Peter Urban hat ein bisher unbekanntes Marionetten-Theaterstück von Daniil Charms entdeckt, das die Petersburger Herausgeber der Gesamtausgabe in dem Band "Literatur für Kinder" versteckt haben.
Anfang des Jahres 1935 wurde in Leningrad unter Leitung von L.V. Saporina (1879-1967) ein Marionettentheater gegeründet, das kaum ein Jahr lang existierte. Für dieses Theater schrieb Charms das Zirkus-Stück.
Anfang des Jahres 1935 wurde in Leningrad unter Leitung von L.V. Saporina (1879-1967) ein Marionettentheater gegeründet, das kaum ein Jahr lang existierte. Für dieses Theater schrieb Charms das Zirkus-Stück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Unter allen Drogen ist diese hier die beste
Wer einmal Daniil Charms probiert hat, wird ihn nicht mehr vergessen und nach mehr verlangen - denn mit diesem Dichter ist fast alles auszuhalten / Von Ingo Schulze
Mann 1: So beschissen wars mir nicht mal von Simone de Beauvoir wie von Tolstoj. Also, ich kriech auf die Straße, nehm Kafka. Dann gings mir ein bißchen besser. Dann fuhr ich zum Flughafen, und in London hab ich mir gleich meinen Spezialcocktail reingezogen: Cervantes und Huxley! Dann ein bißchen Boccaccio, etwas Gogol - und ich fühlte mich wie neugeboren!
Mann 2: Bruder. Das war wohl Fake.
Frau 1: Der echte ist noch schlimmer.
Mann 3: Stimmt. Obwohl Thomas Mann - ist auch ein totaler Scheiß. Mann, tat mir danach die Leber weh.
Frau 1: Mit Charms gemixt ist er auszuhalten.
Mann 3: Mit Charms ist alles auszuhalten. Sogar Gorki.
In Wladimir Sorokins Stück "Dostojewski Trip" werden Schriftsteller zu Drogen, die fraglos beste Droge ist Charms. Wer einmal Daniil Charms probiert hat, wird ihn nicht mehr vergessen, nach mehr verlangen und von Herzen dankbar sein für jeden neuen Text, der sich auf deutsch auftreiben läßt. In diesem Sinne lautet die doppelt frohe Botschaft dieser Tage: Neuer, bislang unbekannter Charms-Stoff hat den deutschen Sprachraum erreicht! Und der bekannte ist endlich wieder lieferbar!
Charmslesern mag diese Notiz genügen, um zuzugreifen, zumal die Friedenauer Presse von Katharina Wagenbach-Wolff und Peter Urban als Übersetzer und Herausgeber bekanntermaßen für Qualität bürgen. Doch obwohl vielen russischen Schriftstellern (von Mamlejew, Wenedikt Jerofejew, Sokolow über Rubinstein, Prigow, Sorokin bis hin zu Pelewin) Daniil Charms als literarische Vaterfigur gilt, sieht man in ihm hierzulande, falls er überhaupt bekannt ist, eher einen schwarzhumorigen Kleinkünstler, eine liebenswürdige Randfigur der russischen Literatur.
Im Jahr 1970, als Peter Urban mit dem schmalen Band "Fälle" Charms zum ersten Mal auf deutsch zugänglich machte, hieß es noch auf dem Umschlag: "Über sein Leben ist nichts bekannt." Die Literaturgeschichten in Ost wie West kannten den Namen Charms nicht. Zu Lebzeiten (geboren 1905 in Petersburg, 1942 gestorben - wahrscheinlich in einem Leningrader Gefängnis während der deutschen Blockade verhungert) waren von ihm einige schmale Kinderbücher erschienen, illustriert von Tatlin und anderen, daneben in Zeitschriften vereinzelt Gedichte oder kurze Prosastücke. Der Courage des Schriftstellers und Philosophen Jakov Druskin ist es zu danken, daß wir heute überhaupt Charms lesen können. Nach Charms' erneuter Verhaftung rettete er die Manuskripte vor dem sowjetischen Geheimdienst und deutschen Bomben. Im Jahr 1967 veröffentlichte die "Literaturnaja Gazeta" erstmals drei Charmstexte. Noch 1983 wurde der Leningrader Philologe Michail Mejlach (unter einem Vorwand) zu fünf Jahren Lager verurteilt - er war Mitherausgeber der 1978 in Bremen erschienenen russischen Ausgabe der Lyrik von Charms und der Werke von Wedenski (1980, Ann Arbor). Im selben Jahr hatte in der DDR ein winziges, in Leder gebundenes Büchlein mit der goldenen Aufschrift "Daniil Charms" Verwunderung ausgelöst - für den Preis von 45 Mark hätte man mehr als drei Dutzend Inselbücher kaufen können. Der Titel "? Paradoxes" und das Nachwort ("Was soll das? mag der Leser fragen.") waren der Passierschein für die 22 dazwischen abgedruckten Texte. Zuvor war der Name Charms durch ein Kinderbuch "offiziell" geworden.
