Die Transformation traditionaler in moderne Gesellschaften - inzwischen ein Prozeß nicht nur in der westlichen Welt, sondern ein weltweiter Vorgang - erzeugt unausweichlich eine Vielzahl von unterschiedlichen Identitäten und Interessen. Gesellschaften zerklüften sich, im Grenzfall versinken sie in Bürgerkriegen: Koexistenz wird deshalb zur Kernforderung zivilisierten Zusammenlebens innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen; sie wäre das Ergebnis eines kollektiven Lernprozesses wider Willen. Denn politisierte Identitäten und Interessen sind in zerklüfteten Gesellschaften nicht auf Koexistenz, sondern auf hegemoniale Machtansprüche ausgelegt: Intoleranz ist in solchem Zusammenhang ursprünglicher als Toleranz. Da diese Problematik eine moderne ist, findet sie sich in den großen traditionalen Kulturen der Welt nicht thematisiert: Die Erfordernisse der sich modernisierenden Gesellschaften stehen im Widerstreit zu Orientierungen traditionaler Kultur. Modernisierungsprozesse führen folglich zu tiefgreifenden Kulturkonflikten im jeweils eigenen Umfeld. Der beste Beleg hierfür ist die westliche Welt selbst, die erst als Ergebnis eines langwierigen Zivilisierungsprozesses Koexistenz als eine Leitperspektive zu begreifen gelernt hat. Die einst nur europäische Problemlage ist inzwischen eine weltweite geworden.
Modernisierungserfordernisse versus traditionale Kulturüberlieferungen: Dieser Konflikt ist weit grundlegender, als es die These vom »Zusammenprall der Zivilisationen« suggeriert, zumal in dieser These fälschlicherweise unverrückbare Kulturprofile des Westens und anderer Kulturen unterstellt werden. In Wirklichkeit liegen die großen Kulturen der Welt vor allem mit sich selbst im Konflikt.
Modernisierungserfordernisse versus traditionale Kulturüberlieferungen: Dieser Konflikt ist weit grundlegender, als es die These vom »Zusammenprall der Zivilisationen« suggeriert, zumal in dieser These fälschlicherweise unverrückbare Kulturprofile des Westens und anderer Kulturen unterstellt werden. In Wirklichkeit liegen die großen Kulturen der Welt vor allem mit sich selbst im Konflikt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.1999Schöne Welt von morgen
Dieter Senghaas zivilisiert den Dialog
Dieter Senghaas: Zivilisierung wider Willen. edition suhrkamp 2081. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 229 Seiten, 18,80 Mark.
Ein Bremer Friedensforscher erklärt die Welt. Aus der Perspektive des allwissenden Erzählers entfaltet Dieter Senghaas in seinem neuen Buch über "Zivilisierung wider Willen" ein breites Panorama lehrreicher Einsichten und Aussichten: Man erfährt etwa - jeweils in ein, zwei Sätzen prägnant gefaßt -, weshalb der Umbruch in Rußland ins Chaos führte, welchen Gesetzmäßigkeiten zufolge der Bürgerkrieg in Algerien notwendig ist, aber auch und vor allem, wie die Welt von morgen politisch und kulturell aussehen wird.
Nur etwas Geduld
Es wird so kommen: Die zufällig beziehungsweise nur durch ein "Wunder" oder eben "wider Willen" in Europa entstandene universale Zivilisationsform - die moderne, auf den Grundfesten der Menschenrechte und des Pluralismus ruhende Demokratie - wird sich, wiederum "wider Willen", auch in den anderen Weltregionen letztlich durchsetzen. Dazu bedarf es keiner Gewalt, sondern nur etwas Geduld. Den Senghaasschen Gesetzen der Modernisierung werden sich weder chinesische Konfuzianer und Kommunisten, islamische Fundamentalisten, indische Hindus noch Buddhisten oder Afrikaner auf lange Sicht widersetzen können.
Zum Beispiel in Ostasien wird es wahrscheinlich in ungefähr vierzig Jahren mit der soziokulturellen Rückständigkeit endgültig vorbei sein. Etwas altmodische Menschen dort, die heute noch an so etwas wie "asiatische Werte" glauben, werden belehrt, daß diese "identisch mit den europäischen Werten von gestern" sind und deswegen mehr oder weniger kurz vor dem Untergang stehen. Allerdings, der Autor, der sich überall gut auskennt, will nicht generalisieren. Eigentlich darf man weder von "dem" Konfuzianismus oder "dem" Islam oder "dem" Westen sprechen. Denn alles ist heterogen und vielfältig. In der schönen neuen Welt von morgen werden die in sich total differenten Kulturen so ungefähr den Regeln Habermasscher Diskursethik folgen und friedlich mit sich selbst und anderen in einen Dialog treten. Dabei wird es überall demokratische Staaten auf der Grundlage der Menschenrechte geben, die sich - eingedenk des Pluralismusgebots - auf Grund regionaler Besonderheiten jedoch etwa so unterscheiden wie heute Finnland und die Niederlande.
