und demzufolge - darin besteht die Originalität Lurias - die erste Stufe der Schöpfung nicht als Offenbarung Gottes, sondern als sein Rückzug präsentiert. Der Grundgedanke der Lehre des "Zimzum" ist es, dass aufgrund der Unendlichkeit Gottes kein Raum ohne Gott existieren kann, da diese "Einschränkung" letztendlich die Natur Gottes begrenzen würde.
Der erste Schöpfungsvorgang manifestiert sich somit durch einen Rückzug Gottes in sich selbst. Diese Handlung ermöglicht es Gott zugleich, etwas außerhalb seiner selbst Existierendes zu erschaffen, indem er in das Vakuum des frei gewordenen Raumes sein Licht ausstrahlt. Die Deutung des lurianischen Schöpfungsmythos ist nicht einfach - zumal Luria nichts Schriftliches hinterlassen hat.
Trotz ihres obskuren Charakters verbreitete sich Lurias Lehre des "Zimzum" durch seine Schüler rasch. Deren Auslegungen weichen jedoch deutlich voneinander ab: Während die einen "Zimzum" als realen Vorgang interpretieren, in dem Gott sich tatsächlich zurückgezogen habe, verstanden die anderen "Zimzum" symbolisch oder als Metapher. Man hat es also mit der Deutung und Rezeption einer Idee zu tun, die nicht auf eine Urschrift oder feststehende Lehrtradition zurückzuführen ist. In seinem monumentalen Werk "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" von 1957 bemerkt Gershom Scholem über den "Zimzum": "Eine Geschichte dieser Idee von Luria bis auf unsere Tage wäre eine der faszinierendsten Darstellungen originell jüdischen, mystischen Denkens."
Schulte hat sich nun dieser Aufgabe unterzogen und bietet dem Leser dabei einen beeindruckenden Überblick darüber, wie tief die mystische Lehre der Kabbalisten in die europäische Gedankenwelt eingedrungen ist. Seine Analyse verdeutlicht zudem, dass sich der "Zimzum" zu einer der populärsten Ideen der Kabbalisten in den Zentren jüdischen Lebens der frühen Neuzeit entwickelte - in Italien, in Amsterdam wie auch in Osteuropa.
Durch die christliche Lesart des "Zimzum", wie sie sich beispielsweise in der Kabbala Denudata ("Enthüllte Kabbala", 1677) des Barons Christian Knorr von Rosenroth nachweisen lässt, fand die Theorie Eingang in die christliche Philo- und Pansophie und bildete einen festen Topos in der gesamten Gelehrtenwelt. Durch Vertreter wie Henry Moore, Anne Conway, Joseph Raphson und Isaac Newton verbreitete sich das Konzept des "Zimzum" in Cambridge. Durch die Schriften Johann Georg Wachters, Johann Franz Buddes, Johann Jakob Bruckners und Friedrich Christoph Oetingers kehrte es nach Deutschland zurück.
Selbst der Antisemit Clemens Brentano ließ sich davon inspirieren. Sowohl im Judentum als auch im Christentum, bei den Sabbatianern und deren Gegnerschaft, bei den chassidischen Juden, den Anhängern der jüdischen Aufklärung (Haskala) und den Vertretern der Wissenschaft des Judentums, im deutschen Idealismus und in der Romantik - "Zimzum" fand in unterschiedlichsten Zusammenhängen Verwendung. Im zwanzigsten Jahrhundert findet sich die Idee der Selbstbegrenzung Gottes in der Philosophie von Franz Rosenzweig; als zentraler Forschungsgegenstand taucht er im Werk Gershom Scholems sowie in den Schriften von Hans Jonas und Harold Bloom auf.
Das philosophische und theologische Wissen des Lesers wird sicherlich auf die Probe gestellt, wenn es um die Raffinessen dieser Schöpfungstheorie in ihren vielfältigen Ausformungen geht. Die Anstrengung zahlt sich aber aus. Die Lektüre des Buches ist eine faszinierende Reise durch vier Jahrhunderte Philosophie und Theologie.
GIUSEPPE VELTRI.
Christoph Schulte: "Zimzum". Gott und Weltursprung".
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 501 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Schulte zeigt, wie tief die Lehre der Kabbalisten in die europäische Gedankenwelt eingedrungen ist
Von den wenigen hebräischen Worten, die heutzutage zum gebildeten Wortschatz gehören, sind "Tora" und "Kabbala" die wohl am meisten bekannten. Verschwunden ist hingegen der Begriff "Zimzum", der "Begrenzung", "Selbstbeschränkung" oder "Konzentration" bedeutet und auch unter jüdischen Gelehrten nur noch selten Verwendung findet. Nun, es war nicht immer so. Das gerade erschienene Buch des Potsdamer Professors für Jüdische Philosophie Christoph Schulte ist eine umfassende Darstellung der zwischen dem siebzehnten und zwanzigsten Jahrhundert populären philosophischen und literarischen Traditionen des "Zimzum".