Erst seit Ende der achtziger Jahre durfte Charms in der Sowjetunion gedruckt werden. Der Band "Fälle" beschränkt sich auf die erzählende Prosa, "und hier auf die besten Stücke, vermehrt um etwa ein Dutzend neu entdeckter Texte". Ergänzt man den Band um die fast alle Stücke enthaltende Ausgabe "Theater!" (Verlag der Autoren) und die Pretiosen der Friedenauer Presse ("Die Kunst ist ein Schrank"; "Briefe"; "Himmelkumov"), steht in deutscher Sprache "nur noch" eine Buchedition der Kinderbücher und der Gedichte aus.
"Fälle", die titelgebende Erzählung, braucht nicht viel Platz: "Einst aß Orlow zu viel Erbsenbrei und starb. Und als Krylow davon erfuhr, starb er auch. Und Spiridonow starb von ganz allein. Und Spiridonows Frau fiel von der Kommode und starb ebenfalls. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter ergab sich dem Suff und trieb sich auf der Straße herum. Und Michajlow hörte auf sich zu kämmen und kriegte die Krätze. Und Kruglow malte eine Dame mit Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrestow bekam telegraphisch 400 Rubel und gab damit dermaßen an, daß man ihn entlassen mußte. Lauter gute Menschen, und können keinen kühlen Kopf bewahren."
Woher kommt diese Literatur? Gogol und der russische Futurismus, insbesondere Chlebnikow, haben unübersehbare Spuren im Werk von Charms hinterlassen. Peter Urban hat vielfach auf die Verwandtschaft von Charms zu Tschechow hingewiesen, insbesondere zu dessen erst in den letzten zwei Jahren ins Deutsche übertragenem Frühwerk, das in einigen Erzählungen heutigen Lesern wie ein Vorwegnahme des Absurden anmutet.
"Das Wort absurd bedeutet ursprünglich bodenlos, im Sinn von ohne Wurzel", beginnt Vilém Flusser seine philosophische Autobiographie. "Blumen auf dem Frühstückstisch sind Beispiele eines absurden Lebens. Wenn man versucht, sich in solche Pflanzen einzuleben, dann kann man ihren Drang mitfühlen, Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben. Dieser Drang der entwurzelten Blume ist die Stimmung des absurden Lebens."
Die "Fälle" beginnen mit Arbeiten von 1925, jenem Jahr, in dem Caricyn in Stalingrad umbenannt wird. Der "geliebte Führer und Lehrer aller Werktätigen" ist bei jedem Satz mitzulesen. Ende des Jahres 1931 wird Charms zum ersten Mal verhaftet, verurteilt und verbannt, kann aber Ende 1932 wieder nach Leningrad, das er ausschließlich Petersburg nennt, zurückkehren. Die Verhaftungen von Freunden und Familienangehörigen gehören zum Alltag. Notizen wie: "Unsere Lage hat sich weiter verschlimmert . . . Wir hungern." (März 38); "Keine Hoffnungen . . . Wir gehen zugrunde - Gott, hilf!" (April 38) werden selbst in "normalen" Jahren immer häufiger.
Nirgendwo wurde willkürlicher und unberechenbarer über Leben und Tod entschieden als in der Sowjetunion Stalins. Die Frage nach dem Warum empfand Nadeshda Mandelstam bereits als eine Beleidigung der Verhafteten. Natürlich gab es keinen Grund - und natürlich fanden sich Tausende von Gründen.
Was aber geschieht mit der Sprache, wenn das alltägliche Leben bodenlos, wurzellos, absurd geworden ist? Wenn ein Wort über Leben und Tod entscheiden kann, doch niemand weiß, welches gebraucht und welches vermieden werden soll, weil die Worte aufgehört haben, etwas zu bezeichnen: "Hier ist Käse, - sagte Sirin, auf einen leeren Teller zeigend, - und hier Varenje. - Und Sirin zeigte auf ein kleines Einmachglas, das mit durchsichtigem Wasser gefüllt war."
Hatte Chlebnikow noch durch seine Saum-Sprache der Menschheit eine für das neue Zeitalter angemessene Ausdrucksmöglichkeit geben wollen, reicherte Joyce, auf der Suche nach größtmöglicher Komplexität, die Worte mit neuen Lauten und Bedeutungen an, bis sie schier zerbarsten, so sieht sich Charms mit einer Situation konfrontiert, in der die Sprache absurd geworden ist. Die Worte verlieren ihre Wurzeln in der Bedeutung. Das Gesprochene bezeichnet nichts mehr: "Es war einmal ein Rotschopf, der hatte weder Augen noch Ohren. Er hatte auch keine Haare, so daß man ihn an sich grundlos einen Rotschopf nannte. Er konnte nicht sprechen, denn er hatte keinen Mund. Eine Nase hatte er auch nicht. Er hatte sogar weder Arme noch Beine. Er hatte keinen Bauch, er hatte keinen Rücken, er hatte kein Rückgrat, er hatte auch keinerlei Eingeweide. Nichts hatte er! So daß unklar ist, um wen es hier eigentlich geht. Reden wir lieber nicht weiter über ihn."
Die Künstlergruppe "Oberiu", der neben Charms unter anderen Wedenski, Waginow und Bachterew angehörten, nannte sich "Vereinigung der realen Kunst" (in Norbert Wehrs Schreibheft Nr. 39 und 40 findet sich noch immer das bislang beste Dossier über die Oberiuten). Ihre Arbeiten und inszenierten Lesungen scheinen in ihrer Zeit nicht nur zum Realsten an Kunst zu gehören, sondern auch die angemessenste Reaktion auf die vorgefundene sprachliche Situation zu sein. In jeder ihrer Arbeiten erleidet die Sprache ihre Entwurzelung, ihr Absurdwerden immer wieder neu.
