Massentierhaltung, Fleischskandale, Tierversuche - unser mehr als fragwürdiger Umgang mit Tieren ist längst kein Nischenthema mehr. Die öffentlichen Diskussionen beschränken sich allerdings zumeist auf Fragen der Moral und darauf, welche moralischen Rechte und Interessen wir Tieren aufgrund ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreiben müssen. Donaldson und Kymlicka gehen weit darüber hinaus und behaupten, dass Tiere auch politische Rechte haben. Zoopolis entwirft so auf kluge wie eindringliche Weise eine neue und folgenreiche Agenda für das künftige Zusammenleben mit diesen Geschöpfen, denen wir mehr schulden als unser Mitleid.
»Zoopolis spielt das bürgerrechtliche Modell für Tiere mit überraschenden Ergebnissen auf differenzierte Weise durch. Das liest sich gut und öffnet die Augen für Lösungswege.« Markus Wild Neue Zürcher Zeitung 20131119
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dem Dackel des Nachbarn darf man nicht den Schwanz abschneiden, aber Milliarden männlicher Küken dürfen pro Jahr geschreddert werden. Auch für den Rezensenten Jens Bisky scheint es an der Zeit, sich über unser Verhältnis zu Tieren noch einmal grundsätzlich Gedanken zu machen. Die die Amerikaner Sue Donaldsen und Will Kymlicka setzen auf eine sehr radikale Revolution, sie wollen Tieren die gleichen Rechte wie Menschen zubilligen. Das hätte nicht nur die Abschaffung von Zoos und Tierversuchen zur Folge, erklärt Bisky, sondern auch das Ende von Fleisch, Eiern und Käse, Leder und Wolle nur noch in Ausnahemfällen. Und beim Städtebau sollen die Rechte von Tieren auch berücksichtigt werden. Angesichts dieser radikalen Forderungen hätte sich Bisky allerdings schon eine plausiblere Argumentation gewünscht und mehr historische Tiefenschärfe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2013Tiere II Noch selbstbewusster würde der Esel das "V" zeigen, wenn er im Besitz von staatsbürgerlichen Rechten oder einer Aufenthaltserlaubnis für seine Wahlheimat wäre. Klingt absurd, ist aber tatsächlich genau das, was die beiden Kanadier Sue Donaldson und Will Kymlicka in ihrem Buch "Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte" (Suhrkamp, 608 Seiten, 36 Euro) fordern. Lässt man sich erst mal ein auf ihre revolutionäre, verblüffende Gedankenwelt, dann erscheint einem die derzeitige Inanspruchnahme des Lebensraums und die damit verbundene Aufteilung von Rechten und Pflichten tatsächlich äußerst ungerecht.
kkr
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2014Die neuen Mitbürger
Die angelsächsische Debatte über „animal rights“ erreicht Deutschland – aus der Kritik
an Tierversuchen und Massentierhaltung wird die Forderung nach positiven Rechten für Tiere
VON JENS BISKY
Wer von dem Umgang mit Tieren nicht schweigen will, der muss über Gewalt reden, über Einsperren, Vernutzen, Quälen, Töten. Gewalt ist entweder erlaubt oder verboten oder geboten. Verboten ist es, dem Dackel des Nachbarn die Ohren abzuschneiden. Erlaubt ist es, jedes Jahr etwa fünfzig Millionen männliche Küken zu schreddern oder zu vergasen. Eier sind von ihnen nicht zu erwarten, für die Mast taugen sie nicht. Geboten ist vielerorts die Rattenbekämpfung, wer eine abwassertechnische Anlage betreibt, ist dazu verpflichtet.