Diese Epoche war eine fruchtbare und tolerante, in der sich auch christliche Philosophie und Theologie eine mystische Welt zu eigen gemacht haben, die im sechzehnten Jahrhundert in Galiläa in esoterischen jüdischen Gruppen und vom strengen Geheimnis geprägten kabbalistischen Schulen entstanden war. Hinter dem Begriff "Zimzum" verbirgt sich eine komplexe Schöpfungstheorie. Ihr Urheber ist der Kabbalist Isaak Luria (1534 bis 1572). Laut Luria erschuf die "Selbstverschränkung" Gottes einen leeren Raum, in den sich die Gottheit emanierte. Dabei beschreibt er den Prozess des "Zimzum" als Einatmen Gottes, gleich einem "Mann, der seinen Atem sammelt und zurückzieht".
Eine solche Auffassung des göttlichen Schöpfungsaktes wird in der lurianischen Lehre zum kosmologischen Grundprinzip erhoben und demzufolge - darin besteht die Originalität Lurias - die erste Stufe der Schöpfung nicht als Offenbarung Gottes, sondern als sein Rückzug präsentiert. Der Grundgedanke der Lehre des "Zimzum" ist es, dass aufgrund der Unendlichkeit Gottes kein Raum ohne Gott existieren kann, da diese "Einschränkung" letztendlich die Natur Gottes begrenzen würde.
Der erste Schöpfungsvorgang manifestiert sich somit durch einen Rückzug Gottes in sich selbst. Diese Handlung ermöglicht es Gott zugleich, etwas außerhalb seiner selbst Existierendes zu erschaffen, indem er in das Vakuum des frei gewordenen Raumes sein Licht ausstrahlt. Die Deutung des lurianischen Schöpfungsmythos ist nicht einfach - zumal Luria nichts Schriftliches hinterlassen hat.
Trotz ihres obskuren Charakters verbreitete sich Lurias Lehre des "Zimzum" durch seine Schüler rasch. Deren Auslegungen weichen jedoch deutlich voneinander ab: Während die einen "Zimzum" als realen Vorgang interpretieren, in dem Gott sich tatsächlich zurückgezogen habe, verstanden die anderen "Zimzum" symbolisch oder als Metapher. Man hat es also mit der Deutung und Rezeption einer Idee zu tun, die nicht auf eine Urschrift oder feststehende Lehrtradition zurückzuführen ist. In seinem monumentalen Werk "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" von 1957 bemerkt Gershom Scholem über den "Zimzum": "Eine Geschichte dieser Idee von Luria bis auf unsere Tage wäre eine der faszinierendsten Darstellungen originell jüdischen, mystischen Denkens."
Schulte hat sich nun dieser Aufgabe unterzogen und bietet dem Leser dabei einen beeindruckenden Überblick darüber, wie tief die mystische Lehre der Kabbalisten in die europäische Gedankenwelt eingedrungen ist. Seine Analyse verdeutlicht zudem, dass sich der "Zimzum" zu einer der populärsten Ideen der Kabbalisten in den Zentren jüdischen Lebens der frühen Neuzeit entwickelte - in Italien, in Amsterdam wie auch in Osteuropa.
Durch die christliche Lesart des "Zimzum", wie sie sich beispielsweise in der Kabbala Denudata ("Enthüllte Kabbala", 1677) des Barons Christian Knorr von Rosenroth nachweisen lässt, fand die Theorie Eingang in die christliche Philo- und Pansophie und bildete einen festen Topos in der gesamten Gelehrtenwelt. Durch Vertreter wie Henry Moore, Anne Conway, Joseph Raphson und Isaac Newton verbreitete sich das Konzept des "Zimzum" in Cambridge. Durch die Schriften Johann Georg Wachters, Johann Franz Buddes, Johann Jakob Bruckners und Friedrich Christoph Oetingers kehrte es nach Deutschland zurück.
Selbst der Antisemit Clemens Brentano ließ sich davon inspirieren. Sowohl im Judentum als auch im Christentum, bei den Sabbatianern und deren Gegnerschaft, bei den chassidischen Juden, den Anhängern der jüdischen Aufklärung (Haskala) und den Vertretern der Wissenschaft des Judentums, im deutschen Idealismus und in der Romantik - "Zimzum" fand in unterschiedlichsten Zusammenhängen Verwendung. Im zwanzigsten Jahrhundert findet sich die Idee der Selbstbegrenzung Gottes in der Philosophie von Franz Rosenzweig; als zentraler Forschungsgegenstand taucht er im Werk Gershom Scholems sowie in den Schriften von Hans Jonas und Harold Bloom auf.
Das philosophische und theologische Wissen des Lesers wird sicherlich auf die Probe gestellt, wenn es um die Raffinessen dieser Schöpfungstheorie in ihren vielfältigen Ausformungen geht. Die Anstrengung zahlt sich aber aus. Die Lektüre des Buches ist eine faszinierende Reise durch vier Jahrhunderte Philosophie und Theologie.
GIUSEPPE VELTRI.
Christoph Schulte: "Zimzum". Gott und Weltursprung".
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 501 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Schultes Buch ... gehört jedenfalls nicht ins Regal der Spezialliteratur, sondern in die Hand eines jeden, der an den Abenteuern und Anstößen europäischer Geistesgeschichte interessiert ist.« Eberhard Geisler Süddeutsche Zeitung 20141203