Die Oberiuten versuchen gar nicht erst, gegen das Monster der offiziellen Sprache ihre eigene Stimme zu erheben - was nicht nur eine tödliche, sondern letztlich inadäquate und "unmoderne" Haltung gewesen wäre. Sie nehmen dieses Monster als Tatsache und machen es zum Ausgangspunkt ihrer Dichtung. Sprache wird als etwas entindividualisiertes wahrgenommen und vorgeführt. Charms' Stil erinnert in seiner Nüchternheit an die Sprache medizinischer Anamnese, an die Beschreibung von Versuchsanordnungen und Experimenten. Oft lassen sich Tonlage, Sprachgestus und Vokabular "gesellschaftlichen Bereichen" zuordnen. Da gibt es die Verlautbarung oder die Gebrauchsanweisung, die Pädagogik oder das philosophische Gespräch, die Zeitungsnotiz oder den Bericht im Kindergarten. Charms schafft es sogar, daß man sich fragt, wieso die Figuren überhaupt noch Namen tragen. Jedwedes individuelles Kennzeichen erscheint überflüssig in einer entpersonalisierten Welt, in der es nur eine einzige Person geben durfte - Stalin. Der private Raum war im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne abgeschafft worden. Das ganze Land ist zur Falle geworden. Ständig stolpern, stürzen, fallen die Figuren, sie schlagen und quälen sich gegenseitig, fast in jeder Geschichte wird gestorben.
Kaum hat eine Stimme angehoben zu sprechen - ist auch schon alles gesagt. Als wohnte jeder Äußerung eine tödliche Entropie inne, erstarrt der Sprecher erneut im Schweigen. Ohne Bezug auf den geliebten Führer gibt es kein Ereignis von Bedeutung mehr, nichts, das noch Aufmerksamkeit verdiente: "An der Quaimauer unseres Flusses hatte sich eine sehr große Menschenmenge gesammelt. In den Fluß gefallen war der Regimentskommandeur Sepunov. Er verschluckte sich in einem fort, sprang bis zum Bauch aus dem Wasser, schrie und versank wieder im Wasser. Er schlug mit den Armen nach allen Seiten und schrie wieder um Hilfe. Die Menge stand am Ufer und schaute mit finsterer Miene zu. Er ertrinkt, sagte Kuzma. Klar ertrinkt er, bestätigte ein Mann mit Schirmmütze. Und tatsächlich, der Regimentskommandeur ertrank. Die Menge begann sich zu verlaufen."
Das Ungeheuerliche dieser Geschichte liegt nicht im Ereignis des Ertrinkens, sondern in dem kommentierenden Wort "klar" - "Klar ertrinkt er . . ." Die Selbstverständlichkeit, mit der etwas hingenommen wird, schockiert. Bei Charms aber hat diese Selbstverständlichkeit ein Gegengewicht. Noch gibt es das Überraschtsein vom Gang der Dinge. "Und tatsächlich", sagt der Erzähler, "der Regimentskommandeur ertrank." Ohne dieses verwunderte "und tatsächlich" wäre es eine andere Geschichte.
Immer spürt man bei Charms diese Gegenkraft zum alltäglichen Grauen. Begriffe wie Wärme und Innigkeit, ja sogar Zärtlichkeit drängen sich auf. Sie erklären nichts, doch muß es etwas in dieser Art geben, sonst besäßen seine Texte nicht diese Fallhöhe, sonst wäre es eine aufgegebene Welt, die Leser weder interessieren noch berühren würde. Bei Charms verschränkt sich Nähe und Distanz, Ergriffensein und Episierung, Weinen und Lachen.
Sechzig Jahre nach seinem Tod ist das Exemplarische seiner Dichtung für das zwanzigste Jahrhundert evident. Einen vergleichbaren Rang besitzt unter Charms' westeuropäischen Generationsgenossen allenfalls Beckett.
Daß die Friedenauer Presse ihren hundertsten Druck mit Daniil Charms begeht, ließe sich allein aus dessen Stellung als wichtigster Hausautor neben Tschechow, Puschkin und Babel erklären. Doch die Beziehungen sind verschlungener. Der Urgroßvater von Katharina Wagenbach-Wolff, Maurycy Wolff, war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit Pferdekutsche und Bücherkisten von Wilna aus bis Kiew und Minsk übers Land gereist, hatte Jahrmärkte und Gutshöfe mit Büchern beliefert und sich seit 1853 in St. Petersburg (sein Empfehlungsschreiben kam von Brockhaus) ein Verlags- und Buchhandelsimperium mit schließlich siebenhundert Angestellten aufgebaut. Nikolai Leskow, der wie Dostojewski, Gontscharow oder Turgenjew bei Wolff ein und aus ging, nannte ihn den "unübertroffenen Zaren der russischen Bücher . . . in seinen Händen hält er das Schicksal der russischen Literatur." Konkurrenzlos war der Verlag in seinem durch Fröbel angeregten Kinder- und Jugendbuchprogramm. Im Jahr 1917 mußte die Familie fliehen - alles blieb zurück.