Die Grenzen zwischen dem Erlaubten und Verbotenen stehen nicht ein für allemal fest. Gewalt muss legitimiert werden. Es bedarf der Gründe und der Regeln zu ihrer Anwendung. Moderne Gesellschaften verstehen sich selbst als Gesellschaften auf dem Weg in eine Zukunft mit immer weniger, möglichst wenig Gewalt. Wie sie dieses Selbstbild trotz tatsächlicher Gewalttätigkeiten aufrecht erhalten, hat Jan Philipp Reemtsma in seiner klassischen Studie „Vertrauen und Gewalt“ (2008) gezeigt. Er spricht ausschließlich von der Gewalt gegen Menschen, aber alle Versuche, Gewalt gegen Tiere einzudämmen oder ganz zu verbieten, stehen in der kulturellen Tradition der Moderne, die Reemtsma rekonstruiert. Auch deswegen wirken sie in vielem überzeugend.
Das Ohrfeigen von Dienstboten wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts untersagt, Vergewaltigung in der Ehe oder Züchtigung der eigenen Kinder stehen noch nicht so lange unter Strafe. Seit den Siebzigerjahren werden die Stimmen immer lauter, die ein Ende der Gewalt gegen Tiere fordern. Dies scheint ein weiterer Schritt auf dem modernen Sonderweg in eine weitgehend gewaltfreie Gesellschaft.
Drei neue Bücher zur Tierethik lassen den Leser dennoch in einem Zustand der Ratlosigkeit zurück. Wahrscheinlich spiegelt diese Ratlosigkeit die tatsächliche Lage: trotz vieler Tierschutz-Gesetze, trotz gewachsener moralischer Empfindlichkeit gegenüber den Routinen etwa der Massentierhaltung, bessert sich die Situation der Tiere kaum. Die Tierschutzbewegung stecke in einer Sackgasse, konstatieren die Schriftstellerin Sue Donaldson und der politische Philosoph Will Kymlicka in ihrem kecken Entwurf „Zoopolis“. Unaufhörlich wächst die Weltbevölkerung, immer kleiner werden daher die Lebensräume für wild lebende Tiere. Die Fleischproduktion wächst, sie hat sich seit 1980 verdreifacht. In jedem Jahr töten wir etwa 56 Milliarden Tiere zu Zwecken der Ernährung (im Wasser lebende nicht eingerechnet), und es werden immer mehr. Ist das legitim? Ist das zu rechtfertigen? Nein! Darin sind sich die Autoren der drei Bücher einig. Sie nutzen, wenn auch auf verschiedene Weise, moralphilosophische Argumente, um für ihr politisches Ziel zu werben: Tiere sollen nicht länger für menschliche Zwecke genutzt werden. Es sind Bücher von Aktivisten einer Brüderlichkeitsethik, die auch Tiere einschließen soll.
Die Journalistin Hilal Sezgin betreut in der Lüneburger Heide einen Gnadenhof mit Hühnern und Schafen. In einer Mischung aus Geschichten, Beobachtungen und ethischen Überlegungen erklärt sie, warum Tiere, zumindest die Wirbeltiere mit zentralem Nervensystem, ein Recht darauf haben, „moralisch berücksichtigt zu werden“. Es zählt das Schmerzempfinden, es zählt die Individualität des einzelnen Tiers. Das klassische Zitat dazu stammt von Jeremy Bentham (1748-1832): „Die Frage ist nicht: Können sie denken? Oder: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?“ Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sie leiden können, dass sie leiden. Also dürfen wir sie, so Hilal Sezgin, weder quälen noch töten noch nutzen. Sie lässt wie die Mehrzahl der Tierethiker die utilitaristischen Ursprünge hinter sich. Mit Peter Singer, der 1975 sein Buch „Animal Liberation“ veröffentlichte und damit die neuere tierethische Debatte anregte, hat sie nur noch wenig gemein.
Wer sich für die Geschichte der Diskussion interessiert, findet in der von Friederike Schmitz herausgegebenen Textsammlung „Tierethik“ reichlich Material – und wird feststellen, wie verschieden die philosophischen Antworten auf moralische Fragen ausfallen. Unbedingt empfehlen kann man den Aufsatz „Warum Tiere moralisch nicht zählen“ von Peter Carruthers. Er will Tieren keine Rechte zugestehen, da sie keine rationalen Akteure seien – aber er findet Gründe, Grausamkeit gegenüber Tieren zu kritisieren. Ist er ein „Speziesist“, also einer, der Menschen Vorrechte gegenüber Tieren zuspricht, weil sie der Spezies Mensch angehören? Der Begriff „Speziesist“ ist ein Analogon zu „Rassist“.