Der Autor macht es dem Leser einfach, mit seinem Zivilisationsmodell der Zukunft klarzukommen. Auch wenn durchaus häufig Worte wie "Philosophie" oder "Soziologie" benutzt werden - mit aktuellen Theorien dieser Wissenschaften zu den Begriffen "Demokratie", "Menschenrechte" oder "Modernisierung" wird man nicht übermäßig belastet. Von distanzierten Stellungnahmen dazu durch Denker wie Richard Rorty oder Niklas Luhmann wird man ganz verschont. Dafür kommt aber zum Schluß des Buches immerhin der Bundespräsident ausführlich zu Wort. So souverän, wie sich Senghaas von störendem theoretischem Ballast befreit, setzt er sich über akademische Debatten etwa in Ostasien über die Modernisierungsproblematik hinweg.
Die in den siebziger und achtziger Jahren von chinesischen Philosophen geführte Diskussion über Max Weber wird nicht erwähnt. Bei seinen Versuchen, über den ein oder anderen "Tellerrand hinaus zu schauen", setzt der Friedensforscher allerdings offenbar nicht immer die passende Brille auf. Groteske Fehlinformationen häufen sich zumindest in den auf China bezogenen Darstellungen. So rechnet Senghaas den altchinesischen Denker Dong Zhongshu aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bereits dem Neokonfuzianismus zu, obwohl diese Schule erst ein gutes Jahrtausend später in Erscheinung tritt. Und "das Daoismus-Paradigma" besteht laut Senghaas darin, daß mit der Zivilisation die Herrschaft abgeschafft werden soll, obwohl zentrale Texte dieser Schulrichtung wie etwa das Daodejing gerade die Bedingungen optimaler Herrschaft zum Thema haben.
Würde des Menschen
In den relativ umfangreichen sinologischen Teilen seines Buches verdeckt der Autor zudem bisweilen seine Quellen. In allen für seine Argumentation wichtigen Punkten folgt Senghaas den persönlichen Meinungen des Sinologen Heiner Roetz, ohne dabei - bis auf wenige Ausnahmen - diesen Bezugspunkt zu nennen. Er spricht - im Hinblick auf protodemokratische, protopluralistische oder protomenschenrechtliche Ansätze, die die alten Chinesen besessen haben sollen, auf daß sie sich nun wieder darauf besinnen mögen - wiederholt von der "Tradition der Traditionskritik", von der "Idee der Würde des Menschen kraft Menschseins" oder dem Niedergang solcher modernen Ansätze im Neokonfuzianismus. All dies - und mehr - folgt, zum Teil dem Wortlaut nach, den gar nicht oder jedenfalls nicht an den relevanten Stellen zitierten Schriften von Heiner Roetz.
Allen Demokratie-Enthusiasmus und Menschenrechts-Optimismus des Autors übertrifft noch dessen naive Beurteilung der Funktion der Massenmedien bei der Zivilisierung der Welt. Seiner Ansicht nach dürfen die Menschen in der Dritten Welt darüber froh sein, daß sie "seit einigen Jahrzehnten einem vielfältigen Medienangebot ausgesetzt (sind), das ihnen immer mehr Vergleiche im Hinblick auf Lebenserwartungen und Lebensstile, wie sie andernorts zu beobachten sind, ermöglicht". Eine derart uneingeschränkt affirmative Bewertung der vielfältigen sozialen und kulturellen Irritationen, die die westliche Informations- und Unterhaltungsindustrie in den Entwicklungsländern ausgelöst hat, zeugt entweder von Naivität oder Zynismus.
