Moses Joseph Roth wurde am 2. September 1894 in Brody bei Lemberg als Sohn eines jüdischen Getreidehändlers geboren. Nach Schule und Matura studierte er Germanistik und Philosophie im damals österreichischen Lemberg und in Wien. 1916 meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger zum Militärdienst. Während seines Kriegsdienstes in Galizien veröffentlichte er erste Gedichte und Feuilletons in Prager und Wiener Zeitungen. Ab 1918 arbeitete er als Journalist zuerst in Wien, später in Berlin. 1922 heiratete er Friederike Reichler, die 1928 an Schizophrenie erkrankte und 1940 aufgrund der nazionalsozialistischen Euthanasiegesetze in einer Linzer Heilanstalt ermordet wurde. 1923-1932 war er Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« und veröffentlichte zahlreiche Beiträge und Artikelserien auch in anderen Blättern. Als Romancier setzt sich Roth zunächst mit den traumatischen Erfahrungen ehemaliger Frontoffiziere auseinander (1927 »Flucht ohne Ende«); später dann erfolgreich u.a. mit der mythisierenden Beschreibung der Habsburgermonarchie vor ihrem Untergang. Anfang 1933 ging er nach Paris ins Exil und arbeitete dort an Exilzeitungen und -zeitschriften mit. Gezeichnet durch Schicksalsschläge, enttäuscht über die politischen Zustände und alkoholkrank starb Roth am 27. Mai 1939 in einem Pariser Armenhospital.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995Das Geheimnis des Eierbechers
Und der Kampf um den Reißverschluß: Auf der Suche nach der Weltformel der Gebrauchsgegenstände
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß wir von der Kulturgeschichte des Eierbechers nicht viel wissen. Daran dürfte sich so schnell auch nichts ändern. Denn obwohl die drei anzuzeigenden Bücher der Kulturgeschichte von Gebrauchsgegenständen gewidmet sind, verliert keiner der Autoren auch nur ein einziges Wort über den Eierbecher. Das ist schade und um so erstaunlicher, als dieser Gegenstand hervorragend geeignet wäre, eine grundlegende These des Kulturwissenschaftlers George Basalla zu illustrieren, die Henry Petroski in "Messer, Gabel, Reißverschluß" zitiert.
Petroski ist mit Basalla, dem Verfasser von "Evolution of Technology", der Überzeugung, daß "jeder neue Gegenstand, der in der erschaffenen Welt auftaucht, auf irgendeinem schon vorhandenen Gegenstand basiert". Die Erfindung des Eierbechers setzt nun die Existenz des Eis voraus. Es ist erstaunlich, daß sich Petroski die Gelegenheit zu dieser Beweisführung entgehen läßt, entspricht sie doch exakt der Argumentationsweise, die der Professor für Ingenieurwissenschaften in seinem Buch bevorzugt. Petroskis Stärke ist die Deduktion nach Art des Sherlock Humbug, des obskuren Detektivs aus der Kinderstunde: unbedingt einleuchtend, aber völlig folgenlos und frei von jeglichem Erkenntnisgewinn.
Neben allen Einwänden, die man gegen Petroskis "Evolutionsgeschichte der Gebrauchsgegenstände" erheben muß, spricht doch auch ein gewichtiges Argument für die Studie: Petroski macht bereits auf der ersten Seite deutlich, daß er von einer falschen Prämisse ausgeht. Der Leser weiß also, worauf er sich einläßt. Zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung über die Evolution der Gebrauchsgegenstände hat Petroski das Silberbesteck erkoren, mit dem er eine abenteuerliche Hoffnung verknüpft: "Versteht man die Ursprünge der Vielfalt beim Silberbesteck, so erleichtert dies das Verständnis der Vielfalt aller Dinge, von Flaschen, Hämmern und Büroklammern bis hin zu Brücken, Autos und Kernkraftwerken."