Hilal Sezgin nutzt gern Argumente der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum, die in der Textsammlung vertreten ist. Ihr von Aristoteles inspirierter „Fähigkeitenansatz“ geht vom „ethisch geprägten Staunen angesichts jeder einzelnen Form tierischen Lebens“ aus – und fragt, wie wir dem „Streben der Tiere nach einem gedeihlichen Leben besser gerecht werden“ können. Medizinische Tierversuche hält sie allerdings für vertretbar.
Sue Donaldson und Will Kymlicka wollen Tieren nicht allein negative Rechte zugestehen, sondern sie mit positiven Bürgerrechten ausstatten: Domestizierte Tiere seien wie Staatsbürger zu behandeln, wilde Tier wie souveräne Gemeinschaften, die vielen Tiere im Schwellenbereich – Tauben, Ratten, Füchse in der Stadt – haben für sie ein Anrecht auf den Einwohnerstatus. Strategisch ist dies eine geschickte Entscheidung: Die Tierrechtsdebatte wird an die ausdifferenzierte akademische Diskussion über Bürgerrechte gekoppelt.
Die Tiere werden dabei im Grunde wie Menschen behandelt, mal mit Behinderten, mal mit Kindern, mal mit Sklaven, mal mit Migranten verglichen. Während Hilal Sezgins Buch dort stark ist, wo die Autorin an unsere Empathie appelliert, liegt die Stärke von Donaldson und Kymlicka in ihrem radikalen Utopismus. Sie wollen nicht von Fürsorge und Umweltschutz reden, sie wollen den großen Wandel. Im Unterschied zu anderen Aktivisten geht es ihnen nicht darum, Tiere in Ruhe zu lassen, sondern mit ihnen aufgrund eines neuen Gesellschaftsvertrags friedlich und gerecht zusammenzuleben.
Je länger man in den drei Büchern liest, desto größer wird freilich der Zweifel, ob die Rede von den Tierrechten nicht das Spezifische des Themas verfehlt. Zugunsten politischer Schlagkraft wird dem Leser einiges Unplausible zugemutet. Das beginnt mit den Hinweisen auf Behinderte, mit den Parallelen zur Sklavenbefreiung. Diese Analogien taugen wenig, sie dienen hauptsächlich der rhetorischen Aufrüstung. Ein Tier im Labor oder im Schlachthof weckt mein Mitleid. Viele Behinderte aber lehnen Mitleid mit sehr guten Gründen ab, es verletzt auf eine infame, kaum zu parierende Weise ihre Würde. Jeder von uns kann im Handumdrehen Bewegungs- oder Sprachfähigkeit verlieren. Zur Maus wird man nur in guten Novellen. Jeder von uns kann versklavt werden. Die Befreiung der Sklaven war entscheidend auch deren Werk. Die „Befreiung der Tiere“, wenn man denn so pathetisch sprechen will, gelänge allein durch eine Selbstverpflichtung der Menschen. Um nicht missverstanden zu werden: Missglückte Analogien, schiefe Argumente sprechen nicht gegen die Ziele der Autoren. Ein Buch gegen das Foltern mag noch so schlecht sein, die Folter ist dadurch nicht gerechtfertigt.