Hemmschuh der Geschichte
Senghaas hegt einen merkwürdig angepaßten Glauben an die Unparteilichkeit und Unschuld des demokratischen Pluralismus und seiner Begleiterscheinungen. Er kann sich anscheinend nicht vorstellen, daß bestimmte angeblich "pluralistische" Institutionen und Verfahren von manchen Menschen keinesfalls nur als heilbringende universelle Zivilisationsformen, sondern auch als Bedrohung ihrer Freiheit und Identität empfunden werden. Senghaas offenbart Elemente eines subtilen Dialog-Totalitarismus, wenn er etwa folgende Regel für den "interkulturellen Dialog" fordert: "Keine Konferenz mehr über den islamischen Fundamentalismus!" Allzu störrische Dialogpartner, die vielleicht gerade die Senghaasschen Bedingungen des interkulturellen Dialogs nicht anerkennen, sollen totgeschwiegen werden. Das ist gefährlich, denn wer sowieso schon der Böse ist, hat weniger Hemmungen, sich entsprechend zu verhalten.
Es könnte sein, daß die Welt von morgen, über die Senghaas mit vorauseilendem Gehorsam unterrichtet, nicht allen so gut gefällt wie ihm selbst, und zwar nicht nur ewiggestrigen Fundamentalisten, sondern vielleicht auch dem ein oder anderen kritischen Philosophen oder Soziologen. Nach Senghaas sind solche Menschen, die sich nur "wider Willen" zivilisieren lassen, allesamt gewissermaßen der Hemmschuh der Geschichte.
HANS-GEORG MÖLLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieter Senghaas zivilisiert den Dialog
Dieter Senghaas: Zivilisierung wider Willen. edition suhrkamp 2081. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 229 Seiten, 18,80 Mark.
Ein Bremer Friedensforscher erklärt die Welt. Aus der Perspektive des allwissenden Erzählers entfaltet Dieter Senghaas in seinem neuen Buch über "Zivilisierung wider Willen" ein breites Panorama lehrreicher Einsichten und Aussichten: Man erfährt etwa - jeweils in ein, zwei Sätzen prägnant gefaßt -, weshalb der Umbruch in Rußland ins Chaos führte, welchen Gesetzmäßigkeiten zufolge der Bürgerkrieg in Algerien notwendig ist, aber auch und vor allem, wie die Welt von morgen politisch und kulturell aussehen wird.
Nur etwas Geduld
Es wird so kommen: Die zufällig beziehungsweise nur durch ein "Wunder" oder eben "wider Willen" in Europa entstandene universale Zivilisationsform - die moderne, auf den Grundfesten der Menschenrechte und des Pluralismus ruhende Demokratie - wird sich, wiederum "wider Willen", auch in den anderen Weltregionen letztlich durchsetzen. Dazu bedarf es keiner Gewalt, sondern nur etwas Geduld. Den Senghaasschen Gesetzen der Modernisierung werden sich weder chinesische Konfuzianer und Kommunisten, islamische Fundamentalisten, indische Hindus noch Buddhisten oder Afrikaner auf lange Sicht widersetzen können.
Zum Beispiel in Ostasien wird es wahrscheinlich in ungefähr vierzig Jahren mit der soziokulturellen Rückständigkeit endgültig vorbei sein. Etwas altmodische Menschen dort, die heute noch an so etwas wie "asiatische Werte" glauben, werden belehrt, daß diese "identisch mit den europäischen Werten von gestern" sind und deswegen mehr oder weniger kurz vor dem Untergang stehen. Allerdings, der Autor, der sich überall gut auskennt, will nicht generalisieren. Eigentlich darf man weder von "dem" Konfuzianismus oder "dem" Islam oder "dem" Westen sprechen. Denn alles ist heterogen und vielfältig. In der schönen neuen Welt von morgen werden die in sich total differenten Kulturen so ungefähr den Regeln Habermasscher Diskursethik folgen und friedlich mit sich selbst und anderen in einen Dialog treten. Dabei wird es überall demokratische Staaten auf der Grundlage der Menschenrechte geben, die sich - eingedenk des Pluralismusgebots - auf Grund regionaler Besonderheiten jedoch etwa so unterscheiden wie heute Finnland und die Niederlande.
Der Autor macht es dem Leser einfach, mit seinem Zivilisationsmodell der Zukunft klarzukommen. Auch wenn durchaus häufig Worte wie "Philosophie" oder "Soziologie" benutzt werden - mit aktuellen Theorien dieser Wissenschaften zu den Begriffen "Demokratie", "Menschenrechte" oder "Modernisierung" wird man nicht übermäßig belastet. Von distanzierten Stellungnahmen dazu durch Denker wie Richard Rorty oder Niklas Luhmann wird man ganz verschont. Dafür kommt aber zum Schluß des Buches immerhin der Bundespräsident ausführlich zu Wort. So souverän, wie sich Senghaas von störendem theoretischem Ballast befreit, setzt er sich über akademische Debatten etwa in Ostasien über die Modernisierungsproblematik hinweg.