Man muß nicht Norbert Elias bemühen, den Petroski übrigens mit keiner Silbe erwähnt und auch in seinem doch recht umfangreichen Literaturverzeichnis nicht aufführt, um zu erkennen, daß zwischen dem Eßbesteck als einem Instrument sozialer Differenzierung und einem technologischen Großprojekt mit makroökonomischen Aspekten wie einem Kernkraftwerk gewisse Unterschiede bestehen. Daß für die jeweiligen Entwicklungsgeschichten unterschiedliche Faktoren entscheidend sein dürften, liegt auf der Hand. Aber Petroskis Studie ist auf dem sozialgeschichtlichen und kulturanthropologischen Auge nahezu blind. Genau genommen bevorzugt der Autor die zyklopische Perspektive.
Daß der Differenzierungsprozeß, den das Eßbesteck in seiner Entwicklungsgeschichte durchlief, nicht zuletzt gesellschaftlich determiniert war, ignoriert Petroski weitgehend. Für den Ingenieurwissenschaftler zählt nur die praktische Betriebsprüfung. Ein Gegenstand funktioniert nicht so, wie er funktionieren soll, also wird er verändert. Und wenn er doch zu funktionieren scheint, liegt der Fehler mit Gewißheit im Auge des Betrachters. Denn das einzige gemeinsame Merkmal aller jemals erschaffenen Dinge, so Petroski, ist ihre Unvollkommenheit. Und dieses Merkmal treibt nach Meinung des Autors die Evolution der Gebrauchsgegenstände voran.
Das Ungenügen einiger weniger Perfektionisten aus der Familie der Erfinder sorgt dafür, daß kein Artefakt ein endgültiges Gesicht erhält. Solange ein Gegenstand in Gebrauch ist, so die These, wird es Menschen geben, die das Ungenügen an seiner Funktionsweise zum Antrieb ihrer Verbesserungsversuche machen. Petroskis gebetsmühlenartig wiederholter Glaubenssatz, eine Art Weltformel der Gebrauchsgegenstände, lautet folglich: "Die Form folgt dem Fehlschlag." Daß darin ein Antagonismus zum klassischen Diktum "Form follows Function" liegt, behauptet Petroskis zwar unermüdlich, ohne es jedoch plausibel machen zu können.
Man erfährt in "Messer, Gabel, Reißverschluß" manches Wissenswerte aus der Welt der Gebrauchsgegenstände, aber kaum etwas, das sich nicht auf angenehmere Weise Charles Panatis "Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge" entnehmen ließe. Von Abführmitteln über Deodorant, Kekse, Popcorn, Sicherheitsnadeln, Streichhölzer bis zu Wegwerfbechern und der Zentralheizung klärt Panati über die Entstehungsgeschichte nützlicher und nicht ganz so nützlicher Gebrauchsgegenstände auf.
Was bei Petroski so kläglich scheiterte, fehlt bei Panati ganz: der Versuch, die Menge der Einzelinformationen über beliebige Gebrauchsgegenstände anhand einer Theorie zu verknüpfen. Selbst ein Literatur- oder Quellenverzeichnis, das Aufschluß über Panatis gewiß zahlreiche Fundorte geben könnte, wird dem Leser vorenthalten. So lädt Panatis "Universalgeschichte" vor allem zum Schmökern ein, und man kann manches getrost überblättern, etwa die Stichworte "Hasenpfote" oder "Zaubernuß", um bald darauf Interessantes über Papierdrachen, Staubsauger oder Schubkarren zu finden.
Mehr als ein halbes Jahrhundert in der Entwicklungsgeschichte des Reißverschlusses war bereits vergangen, als sich im Jahr 1915 die Hookless Fastener Company die Frage stellte, wie man ein Bedürfnis "für etwas schaffen sollte, das die meisten Leute nie gesehen und von dem nur wenige je geträumt hatten." Panati widmet dem Reißverschluß zwei Seiten, Petroski ein ganzes Kapitel. Robert Friedel hat darüber ein ganzes Buch geschrieben, das auch dem Knopf als natürlichem Feind des Reißverschlusses ein gutes Wort gönnt. Seine Studie "Zipper. An Exploration in Novelty" beweist, was Panati und Petroski nur andeuten: Der Kampf um den Reißverschluß war ein Unternehmen, das sich mit Hannibals Zug über die Alpen vergleichen läßt. Auch hier wären Elefanten von Nutzen gewesen. Die ersten Reißverschlüsse, waren sie endlich geschlossen, ließen sich nur schwer wieder öffnen. HUBERT SPIEGEL
Henry Petroski: "Messer, Gabel, Reißverschluß. Die Evolution der Gebrauchsgegenstände". Aus dem Amerikanischen von Inge Rau. Birkhäuser Verlag, Basel/Boston/Berlin 1994. 342 S., 44 S/W-Abb., geb., 68,- DM.