Wie die Autoren mit Tierversuchen zu medizinischen Zwecken umgehen, irritiert. Hilal Sezgin schreibt, sie sei davon ausgegangen, gute Argumente dafür zu finden, was aber nicht gelang. Leider will sie sich nicht auf Details der Empirie einlassen, geht es doch um Ethik. Wo aber hätte Empirie ihr Recht, wenn nicht hier? Muss man nicht abwägen? Muss man davor nicht wissen, welche Erkenntnisse in Versuchen gewonnen wurden, welche Alternativen es gibt? Immerhin schildert Sezgin überzeugend, dass die Versuche notwendig mit Leid und Schmerzen einhergehen. Einzelfallabwägung ist mit der Logik der experimentellen Forschung schwer zu vereinbaren. Tiere müssen bereitgestellt werden, Forschung muss auch irren können. Wer aber eine krebskranke Freundin oder einen herzkranken Bruder hat, wird die Auskunft, das gehöre „gewissermaßen zur Tragik biologischen Lebens und Sterbens“ für eine Feuilletonistenfloskel halten. Donaldson und Kymlicka argumentieren: So wie uns Medikamente aus Menschenversuchen nicht fehlen, werden wir Medikamente und Wissen aus Tierversuchen nach einer Weile nicht vermissen. Muss das größere Mitleid auf der einen Seite mit Kaltherzigkeit auf der anderen einhergehen? Das Argument ist konsequent. Wer von Grundrechten spricht, kann keine Einzelfallabwägung zulassen, höchstens die Tötung einer Giftschlange im Akt der Notwehr.
Leider stellen die Autoren kaum historische Fragen. Die Tierschutzbewegung hat sich im 19. Jahrhundert besonders der Kutschpferde angenommen. Das entscheidende Datum in der Emanzipationsgeschichte der Pferde dürfte dann die Erfindung des Verbrennungsmotors gewesen sein. In der Massentierhaltung dagegen verschlimmern die Fortschritte der Technik das Los der Tiere. Wenn es denn stimmt, dass wir darauf verzichten könnten, weil die Menschheit auch vegan zu ernähren wäre, dann würde dieser Schritt eine der größten historischen Zäsuren bedeuten. Dazu wäre doch wohl mehr zu sagen, als sich in die Frage zu verbeißen, ob man Katzen das Fleisch abgewöhnen soll.
Summieren wir kurz: keine Zoos, keine Zirkustiere, kein Fleischverzehr, Eier und Wolle nur in Ausnahmefällen, kein Käse, wie wir ihn kennen, nirgendwo Zugtiere oder Lastesel, Rücksichtnahme auf Tiere in allen Fragen des Städtebaus, keine Jagd, kein Stierkampf. Es wäre eine vollkommen andere Welt. In der „Übergangszeit“, von der Donaldson und Kymlicka ausgehen, dürften die internationalen Beziehungen nicht einfacher werden. Die Kosten würden die der deutschen „Energiewende“ gewiss übersteigen. Wer trägt sie? Wie organisiert man so etwas politisch? Wie findet man dafür Zustimmung? Wollen wir Ratten in Getreidesilos dulden?
Donaldson und Kymlicka skizzieren ein leicht apokalyptisches Szenario: Wenn die Ressourcen erschöpft sind, wenn Wasser und Land nicht mehr ausreichen, um acht Milliarden Menschen mit Fleisch zu versorgen – vielleicht 2025 –, dann müssen die Tierrechtler mit den richtigen Konzepten bereitstehen. Hilal Sezgin setzt auf persönliche Verhaltensänderung, wie sie überhaupt offener, alltagsnäher argumentiert. Die neue Lebensweise werde auch „befriedigender für uns Menschen sein“. Möglich. Gewiss ist, dass sie mit Ausweichbewegungen und Verteilungskämpfen einhergehen wird. Mehr Sinn für Konflikte, für moralische Dilemmata, mehr Wissen darüber, warum Menschen sich verhalten, wie sie sich verhalten, täte der Diskussion gut. Sezgin hat ja Recht: Daraus, dass etwas war, immer so gemacht wurde, folgt moralphilosophisch wenig. Aber kulturell, politisch, historisch folgt doch wohl einiges daraus.