Daß Katharina Wagenbach-Wolff die von ihrem Vater Andreas Wolff 1963 begründete Reihe mit einem Charms-Stück für das Marionettentheater krönt, erscheint vor dem Petersburger Hintergrund als Fortsetzung eines bewegenden Kapitels europäischer Verlags- und Geistesgeschichte.
"Ich liebe das Theater sehr, aber leider gibt es heutzutage kein Theater", schreibt Charms 1933 in einem Brief an Klavdija Pugceva. Über das Leningrader Kindertheater heißt es jedoch: Es befindet sich "in einer günstigeren Lage als die Erwachsenentheater. Auch wenn es selbst keine neue Epoche der Renaissance eröffnet, ist es dennoch, dank den besonderen Bedingungen des kindlichen Auditoriums, auch wenn es verunreinigt ist durch Theaterwissenschaft, ,Konstruktionen' und ,linke Ideologie' . . . - ist es dennoch reiner als die anderen Theater."
Diese Beschreibung gilt indirekt für seine eigene Situation wie auch für "Zirkus Sardam". Sardam war nicht nur eines der vielen sprechenden Pseudonyme von Charms, es ist auch ein Palindrom: Madras, der Name der südindischen Stadt, berühmt durch ihre musterreichen Stoffe. Charms' Stücke "Elizaveta Bam" und "Die Komödie der Stadt Petersburg", die nicht gespielt werden durften, hätten tatsächlich eine neue Epoche eröffnet. Ihm blieb, und selbst das nur noch für kurze Zeit, das Kinderstück. Doch wie zuvor in seinen Kinderbüchern, so spürt man auch in "Zirkus Sardam", wie weit Charms die Grenzen des Genres dehnt oder verschiebt.
Die "Vorstellung in zwei Akten", geschrieben 1935 für das im selben Jahr gegründete (und wenig länger als ein Jahr existierende) Leningrader Marionetten-Theater, beginnt als eine Art Kasperletheater. Ein gewisser Vertunov (der "Komsomolze Vertunov" spielt eine unangenehme Rolle als "Gewendeter" in der "Komödie der Stadt Petersburg") will unbedingt im Zirkus auftreten. Seine Nachfragen stören die Revue und bringen den Direktor außer Fassung, zumal die Kunststücke, die Vertunov vorzuweisen hat, entweder bloße Behauptung bleiben ("Ich kann fliegen") oder völlig undiskutabel sind (auf einem Bein stehen oder schlechte Imitationen von Hundegebell). Der Schlag eines Kraftmenschen versenkt Vertunov in der Bühne. Pause. Ein Aquarium wird aufgebaut.
Zu Beginn des zweiten Aktes fällt der Direktor durch das erneute Auftauchen Vertunovs in Ohnmacht, schlägt dabei mit dem Kopf ein Loch ins Aquarium - die gesamte Bühne wird überschwemmt. Man wundert sich darüber, wie man in der Unterwasserwelt einfach so weiterleben kann wie zuvor, zumal die vorgesehenen Taucheranzüge fehlen. Doch das Erstaunen hält nicht lange an.
"Direktor: Aber ich beginne zu verstehen . . . Hurra! Ich habe alles begriffen. Wir befinden uns unter Wasser, und uns passiert nichts, weil wir Schauspieler aus Holz sind.
Ballerina: Wie, ich bin aus Holz?
Direktor: Aber natürlich!
Ballerina: Das kann nicht sein, ich tanze doch so schön.
Direktor: Na und! Ich zum Beispiel habe einen Holzkopf, und trotzdem ist er sehr, sehr klug!"
Warum Vertunov noch zum Helden und Mitglied der Zirkustruppe avanciert, obwohl er von einem Haifisch gefressen wird, sollte man selbst lesen. Auch Kinder werden ihr Vergnügen daran haben, zumal der Raum, den der Text den Puppenspielern eröffnet, die Spiellust geradezu herausfordert. Durch den Abdruck einer weiteren Fassung für den zweiten Akt stellt sich dem Leser die Frage: Für welche Version hätte ich mich entschieden? Die Wahl fällt nicht leicht, die zweite Version ist in ihrer Entwicklung überzeugender, nur paßt sie nicht so gut zur Unterwasserwelt. Und deren Behauptung war schließlich die Hauptsache.
Daß dieser Band auch etwas für passionierte Nichtleser ist, liegt an den Illustrationen von Horst Hussel. So schön wie im "Zirkus Sardam" hat er noch nie die Puppen tanzen lassen.
Zum Schluß sei noch einmal nachdrücklich an eine Aussage des Anfangs erinnert. "Mit Charms ist alles auszuhalten!" Skeptikern sei gesagt: Mit Charms ist fast alles auszuhalten!
Daniil Charms: "Zirkus Sardam". Vorstellung in zwei Akten. Aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Illustriert von Horst Hussel. Friedenauer Presse, Berlin 2002. 36 S., br., 9,50 [Euro].