Charles Panati: "Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge". Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert und Doris Mendlewitsch. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1994. 320 S., geb., 48,- DM.
Robert Friedel: "Zipper. An Exploration in Novelty". W. W. Norton & Company, New York/London 1994. 288 S., geb., 16,95 brit. Pfund.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und der Kampf um den Reißverschluß: Auf der Suche nach der Weltformel der Gebrauchsgegenstände
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß wir von der Kulturgeschichte des Eierbechers nicht viel wissen. Daran dürfte sich so schnell auch nichts ändern. Denn obwohl die drei anzuzeigenden Bücher der Kulturgeschichte von Gebrauchsgegenständen gewidmet sind, verliert keiner der Autoren auch nur ein einziges Wort über den Eierbecher. Das ist schade und um so erstaunlicher, als dieser Gegenstand hervorragend geeignet wäre, eine grundlegende These des Kulturwissenschaftlers George Basalla zu illustrieren, die Henry Petroski in "Messer, Gabel, Reißverschluß" zitiert.
Petroski ist mit Basalla, dem Verfasser von "Evolution of Technology", der Überzeugung, daß "jeder neue Gegenstand, der in der erschaffenen Welt auftaucht, auf irgendeinem schon vorhandenen Gegenstand basiert". Die Erfindung des Eierbechers setzt nun die Existenz des Eis voraus. Es ist erstaunlich, daß sich Petroski die Gelegenheit zu dieser Beweisführung entgehen läßt, entspricht sie doch exakt der Argumentationsweise, die der Professor für Ingenieurwissenschaften in seinem Buch bevorzugt. Petroskis Stärke ist die Deduktion nach Art des Sherlock Humbug, des obskuren Detektivs aus der Kinderstunde: unbedingt einleuchtend, aber völlig folgenlos und frei von jeglichem Erkenntnisgewinn.
Neben allen Einwänden, die man gegen Petroskis "Evolutionsgeschichte der Gebrauchsgegenstände" erheben muß, spricht doch auch ein gewichtiges Argument für die Studie: Petroski macht bereits auf der ersten Seite deutlich, daß er von einer falschen Prämisse ausgeht. Der Leser weiß also, worauf er sich einläßt. Zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung über die Evolution der Gebrauchsgegenstände hat Petroski das Silberbesteck erkoren, mit dem er eine abenteuerliche Hoffnung verknüpft: "Versteht man die Ursprünge der Vielfalt beim Silberbesteck, so erleichtert dies das Verständnis der Vielfalt aller Dinge, von Flaschen, Hämmern und Büroklammern bis hin zu Brücken, Autos und Kernkraftwerken."
Man muß nicht Norbert Elias bemühen, den Petroski übrigens mit keiner Silbe erwähnt und auch in seinem doch recht umfangreichen Literaturverzeichnis nicht aufführt, um zu erkennen, daß zwischen dem Eßbesteck als einem Instrument sozialer Differenzierung und einem technologischen Großprojekt mit makroökonomischen Aspekten wie einem Kernkraftwerk gewisse Unterschiede bestehen. Daß für die jeweiligen Entwicklungsgeschichten unterschiedliche Faktoren entscheidend sein dürften, liegt auf der Hand. Aber Petroskis Studie ist auf dem sozialgeschichtlichen und kulturanthropologischen Auge nahezu blind. Genau genommen bevorzugt der Autor die zyklopische Perspektive.