Die beste Einführung in die Diskussion bleibt J.M. Coetzees Elizabeth-Costello-Geschichte „Das Leben der Tiere“ (dt. 2000) . Als stärkstes Argument in den Gesprächen, die in Aporien enden, erscheint hier das Mitgefühl. Und dieses ist es, das die Gewalt gegen Tiere unerträglich macht. Es geht dabei um unser moralisches Selbstbild und die Frage, an welche gesellschaftlichen Verabredungen wir uns halten wollen. Eben dies, das „speziezistische“ Eigeninteresse macht das Thema so interessant.
Gewalt kann geboten sein,
aber sie muss legitimiert werden –
auch die Gewalt gegen Tiere
Die „Zoopolis“-Autoren fassen ein
großes Umerziehungsprogramm
ins Auge – aber nur sehr vage
„Tiere sind empfindungsfähige Wesen mit eigenen Bedürfnissen und biologischen Kompetenzen. Als solchen steht ihnen offenbar ein Platz innerhalb der Moral zu; nur wissen wir nicht genau, welcher.“ (Hilal Sezgin)
München, November 1991, vor einer Metzgerei im Schlachthofviertel, Thalkirchner Straße. Foto: Regina Schmeken
Hilal Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen. Verlag C.H. Beck, München 2014. 301 Seiten, 16,95 Euro.
Friederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik. Grundlagentexte. Suhrkamp Verlag,
stw 2082, Berlin 2014.
589 Seiten, 24 Euro.
Sue Donaldson,
Will Kymlicka: Zoopolis.
Eine politische Theorie der Tierrechte. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 608 Seiten, 36 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die angelsächsische Debatte über „animal rights“ erreicht Deutschland – aus der Kritik
an Tierversuchen und Massentierhaltung wird die Forderung nach positiven Rechten für Tiere
VON JENS BISKY
Wer von dem Umgang mit Tieren nicht schweigen will, der muss über Gewalt reden, über Einsperren, Vernutzen, Quälen, Töten. Gewalt ist entweder erlaubt oder verboten oder geboten. Verboten ist es, dem Dackel des Nachbarn die Ohren abzuschneiden. Erlaubt ist es, jedes Jahr etwa fünfzig Millionen männliche Küken zu schreddern oder zu vergasen. Eier sind von ihnen nicht zu erwarten, für die Mast taugen sie nicht. Geboten ist vielerorts die Rattenbekämpfung, wer eine abwassertechnische Anlage betreibt, ist dazu verpflichtet.
Die Grenzen zwischen dem Erlaubten und Verbotenen stehen nicht ein für allemal fest. Gewalt muss legitimiert werden. Es bedarf der Gründe und der Regeln zu ihrer Anwendung. Moderne Gesellschaften verstehen sich selbst als Gesellschaften auf dem Weg in eine Zukunft mit immer weniger, möglichst wenig Gewalt. Wie sie dieses Selbstbild trotz tatsächlicher Gewalttätigkeiten aufrecht erhalten, hat Jan Philipp Reemtsma in seiner klassischen Studie „Vertrauen und Gewalt“ (2008) gezeigt. Er spricht ausschließlich von der Gewalt gegen Menschen, aber alle Versuche, Gewalt gegen Tiere einzudämmen oder ganz zu verbieten, stehen in der kulturellen Tradition der Moderne, die Reemtsma rekonstruiert. Auch deswegen wirken sie in vielem überzeugend.
Das Ohrfeigen von Dienstboten wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts untersagt, Vergewaltigung in der Ehe oder Züchtigung der eigenen Kinder stehen noch nicht so lange unter Strafe. Seit den Siebzigerjahren werden die Stimmen immer lauter, die ein Ende der Gewalt gegen Tiere fordern. Dies scheint ein weiterer Schritt auf dem modernen Sonderweg in eine weitgehend gewaltfreie Gesellschaft.