Daniil Charms: "Fälle". Prosa. Szenen. Dialoge. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2002. 260 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer einmal Daniil Charms probiert hat, wird ihn nicht mehr vergessen und nach mehr verlangen - denn mit diesem Dichter ist fast alles auszuhalten / Von Ingo Schulze
Mann 1: So beschissen wars mir nicht mal von Simone de Beauvoir wie von Tolstoj. Also, ich kriech auf die Straße, nehm Kafka. Dann gings mir ein bißchen besser. Dann fuhr ich zum Flughafen, und in London hab ich mir gleich meinen Spezialcocktail reingezogen: Cervantes und Huxley! Dann ein bißchen Boccaccio, etwas Gogol - und ich fühlte mich wie neugeboren!
Mann 2: Bruder. Das war wohl Fake.
Frau 1: Der echte ist noch schlimmer.
Mann 3: Stimmt. Obwohl Thomas Mann - ist auch ein totaler Scheiß. Mann, tat mir danach die Leber weh.
Frau 1: Mit Charms gemixt ist er auszuhalten.
Mann 3: Mit Charms ist alles auszuhalten. Sogar Gorki.
In Wladimir Sorokins Stück "Dostojewski Trip" werden Schriftsteller zu Drogen, die fraglos beste Droge ist Charms. Wer einmal Daniil Charms probiert hat, wird ihn nicht mehr vergessen, nach mehr verlangen und von Herzen dankbar sein für jeden neuen Text, der sich auf deutsch auftreiben läßt. In diesem Sinne lautet die doppelt frohe Botschaft dieser Tage: Neuer, bislang unbekannter Charms-Stoff hat den deutschen Sprachraum erreicht! Und der bekannte ist endlich wieder lieferbar!
Charmslesern mag diese Notiz genügen, um zuzugreifen, zumal die Friedenauer Presse von Katharina Wagenbach-Wolff und Peter Urban als Übersetzer und Herausgeber bekanntermaßen für Qualität bürgen. Doch obwohl vielen russischen Schriftstellern (von Mamlejew, Wenedikt Jerofejew, Sokolow über Rubinstein, Prigow, Sorokin bis hin zu Pelewin) Daniil Charms als literarische Vaterfigur gilt, sieht man in ihm hierzulande, falls er überhaupt bekannt ist, eher einen schwarzhumorigen Kleinkünstler, eine liebenswürdige Randfigur der russischen Literatur.
Im Jahr 1970, als Peter Urban mit dem schmalen Band "Fälle" Charms zum ersten Mal auf deutsch zugänglich machte, hieß es noch auf dem Umschlag: "Über sein Leben ist nichts bekannt." Die Literaturgeschichten in Ost wie West kannten den Namen Charms nicht. Zu Lebzeiten (geboren 1905 in Petersburg, 1942 gestorben - wahrscheinlich in einem Leningrader Gefängnis während der deutschen Blockade verhungert) waren von ihm einige schmale Kinderbücher erschienen, illustriert von Tatlin und anderen, daneben in Zeitschriften vereinzelt Gedichte oder kurze Prosastücke. Der Courage des Schriftstellers und Philosophen Jakov Druskin ist es zu danken, daß wir heute überhaupt Charms lesen können. Nach Charms' erneuter Verhaftung rettete er die Manuskripte vor dem sowjetischen Geheimdienst und deutschen Bomben. Im Jahr 1967 veröffentlichte die "Literaturnaja Gazeta" erstmals drei Charmstexte. Noch 1983 wurde der Leningrader Philologe Michail Mejlach (unter einem Vorwand) zu fünf Jahren Lager verurteilt - er war Mitherausgeber der 1978 in Bremen erschienenen russischen Ausgabe der Lyrik von Charms und der Werke von Wedenski (1980, Ann Arbor). Im selben Jahr hatte in der DDR ein winziges, in Leder gebundenes Büchlein mit der goldenen Aufschrift "Daniil Charms" Verwunderung ausgelöst - für den Preis von 45 Mark hätte man mehr als drei Dutzend Inselbücher kaufen können. Der Titel "? Paradoxes" und das Nachwort ("Was soll das? mag der Leser fragen.") waren der Passierschein für die 22 dazwischen abgedruckten Texte. Zuvor war der Name Charms durch ein Kinderbuch "offiziell" geworden.
Erst seit Ende der achtziger Jahre durfte Charms in der Sowjetunion gedruckt werden. Der Band "Fälle" beschränkt sich auf die erzählende Prosa, "und hier auf die besten Stücke, vermehrt um etwa ein Dutzend neu entdeckter Texte". Ergänzt man den Band um die fast alle Stücke enthaltende Ausgabe "Theater!" (Verlag der Autoren) und die Pretiosen der Friedenauer Presse ("Die Kunst ist ein Schrank"; "Briefe"; "Himmelkumov"), steht in deutscher Sprache "nur noch" eine Buchedition der Kinderbücher und der Gedichte aus.
"Fälle", die titelgebende Erzählung, braucht nicht viel Platz: "Einst aß Orlow zu viel Erbsenbrei und starb. Und als Krylow davon erfuhr, starb er auch. Und Spiridonow starb von ganz allein. Und Spiridonows Frau fiel von der Kommode und starb ebenfalls. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter ergab sich dem Suff und trieb sich auf der Straße herum. Und Michajlow hörte auf sich zu kämmen und kriegte die Krätze. Und Kruglow malte eine Dame mit Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrestow bekam telegraphisch 400 Rubel und gab damit dermaßen an, daß man ihn entlassen mußte. Lauter gute Menschen, und können keinen kühlen Kopf bewahren."
