Im ehemaligen Adelssitz von Si?em, einem Städtchen östlich von Prag, kümmern sichNonnen um verlassene Kinder, die es aus verschiedenen Ländern hierher verschlagenhat. Unter ihnen ist auch der zwölfjährige Russe Ilja. Die flüchtenden Eltern haben ihn und seinen behinderten kleinen Bruder zurückgelassen.Der Alltag der Kinder ändert sich jäh, als Soldaten das »Heimdaheim« stürmen unddie katholischen Schwestern deportieren. Unter der Leitung des Kommandanten dominiertein militärischer Drill. Bücher werden verbrannt, die Vergangenheit umgeschriebenund Ilja zum Saboteur ausgebildet. Als Gerüchte über eine bevorstehende Invasionder Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten Si?em erreichen, bricht im Heim Chaosaus. Viele Jungen schließen sich den Rebellen in der »Si?emer Autonomen Zone« an.Ilja entdeckt auf einem einrückenden sowjetischen Panzer seinen Vater, HauptmannJegorow. Als Dolmetscher und Kartenleser lotst Ilja die Okkupanten durch die verwüstete Landschaft, in der Zwerge, tote Giraffenund Kamele auftauchen: versprengte Teile eines sozialistischen Musterzirkus aus der DDR. Die Geschichte, wie schließlich tschechische Einheiten nach Bayern eindringen und einen Dritten Weltkrieg heraufbeschwören, der die »Zirkuszone« auslöschen wird, ist weit mehr als Karneval undSatire.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2008Wo bitte liegt Mitteleuropa?
EZB-Lesung: Topol und Virk in der Romanfabrik
Das war gar nicht böse gemeint. Aber Jáchym Topol musste seinem Moderator eine ähnliche "Geschichtsvergessenheit" attestieren wie den Prager Studenten. Dabei ist Ruthard Stäblein vom Hessischen Rundfunk doch schon eine Generation weiter. Aber er war an diesem Abend nicht der Einzige, der sich über den Roman des Prager Schriftstellers wunderte. So viel heroischen Widerstand hatten die Tschechen den sowjetischen Panzern und einmarschierenden sowjetischen Bruderstaaten 1968 geliefert? Nein, das haben wir nicht gewusst. Panzer auf den Straßen von Prag, ja. Aber brennende Scheunen auf dem Land und erschlagene Dorfbewohner? "Das ist eine seriöse historische Arbeit", sagte Topol und meinte damit sein Buch über die "Zirkuszone", eine absurde Phantasmagorie über den Prager Frühling, die bei Suhrkamp erschienen ist.
Im Rahmen der EZB-Kulturtage stellten sich abermals zwei Schriftsteller unter dem Motto "Kleine Sprachen - Große Literaturen" vor. Neben dem sympathischen Sponti Topol empfahl sich in der Frankfurter Romanfabrik der stillere slowenische Autor Jani Virk mit seinem Roman "Sergijs letzte Versuchung" (Wieser Verlag) . Beide trugen kurze Passagen aus ihren Büchern im Original vor. Dann lasen Eva Profousová aus ihrer eigenen Übersetzung und der Sprecher Jochen Nix aus dem deutschen Text von Fabjan Hafner. Hatte sich Topol auf die bizarren Abenteuer eines tschechischen Waisenknaben kapriziert, der vom Militär zum Kindersoldaten ausgebildet wurde, so widmete sich Virk dem opportunistischen Ränkespiel im Ljubljana des Übergangs vom Tito-Sozialismus zur mitteleuropäischen Demokratie.
Nur: Wo liegt Mitteleuropa? Topol vermutete hinter dem geographischen Topos "eine intellektuelle Konstruktion aus Scham", die eigentlich Osteuropa meine. "Mitteleuropa, das sind die Bücher - von Milosz und Kafka. Das Leben bei uns ist Osteuropa", sagte er. "Die Westeuropäer haben Angst vor den Osteuropäern." Auch für ihn sei Osteuropa brutaler, aber auch spannender. Eigentlich beginne es erst in der Ukraine. Doch die Ukrainer schickten einen nach Weißrussland und die Weißrussen nach Sibirien zu den Überresten des GULag. Irgendwann stehe man dann bei Wladiwostok am Japanischen Meer. "Osteuropa kann man nicht finden", resümierte er. Aber, so Virk, der souverän in deutscher Sprache parlierte: "Das ist Mitteleuropa: dass wir uns kennen in einem kulturellen Horizont."