Drei neue Bücher zur Tierethik lassen den Leser dennoch in einem Zustand der Ratlosigkeit zurück. Wahrscheinlich spiegelt diese Ratlosigkeit die tatsächliche Lage: trotz vieler Tierschutz-Gesetze, trotz gewachsener moralischer Empfindlichkeit gegenüber den Routinen etwa der Massentierhaltung, bessert sich die Situation der Tiere kaum. Die Tierschutzbewegung stecke in einer Sackgasse, konstatieren die Schriftstellerin Sue Donaldson und der politische Philosoph Will Kymlicka in ihrem kecken Entwurf „Zoopolis“. Unaufhörlich wächst die Weltbevölkerung, immer kleiner werden daher die Lebensräume für wild lebende Tiere. Die Fleischproduktion wächst, sie hat sich seit 1980 verdreifacht. In jedem Jahr töten wir etwa 56 Milliarden Tiere zu Zwecken der Ernährung (im Wasser lebende nicht eingerechnet), und es werden immer mehr. Ist das legitim? Ist das zu rechtfertigen? Nein! Darin sind sich die Autoren der drei Bücher einig. Sie nutzen, wenn auch auf verschiedene Weise, moralphilosophische Argumente, um für ihr politisches Ziel zu werben: Tiere sollen nicht länger für menschliche Zwecke genutzt werden. Es sind Bücher von Aktivisten einer Brüderlichkeitsethik, die auch Tiere einschließen soll.
Die Journalistin Hilal Sezgin betreut in der Lüneburger Heide einen Gnadenhof mit Hühnern und Schafen. In einer Mischung aus Geschichten, Beobachtungen und ethischen Überlegungen erklärt sie, warum Tiere, zumindest die Wirbeltiere mit zentralem Nervensystem, ein Recht darauf haben, „moralisch berücksichtigt zu werden“. Es zählt das Schmerzempfinden, es zählt die Individualität des einzelnen Tiers. Das klassische Zitat dazu stammt von Jeremy Bentham (1748-1832): „Die Frage ist nicht: Können sie denken? Oder: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?“ Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sie leiden können, dass sie leiden. Also dürfen wir sie, so Hilal Sezgin, weder quälen noch töten noch nutzen. Sie lässt wie die Mehrzahl der Tierethiker die utilitaristischen Ursprünge hinter sich. Mit Peter Singer, der 1975 sein Buch „Animal Liberation“ veröffentlichte und damit die neuere tierethische Debatte anregte, hat sie nur noch wenig gemein.
Wer sich für die Geschichte der Diskussion interessiert, findet in der von Friederike Schmitz herausgegebenen Textsammlung „Tierethik“ reichlich Material – und wird feststellen, wie verschieden die philosophischen Antworten auf moralische Fragen ausfallen. Unbedingt empfehlen kann man den Aufsatz „Warum Tiere moralisch nicht zählen“ von Peter Carruthers. Er will Tieren keine Rechte zugestehen, da sie keine rationalen Akteure seien – aber er findet Gründe, Grausamkeit gegenüber Tieren zu kritisieren. Ist er ein „Speziesist“, also einer, der Menschen Vorrechte gegenüber Tieren zuspricht, weil sie der Spezies Mensch angehören? Der Begriff „Speziesist“ ist ein Analogon zu „Rassist“.
Hilal Sezgin nutzt gern Argumente der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum, die in der Textsammlung vertreten ist. Ihr von Aristoteles inspirierter „Fähigkeitenansatz“ geht vom „ethisch geprägten Staunen angesichts jeder einzelnen Form tierischen Lebens“ aus – und fragt, wie wir dem „Streben der Tiere nach einem gedeihlichen Leben besser gerecht werden“ können. Medizinische Tierversuche hält sie allerdings für vertretbar.
Sue Donaldson und Will Kymlicka wollen Tieren nicht allein negative Rechte zugestehen, sondern sie mit positiven Bürgerrechten ausstatten: Domestizierte Tiere seien wie Staatsbürger zu behandeln, wilde Tier wie souveräne Gemeinschaften, die vielen Tiere im Schwellenbereich – Tauben, Ratten, Füchse in der Stadt – haben für sie ein Anrecht auf den Einwohnerstatus. Strategisch ist dies eine geschickte Entscheidung: Die Tierrechtsdebatte wird an die ausdifferenzierte akademische Diskussion über Bürgerrechte gekoppelt.