Woher kommt diese Literatur? Gogol und der russische Futurismus, insbesondere Chlebnikow, haben unübersehbare Spuren im Werk von Charms hinterlassen. Peter Urban hat vielfach auf die Verwandtschaft von Charms zu Tschechow hingewiesen, insbesondere zu dessen erst in den letzten zwei Jahren ins Deutsche übertragenem Frühwerk, das in einigen Erzählungen heutigen Lesern wie ein Vorwegnahme des Absurden anmutet.
"Das Wort absurd bedeutet ursprünglich bodenlos, im Sinn von ohne Wurzel", beginnt Vilém Flusser seine philosophische Autobiographie. "Blumen auf dem Frühstückstisch sind Beispiele eines absurden Lebens. Wenn man versucht, sich in solche Pflanzen einzuleben, dann kann man ihren Drang mitfühlen, Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben. Dieser Drang der entwurzelten Blume ist die Stimmung des absurden Lebens."
Die "Fälle" beginnen mit Arbeiten von 1925, jenem Jahr, in dem Caricyn in Stalingrad umbenannt wird. Der "geliebte Führer und Lehrer aller Werktätigen" ist bei jedem Satz mitzulesen. Ende des Jahres 1931 wird Charms zum ersten Mal verhaftet, verurteilt und verbannt, kann aber Ende 1932 wieder nach Leningrad, das er ausschließlich Petersburg nennt, zurückkehren. Die Verhaftungen von Freunden und Familienangehörigen gehören zum Alltag. Notizen wie: "Unsere Lage hat sich weiter verschlimmert . . . Wir hungern." (März 38); "Keine Hoffnungen . . . Wir gehen zugrunde - Gott, hilf!" (April 38) werden selbst in "normalen" Jahren immer häufiger.
Nirgendwo wurde willkürlicher und unberechenbarer über Leben und Tod entschieden als in der Sowjetunion Stalins. Die Frage nach dem Warum empfand Nadeshda Mandelstam bereits als eine Beleidigung der Verhafteten. Natürlich gab es keinen Grund - und natürlich fanden sich Tausende von Gründen.
Was aber geschieht mit der Sprache, wenn das alltägliche Leben bodenlos, wurzellos, absurd geworden ist? Wenn ein Wort über Leben und Tod entscheiden kann, doch niemand weiß, welches gebraucht und welches vermieden werden soll, weil die Worte aufgehört haben, etwas zu bezeichnen: "Hier ist Käse, - sagte Sirin, auf einen leeren Teller zeigend, - und hier Varenje. - Und Sirin zeigte auf ein kleines Einmachglas, das mit durchsichtigem Wasser gefüllt war."
Hatte Chlebnikow noch durch seine Saum-Sprache der Menschheit eine für das neue Zeitalter angemessene Ausdrucksmöglichkeit geben wollen, reicherte Joyce, auf der Suche nach größtmöglicher Komplexität, die Worte mit neuen Lauten und Bedeutungen an, bis sie schier zerbarsten, so sieht sich Charms mit einer Situation konfrontiert, in der die Sprache absurd geworden ist. Die Worte verlieren ihre Wurzeln in der Bedeutung. Das Gesprochene bezeichnet nichts mehr: "Es war einmal ein Rotschopf, der hatte weder Augen noch Ohren. Er hatte auch keine Haare, so daß man ihn an sich grundlos einen Rotschopf nannte. Er konnte nicht sprechen, denn er hatte keinen Mund. Eine Nase hatte er auch nicht. Er hatte sogar weder Arme noch Beine. Er hatte keinen Bauch, er hatte keinen Rücken, er hatte kein Rückgrat, er hatte auch keinerlei Eingeweide. Nichts hatte er! So daß unklar ist, um wen es hier eigentlich geht. Reden wir lieber nicht weiter über ihn."
Die Künstlergruppe "Oberiu", der neben Charms unter anderen Wedenski, Waginow und Bachterew angehörten, nannte sich "Vereinigung der realen Kunst" (in Norbert Wehrs Schreibheft Nr. 39 und 40 findet sich noch immer das bislang beste Dossier über die Oberiuten). Ihre Arbeiten und inszenierten Lesungen scheinen in ihrer Zeit nicht nur zum Realsten an Kunst zu gehören, sondern auch die angemessenste Reaktion auf die vorgefundene sprachliche Situation zu sein. In jeder ihrer Arbeiten erleidet die Sprache ihre Entwurzelung, ihr Absurdwerden immer wieder neu.
Die Oberiuten versuchen gar nicht erst, gegen das Monster der offiziellen Sprache ihre eigene Stimme zu erheben - was nicht nur eine tödliche, sondern letztlich inadäquate und "unmoderne" Haltung gewesen wäre. Sie nehmen dieses Monster als Tatsache und machen es zum Ausgangspunkt ihrer Dichtung. Sprache wird als etwas entindividualisiertes wahrgenommen und vorgeführt. Charms' Stil erinnert in seiner Nüchternheit an die Sprache medizinischer Anamnese, an die Beschreibung von Versuchsanordnungen und Experimenten. Oft lassen sich Tonlage, Sprachgestus und Vokabular "gesellschaftlichen Bereichen" zuordnen. Da gibt es die Verlautbarung oder die Gebrauchsanweisung, die Pädagogik oder das philosophische Gespräch, die Zeitungsnotiz oder den Bericht im Kindergarten. Charms schafft es sogar, daß man sich fragt, wieso die Figuren überhaupt noch Namen tragen. Jedwedes individuelles Kennzeichen erscheint überflüssig in einer entpersonalisierten Welt, in der es nur eine einzige Person geben durfte - Stalin. Der private Raum war im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne abgeschafft worden. Das ganze Land ist zur Falle geworden. Ständig stolpern, stürzen, fallen die Figuren, sie schlagen und quälen sich gegenseitig, fast in jeder Geschichte wird gestorben.