"Wir sind multikulturell geprägt, allerdings mehr von der germanischen als von der romanischen Kultur", begründete der 1962 geborene Slowene seine mitteleuropäische Nähe. Schon Anfang der Achtziger konnte er nach Österreich, Deutschland und Italien einreisen. Da verbrachte Topol, ebenfalls Jahrgang 1962, seine Wehrdienstzeit gerade im Irrenhaus, bevor er sich als Heizer und Lagerarbeiter durchschlug und das Underground-Magazin "Revolver-Revue" gründete. Heute arbeiten beide Autoren als Redakteure: Virk beim nationalen Fernsehen und Topol bei der Wochenzeitschrift "Respekt". Ihre Bücher beweisen jedenfalls, dass sie mehr vom östlichen und südöstlichen Mitteleuropa wissen als wir. Vielleicht schwindet mit der Lektüre ja die Angst vor dem Unbekannten jenseits der Oder und der Drau.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
EZB-Lesung: Topol und Virk in der Romanfabrik
Das war gar nicht böse gemeint. Aber Jáchym Topol musste seinem Moderator eine ähnliche "Geschichtsvergessenheit" attestieren wie den Prager Studenten. Dabei ist Ruthard Stäblein vom Hessischen Rundfunk doch schon eine Generation weiter. Aber er war an diesem Abend nicht der Einzige, der sich über den Roman des Prager Schriftstellers wunderte. So viel heroischen Widerstand hatten die Tschechen den sowjetischen Panzern und einmarschierenden sowjetischen Bruderstaaten 1968 geliefert? Nein, das haben wir nicht gewusst. Panzer auf den Straßen von Prag, ja. Aber brennende Scheunen auf dem Land und erschlagene Dorfbewohner? "Das ist eine seriöse historische Arbeit", sagte Topol und meinte damit sein Buch über die "Zirkuszone", eine absurde Phantasmagorie über den Prager Frühling, die bei Suhrkamp erschienen ist.
Im Rahmen der EZB-Kulturtage stellten sich abermals zwei Schriftsteller unter dem Motto "Kleine Sprachen - Große Literaturen" vor. Neben dem sympathischen Sponti Topol empfahl sich in der Frankfurter Romanfabrik der stillere slowenische Autor Jani Virk mit seinem Roman "Sergijs letzte Versuchung" (Wieser Verlag) . Beide trugen kurze Passagen aus ihren Büchern im Original vor. Dann lasen Eva Profousová aus ihrer eigenen Übersetzung und der Sprecher Jochen Nix aus dem deutschen Text von Fabjan Hafner. Hatte sich Topol auf die bizarren Abenteuer eines tschechischen Waisenknaben kapriziert, der vom Militär zum Kindersoldaten ausgebildet wurde, so widmete sich Virk dem opportunistischen Ränkespiel im Ljubljana des Übergangs vom Tito-Sozialismus zur mitteleuropäischen Demokratie.
Nur: Wo liegt Mitteleuropa? Topol vermutete hinter dem geographischen Topos "eine intellektuelle Konstruktion aus Scham", die eigentlich Osteuropa meine. "Mitteleuropa, das sind die Bücher - von Milosz und Kafka. Das Leben bei uns ist Osteuropa", sagte er. "Die Westeuropäer haben Angst vor den Osteuropäern." Auch für ihn sei Osteuropa brutaler, aber auch spannender. Eigentlich beginne es erst in der Ukraine. Doch die Ukrainer schickten einen nach Weißrussland und die Weißrussen nach Sibirien zu den Überresten des GULag. Irgendwann stehe man dann bei Wladiwostok am Japanischen Meer. "Osteuropa kann man nicht finden", resümierte er. Aber, so Virk, der souverän in deutscher Sprache parlierte: "Das ist Mitteleuropa: dass wir uns kennen in einem kulturellen Horizont."
"Wir sind multikulturell geprägt, allerdings mehr von der germanischen als von der romanischen Kultur", begründete der 1962 geborene Slowene seine mitteleuropäische Nähe. Schon Anfang der Achtziger konnte er nach Österreich, Deutschland und Italien einreisen. Da verbrachte Topol, ebenfalls Jahrgang 1962, seine Wehrdienstzeit gerade im Irrenhaus, bevor er sich als Heizer und Lagerarbeiter durchschlug und das Underground-Magazin "Revolver-Revue" gründete. Heute arbeiten beide Autoren als Redakteure: Virk beim nationalen Fernsehen und Topol bei der Wochenzeitschrift "Respekt". Ihre Bücher beweisen jedenfalls, dass sie mehr vom östlichen und südöstlichen Mitteleuropa wissen als wir. Vielleicht schwindet mit der Lektüre ja die Angst vor dem Unbekannten jenseits der Oder und der Drau.
CLAUDIA SCHÜLKE
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen "kühnen und furchtlosen Text" erblickt Rezensent Peter Demetz in Jachym Topols Roman "Zirkuszone", in dem dieser der Frage nachgeht, wie es gewesen wäre, wenn sich die Tschechen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings zur Wehr gesetzt hätten. Er liest das Werk, in dessen Mittelpunkt der heranwachsenden Waisenjunge Ilja steht, der von einer sowjetischen Panzertruppe adoptiert wird, als "Wiederinszenierung eines Traumas". Das Geschichtsdrama mutiert in seinen Augen dabei zum "absurden Theater". Beeindruckt zeigt er sich von der unbändige Fabulierlust des Autors, die Psychologie und konventionelle Plausibilität hinter sich lässt, um mit unglaublichen Begebenheiten und überstürzenden Ereignissen aus den Vollen zu schöpfen. Gelegentlich schießt der Autor für Dementz' Geschmack über das Ziel hinaus. Allerdings sieht er sich dann wieder versöhnt durch Topols virtuose Fähigkeit, literarische Zitate und Parodien einzubringen und zu verbinden. Mit hohem Lob bedenkt er auch Milena Oda und Andreas Tretner für ihre Übersetzungsleistung, eine "philologische Tat ersten Ranges".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Für seinen jüngsten Roman ist Topol, der mit Abstand interessanteste tschechische Autor dieser Jahre, auf Motive vor allem des Vorgängerromans Nachtarbeit zurückgegangen.« Süddeutsche Zeitung