Die Tiere werden dabei im Grunde wie Menschen behandelt, mal mit Behinderten, mal mit Kindern, mal mit Sklaven, mal mit Migranten verglichen. Während Hilal Sezgins Buch dort stark ist, wo die Autorin an unsere Empathie appelliert, liegt die Stärke von Donaldson und Kymlicka in ihrem radikalen Utopismus. Sie wollen nicht von Fürsorge und Umweltschutz reden, sie wollen den großen Wandel. Im Unterschied zu anderen Aktivisten geht es ihnen nicht darum, Tiere in Ruhe zu lassen, sondern mit ihnen aufgrund eines neuen Gesellschaftsvertrags friedlich und gerecht zusammenzuleben.
Je länger man in den drei Büchern liest, desto größer wird freilich der Zweifel, ob die Rede von den Tierrechten nicht das Spezifische des Themas verfehlt. Zugunsten politischer Schlagkraft wird dem Leser einiges Unplausible zugemutet. Das beginnt mit den Hinweisen auf Behinderte, mit den Parallelen zur Sklavenbefreiung. Diese Analogien taugen wenig, sie dienen hauptsächlich der rhetorischen Aufrüstung. Ein Tier im Labor oder im Schlachthof weckt mein Mitleid. Viele Behinderte aber lehnen Mitleid mit sehr guten Gründen ab, es verletzt auf eine infame, kaum zu parierende Weise ihre Würde. Jeder von uns kann im Handumdrehen Bewegungs- oder Sprachfähigkeit verlieren. Zur Maus wird man nur in guten Novellen. Jeder von uns kann versklavt werden. Die Befreiung der Sklaven war entscheidend auch deren Werk. Die „Befreiung der Tiere“, wenn man denn so pathetisch sprechen will, gelänge allein durch eine Selbstverpflichtung der Menschen. Um nicht missverstanden zu werden: Missglückte Analogien, schiefe Argumente sprechen nicht gegen die Ziele der Autoren. Ein Buch gegen das Foltern mag noch so schlecht sein, die Folter ist dadurch nicht gerechtfertigt.
Wie die Autoren mit Tierversuchen zu medizinischen Zwecken umgehen, irritiert. Hilal Sezgin schreibt, sie sei davon ausgegangen, gute Argumente dafür zu finden, was aber nicht gelang. Leider will sie sich nicht auf Details der Empirie einlassen, geht es doch um Ethik. Wo aber hätte Empirie ihr Recht, wenn nicht hier? Muss man nicht abwägen? Muss man davor nicht wissen, welche Erkenntnisse in Versuchen gewonnen wurden, welche Alternativen es gibt? Immerhin schildert Sezgin überzeugend, dass die Versuche notwendig mit Leid und Schmerzen einhergehen. Einzelfallabwägung ist mit der Logik der experimentellen Forschung schwer zu vereinbaren. Tiere müssen bereitgestellt werden, Forschung muss auch irren können. Wer aber eine krebskranke Freundin oder einen herzkranken Bruder hat, wird die Auskunft, das gehöre „gewissermaßen zur Tragik biologischen Lebens und Sterbens“ für eine Feuilletonistenfloskel halten. Donaldson und Kymlicka argumentieren: So wie uns Medikamente aus Menschenversuchen nicht fehlen, werden wir Medikamente und Wissen aus Tierversuchen nach einer Weile nicht vermissen. Muss das größere Mitleid auf der einen Seite mit Kaltherzigkeit auf der anderen einhergehen? Das Argument ist konsequent. Wer von Grundrechten spricht, kann keine Einzelfallabwägung zulassen, höchstens die Tötung einer Giftschlange im Akt der Notwehr.