Daß der Differenzierungsprozeß, den das Eßbesteck in seiner Entwicklungsgeschichte durchlief, nicht zuletzt gesellschaftlich determiniert war, ignoriert Petroski weitgehend. Für den Ingenieurwissenschaftler zählt nur die praktische Betriebsprüfung. Ein Gegenstand funktioniert nicht so, wie er funktionieren soll, also wird er verändert. Und wenn er doch zu funktionieren scheint, liegt der Fehler mit Gewißheit im Auge des Betrachters. Denn das einzige gemeinsame Merkmal aller jemals erschaffenen Dinge, so Petroski, ist ihre Unvollkommenheit. Und dieses Merkmal treibt nach Meinung des Autors die Evolution der Gebrauchsgegenstände voran.
Das Ungenügen einiger weniger Perfektionisten aus der Familie der Erfinder sorgt dafür, daß kein Artefakt ein endgültiges Gesicht erhält. Solange ein Gegenstand in Gebrauch ist, so die These, wird es Menschen geben, die das Ungenügen an seiner Funktionsweise zum Antrieb ihrer Verbesserungsversuche machen. Petroskis gebetsmühlenartig wiederholter Glaubenssatz, eine Art Weltformel der Gebrauchsgegenstände, lautet folglich: "Die Form folgt dem Fehlschlag." Daß darin ein Antagonismus zum klassischen Diktum "Form follows Function" liegt, behauptet Petroskis zwar unermüdlich, ohne es jedoch plausibel machen zu können.
Man erfährt in "Messer, Gabel, Reißverschluß" manches Wissenswerte aus der Welt der Gebrauchsgegenstände, aber kaum etwas, das sich nicht auf angenehmere Weise Charles Panatis "Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge" entnehmen ließe. Von Abführmitteln über Deodorant, Kekse, Popcorn, Sicherheitsnadeln, Streichhölzer bis zu Wegwerfbechern und der Zentralheizung klärt Panati über die Entstehungsgeschichte nützlicher und nicht ganz so nützlicher Gebrauchsgegenstände auf.
Was bei Petroski so kläglich scheiterte, fehlt bei Panati ganz: der Versuch, die Menge der Einzelinformationen über beliebige Gebrauchsgegenstände anhand einer Theorie zu verknüpfen. Selbst ein Literatur- oder Quellenverzeichnis, das Aufschluß über Panatis gewiß zahlreiche Fundorte geben könnte, wird dem Leser vorenthalten. So lädt Panatis "Universalgeschichte" vor allem zum Schmökern ein, und man kann manches getrost überblättern, etwa die Stichworte "Hasenpfote" oder "Zaubernuß", um bald darauf Interessantes über Papierdrachen, Staubsauger oder Schubkarren zu finden.
Mehr als ein halbes Jahrhundert in der Entwicklungsgeschichte des Reißverschlusses war bereits vergangen, als sich im Jahr 1915 die Hookless Fastener Company die Frage stellte, wie man ein Bedürfnis "für etwas schaffen sollte, das die meisten Leute nie gesehen und von dem nur wenige je geträumt hatten." Panati widmet dem Reißverschluß zwei Seiten, Petroski ein ganzes Kapitel. Robert Friedel hat darüber ein ganzes Buch geschrieben, das auch dem Knopf als natürlichem Feind des Reißverschlusses ein gutes Wort gönnt. Seine Studie "Zipper. An Exploration in Novelty" beweist, was Panati und Petroski nur andeuten: Der Kampf um den Reißverschluß war ein Unternehmen, das sich mit Hannibals Zug über die Alpen vergleichen läßt. Auch hier wären Elefanten von Nutzen gewesen. Die ersten Reißverschlüsse, waren sie endlich geschlossen, ließen sich nur schwer wieder öffnen. HUBERT SPIEGEL
Henry Petroski: "Messer, Gabel, Reißverschluß. Die Evolution der Gebrauchsgegenstände". Aus dem Amerikanischen von Inge Rau. Birkhäuser Verlag, Basel/Boston/Berlin 1994. 342 S., 44 S/W-Abb., geb., 68,- DM.
Charles Panati: "Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge". Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert und Doris Mendlewitsch. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1994. 320 S., geb., 48,- DM.
Robert Friedel: "Zipper. An Exploration in Novelty". W. W. Norton & Company, New York/London 1994. 288 S., geb., 16,95 brit. Pfund.
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