Kaum hat eine Stimme angehoben zu sprechen - ist auch schon alles gesagt. Als wohnte jeder Äußerung eine tödliche Entropie inne, erstarrt der Sprecher erneut im Schweigen. Ohne Bezug auf den geliebten Führer gibt es kein Ereignis von Bedeutung mehr, nichts, das noch Aufmerksamkeit verdiente: "An der Quaimauer unseres Flusses hatte sich eine sehr große Menschenmenge gesammelt. In den Fluß gefallen war der Regimentskommandeur Sepunov. Er verschluckte sich in einem fort, sprang bis zum Bauch aus dem Wasser, schrie und versank wieder im Wasser. Er schlug mit den Armen nach allen Seiten und schrie wieder um Hilfe. Die Menge stand am Ufer und schaute mit finsterer Miene zu. Er ertrinkt, sagte Kuzma. Klar ertrinkt er, bestätigte ein Mann mit Schirmmütze. Und tatsächlich, der Regimentskommandeur ertrank. Die Menge begann sich zu verlaufen."
Das Ungeheuerliche dieser Geschichte liegt nicht im Ereignis des Ertrinkens, sondern in dem kommentierenden Wort "klar" - "Klar ertrinkt er . . ." Die Selbstverständlichkeit, mit der etwas hingenommen wird, schockiert. Bei Charms aber hat diese Selbstverständlichkeit ein Gegengewicht. Noch gibt es das Überraschtsein vom Gang der Dinge. "Und tatsächlich", sagt der Erzähler, "der Regimentskommandeur ertrank." Ohne dieses verwunderte "und tatsächlich" wäre es eine andere Geschichte.
Immer spürt man bei Charms diese Gegenkraft zum alltäglichen Grauen. Begriffe wie Wärme und Innigkeit, ja sogar Zärtlichkeit drängen sich auf. Sie erklären nichts, doch muß es etwas in dieser Art geben, sonst besäßen seine Texte nicht diese Fallhöhe, sonst wäre es eine aufgegebene Welt, die Leser weder interessieren noch berühren würde. Bei Charms verschränkt sich Nähe und Distanz, Ergriffensein und Episierung, Weinen und Lachen.
Sechzig Jahre nach seinem Tod ist das Exemplarische seiner Dichtung für das zwanzigste Jahrhundert evident. Einen vergleichbaren Rang besitzt unter Charms' westeuropäischen Generationsgenossen allenfalls Beckett.
Daß die Friedenauer Presse ihren hundertsten Druck mit Daniil Charms begeht, ließe sich allein aus dessen Stellung als wichtigster Hausautor neben Tschechow, Puschkin und Babel erklären. Doch die Beziehungen sind verschlungener. Der Urgroßvater von Katharina Wagenbach-Wolff, Maurycy Wolff, war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit Pferdekutsche und Bücherkisten von Wilna aus bis Kiew und Minsk übers Land gereist, hatte Jahrmärkte und Gutshöfe mit Büchern beliefert und sich seit 1853 in St. Petersburg (sein Empfehlungsschreiben kam von Brockhaus) ein Verlags- und Buchhandelsimperium mit schließlich siebenhundert Angestellten aufgebaut. Nikolai Leskow, der wie Dostojewski, Gontscharow oder Turgenjew bei Wolff ein und aus ging, nannte ihn den "unübertroffenen Zaren der russischen Bücher . . . in seinen Händen hält er das Schicksal der russischen Literatur." Konkurrenzlos war der Verlag in seinem durch Fröbel angeregten Kinder- und Jugendbuchprogramm. Im Jahr 1917 mußte die Familie fliehen - alles blieb zurück.
Daß Katharina Wagenbach-Wolff die von ihrem Vater Andreas Wolff 1963 begründete Reihe mit einem Charms-Stück für das Marionettentheater krönt, erscheint vor dem Petersburger Hintergrund als Fortsetzung eines bewegenden Kapitels europäischer Verlags- und Geistesgeschichte.
"Ich liebe das Theater sehr, aber leider gibt es heutzutage kein Theater", schreibt Charms 1933 in einem Brief an Klavdija Pugceva. Über das Leningrader Kindertheater heißt es jedoch: Es befindet sich "in einer günstigeren Lage als die Erwachsenentheater. Auch wenn es selbst keine neue Epoche der Renaissance eröffnet, ist es dennoch, dank den besonderen Bedingungen des kindlichen Auditoriums, auch wenn es verunreinigt ist durch Theaterwissenschaft, ,Konstruktionen' und ,linke Ideologie' . . . - ist es dennoch reiner als die anderen Theater."