Leider stellen die Autoren kaum historische Fragen. Die Tierschutzbewegung hat sich im 19. Jahrhundert besonders der Kutschpferde angenommen. Das entscheidende Datum in der Emanzipationsgeschichte der Pferde dürfte dann die Erfindung des Verbrennungsmotors gewesen sein. In der Massentierhaltung dagegen verschlimmern die Fortschritte der Technik das Los der Tiere. Wenn es denn stimmt, dass wir darauf verzichten könnten, weil die Menschheit auch vegan zu ernähren wäre, dann würde dieser Schritt eine der größten historischen Zäsuren bedeuten. Dazu wäre doch wohl mehr zu sagen, als sich in die Frage zu verbeißen, ob man Katzen das Fleisch abgewöhnen soll.
Summieren wir kurz: keine Zoos, keine Zirkustiere, kein Fleischverzehr, Eier und Wolle nur in Ausnahmefällen, kein Käse, wie wir ihn kennen, nirgendwo Zugtiere oder Lastesel, Rücksichtnahme auf Tiere in allen Fragen des Städtebaus, keine Jagd, kein Stierkampf. Es wäre eine vollkommen andere Welt. In der „Übergangszeit“, von der Donaldson und Kymlicka ausgehen, dürften die internationalen Beziehungen nicht einfacher werden. Die Kosten würden die der deutschen „Energiewende“ gewiss übersteigen. Wer trägt sie? Wie organisiert man so etwas politisch? Wie findet man dafür Zustimmung? Wollen wir Ratten in Getreidesilos dulden?
Donaldson und Kymlicka skizzieren ein leicht apokalyptisches Szenario: Wenn die Ressourcen erschöpft sind, wenn Wasser und Land nicht mehr ausreichen, um acht Milliarden Menschen mit Fleisch zu versorgen – vielleicht 2025 –, dann müssen die Tierrechtler mit den richtigen Konzepten bereitstehen. Hilal Sezgin setzt auf persönliche Verhaltensänderung, wie sie überhaupt offener, alltagsnäher argumentiert. Die neue Lebensweise werde auch „befriedigender für uns Menschen sein“. Möglich. Gewiss ist, dass sie mit Ausweichbewegungen und Verteilungskämpfen einhergehen wird. Mehr Sinn für Konflikte, für moralische Dilemmata, mehr Wissen darüber, warum Menschen sich verhalten, wie sie sich verhalten, täte der Diskussion gut. Sezgin hat ja Recht: Daraus, dass etwas war, immer so gemacht wurde, folgt moralphilosophisch wenig. Aber kulturell, politisch, historisch folgt doch wohl einiges daraus.
Die beste Einführung in die Diskussion bleibt J.M. Coetzees Elizabeth-Costello-Geschichte „Das Leben der Tiere“ (dt. 2000) . Als stärkstes Argument in den Gesprächen, die in Aporien enden, erscheint hier das Mitgefühl. Und dieses ist es, das die Gewalt gegen Tiere unerträglich macht. Es geht dabei um unser moralisches Selbstbild und die Frage, an welche gesellschaftlichen Verabredungen wir uns halten wollen. Eben dies, das „speziezistische“ Eigeninteresse macht das Thema so interessant.
Gewalt kann geboten sein,
aber sie muss legitimiert werden –
auch die Gewalt gegen Tiere
Die „Zoopolis“-Autoren fassen ein
großes Umerziehungsprogramm
ins Auge – aber nur sehr vage
„Tiere sind empfindungsfähige Wesen mit eigenen Bedürfnissen und biologischen Kompetenzen. Als solchen steht ihnen offenbar ein Platz innerhalb der Moral zu; nur wissen wir nicht genau, welcher.“ (Hilal Sezgin)
München, November 1991, vor einer Metzgerei im Schlachthofviertel, Thalkirchner Straße. Foto: Regina Schmeken
Hilal Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen. Verlag C.H. Beck, München 2014. 301 Seiten, 16,95 Euro.
Friederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik. Grundlagentexte. Suhrkamp Verlag,
stw 2082, Berlin 2014.
589 Seiten, 24 Euro.
Sue Donaldson,
Will Kymlicka: Zoopolis.
Eine politische Theorie der Tierrechte. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 608 Seiten, 36 Euro.
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