Die in den siebziger und achtziger Jahren von chinesischen Philosophen geführte Diskussion über Max Weber wird nicht erwähnt. Bei seinen Versuchen, über den ein oder anderen "Tellerrand hinaus zu schauen", setzt der Friedensforscher allerdings offenbar nicht immer die passende Brille auf. Groteske Fehlinformationen häufen sich zumindest in den auf China bezogenen Darstellungen. So rechnet Senghaas den altchinesischen Denker Dong Zhongshu aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bereits dem Neokonfuzianismus zu, obwohl diese Schule erst ein gutes Jahrtausend später in Erscheinung tritt. Und "das Daoismus-Paradigma" besteht laut Senghaas darin, daß mit der Zivilisation die Herrschaft abgeschafft werden soll, obwohl zentrale Texte dieser Schulrichtung wie etwa das Daodejing gerade die Bedingungen optimaler Herrschaft zum Thema haben.
Würde des Menschen
In den relativ umfangreichen sinologischen Teilen seines Buches verdeckt der Autor zudem bisweilen seine Quellen. In allen für seine Argumentation wichtigen Punkten folgt Senghaas den persönlichen Meinungen des Sinologen Heiner Roetz, ohne dabei - bis auf wenige Ausnahmen - diesen Bezugspunkt zu nennen. Er spricht - im Hinblick auf protodemokratische, protopluralistische oder protomenschenrechtliche Ansätze, die die alten Chinesen besessen haben sollen, auf daß sie sich nun wieder darauf besinnen mögen - wiederholt von der "Tradition der Traditionskritik", von der "Idee der Würde des Menschen kraft Menschseins" oder dem Niedergang solcher modernen Ansätze im Neokonfuzianismus. All dies - und mehr - folgt, zum Teil dem Wortlaut nach, den gar nicht oder jedenfalls nicht an den relevanten Stellen zitierten Schriften von Heiner Roetz.
Allen Demokratie-Enthusiasmus und Menschenrechts-Optimismus des Autors übertrifft noch dessen naive Beurteilung der Funktion der Massenmedien bei der Zivilisierung der Welt. Seiner Ansicht nach dürfen die Menschen in der Dritten Welt darüber froh sein, daß sie "seit einigen Jahrzehnten einem vielfältigen Medienangebot ausgesetzt (sind), das ihnen immer mehr Vergleiche im Hinblick auf Lebenserwartungen und Lebensstile, wie sie andernorts zu beobachten sind, ermöglicht". Eine derart uneingeschränkt affirmative Bewertung der vielfältigen sozialen und kulturellen Irritationen, die die westliche Informations- und Unterhaltungsindustrie in den Entwicklungsländern ausgelöst hat, zeugt entweder von Naivität oder Zynismus.
Hemmschuh der Geschichte
Senghaas hegt einen merkwürdig angepaßten Glauben an die Unparteilichkeit und Unschuld des demokratischen Pluralismus und seiner Begleiterscheinungen. Er kann sich anscheinend nicht vorstellen, daß bestimmte angeblich "pluralistische" Institutionen und Verfahren von manchen Menschen keinesfalls nur als heilbringende universelle Zivilisationsformen, sondern auch als Bedrohung ihrer Freiheit und Identität empfunden werden. Senghaas offenbart Elemente eines subtilen Dialog-Totalitarismus, wenn er etwa folgende Regel für den "interkulturellen Dialog" fordert: "Keine Konferenz mehr über den islamischen Fundamentalismus!" Allzu störrische Dialogpartner, die vielleicht gerade die Senghaasschen Bedingungen des interkulturellen Dialogs nicht anerkennen, sollen totgeschwiegen werden. Das ist gefährlich, denn wer sowieso schon der Böse ist, hat weniger Hemmungen, sich entsprechend zu verhalten.
Es könnte sein, daß die Welt von morgen, über die Senghaas mit vorauseilendem Gehorsam unterrichtet, nicht allen so gut gefällt wie ihm selbst, und zwar nicht nur ewiggestrigen Fundamentalisten, sondern vielleicht auch dem ein oder anderen kritischen Philosophen oder Soziologen. Nach Senghaas sind solche Menschen, die sich nur "wider Willen" zivilisieren lassen, allesamt gewissermaßen der Hemmschuh der Geschichte.
HANS-GEORG MÖLLER
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