Diese Beschreibung gilt indirekt für seine eigene Situation wie auch für "Zirkus Sardam". Sardam war nicht nur eines der vielen sprechenden Pseudonyme von Charms, es ist auch ein Palindrom: Madras, der Name der südindischen Stadt, berühmt durch ihre musterreichen Stoffe. Charms' Stücke "Elizaveta Bam" und "Die Komödie der Stadt Petersburg", die nicht gespielt werden durften, hätten tatsächlich eine neue Epoche eröffnet. Ihm blieb, und selbst das nur noch für kurze Zeit, das Kinderstück. Doch wie zuvor in seinen Kinderbüchern, so spürt man auch in "Zirkus Sardam", wie weit Charms die Grenzen des Genres dehnt oder verschiebt.
Die "Vorstellung in zwei Akten", geschrieben 1935 für das im selben Jahr gegründete (und wenig länger als ein Jahr existierende) Leningrader Marionetten-Theater, beginnt als eine Art Kasperletheater. Ein gewisser Vertunov (der "Komsomolze Vertunov" spielt eine unangenehme Rolle als "Gewendeter" in der "Komödie der Stadt Petersburg") will unbedingt im Zirkus auftreten. Seine Nachfragen stören die Revue und bringen den Direktor außer Fassung, zumal die Kunststücke, die Vertunov vorzuweisen hat, entweder bloße Behauptung bleiben ("Ich kann fliegen") oder völlig undiskutabel sind (auf einem Bein stehen oder schlechte Imitationen von Hundegebell). Der Schlag eines Kraftmenschen versenkt Vertunov in der Bühne. Pause. Ein Aquarium wird aufgebaut.
Zu Beginn des zweiten Aktes fällt der Direktor durch das erneute Auftauchen Vertunovs in Ohnmacht, schlägt dabei mit dem Kopf ein Loch ins Aquarium - die gesamte Bühne wird überschwemmt. Man wundert sich darüber, wie man in der Unterwasserwelt einfach so weiterleben kann wie zuvor, zumal die vorgesehenen Taucheranzüge fehlen. Doch das Erstaunen hält nicht lange an.
"Direktor: Aber ich beginne zu verstehen . . . Hurra! Ich habe alles begriffen. Wir befinden uns unter Wasser, und uns passiert nichts, weil wir Schauspieler aus Holz sind.
Ballerina: Wie, ich bin aus Holz?
Direktor: Aber natürlich!
Ballerina: Das kann nicht sein, ich tanze doch so schön.
Direktor: Na und! Ich zum Beispiel habe einen Holzkopf, und trotzdem ist er sehr, sehr klug!"
Warum Vertunov noch zum Helden und Mitglied der Zirkustruppe avanciert, obwohl er von einem Haifisch gefressen wird, sollte man selbst lesen. Auch Kinder werden ihr Vergnügen daran haben, zumal der Raum, den der Text den Puppenspielern eröffnet, die Spiellust geradezu herausfordert. Durch den Abdruck einer weiteren Fassung für den zweiten Akt stellt sich dem Leser die Frage: Für welche Version hätte ich mich entschieden? Die Wahl fällt nicht leicht, die zweite Version ist in ihrer Entwicklung überzeugender, nur paßt sie nicht so gut zur Unterwasserwelt. Und deren Behauptung war schließlich die Hauptsache.
Daß dieser Band auch etwas für passionierte Nichtleser ist, liegt an den Illustrationen von Horst Hussel. So schön wie im "Zirkus Sardam" hat er noch nie die Puppen tanzen lassen.
Zum Schluß sei noch einmal nachdrücklich an eine Aussage des Anfangs erinnert. "Mit Charms ist alles auszuhalten!" Skeptikern sei gesagt: Mit Charms ist fast alles auszuhalten!
Daniil Charms: "Zirkus Sardam". Vorstellung in zwei Akten. Aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Illustriert von Horst Hussel. Friedenauer Presse, Berlin 2002. 36 S., br., 9,50 [Euro].
Daniil Charms: "Fälle". Prosa. Szenen. Dialoge. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2002. 260 S., geb., 15,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Bei diesem Zirkusstück dürfte jedem Besucher das Lachen im Halse stecken geblieben sein, als es 1935 in Petersburg uraufgeführt wurde, vermutet Rezensentin Sibylle Cramer. Es handelt von einem adretten Herrn in mittleren Jahren, der in den Puppenzirkus Sardam gerät und dort erstaunlicherweise mühelos mit Haifischen und Schlangen mithalten kann. Am Ende begreift man, dass der Mann in ein Monster mutiert ist, das den Lesern von Daniil Charms als Genosse Vertunov bekannt sein dürfte. Das Stück wurde nach der Premiere natürlich prompt verboten, 1941 wurde Charms der "Verbreitung defätistischer Propaganda" angeklagt, für unzurechnungsfähig erklärt und in die Gefängnispsychiatrie gesteckt, wo er schließlich verhungerte. Für Cramer beweist dieses Lach- oder Gruselstück des in gefährliche Zeiten hineingeborenen Russen Charms, dass "der Abstand zwischen Lage und poetischer Lagebesprechung" nirgendwo größer ist als im Humor, wobei in Charms Fall "hinter dem Spielwerk des Komischen der stalinistische Terror" lauert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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