Einem klassischen ästhetischen Modell zufolge formt der Künstler eine von ihm vorgefundene Materie, formt also die Natur zu Kunst, gibt der Materie Form. Die Skulptur folgt diesem Modell, aber auch die Poesie wird stets in einer solcher Perspektive gesehen. Denn was unterscheidet ein Gedicht von einem Nicht-Gedicht, die Poesie von dem, was nicht Poesie ist?Auch wenn in der Geschichte verschiedene Versuche, das Wesen der Poesie exakt zu bestimmen, sich nach und nach als unhaltbar herausgestellt haben, bleibt am Ende doch immer eine implizite Vorstellung von menschlicher Tätigkeit - der Gedanke, dass der Dichter auf irgendeine Weise die nicht poetische Materie organisiert und zu Poesie macht. Gustav Sjöberg geht in diesem poetischen Essay in Rückgriff auf Gedanken und Konzepte u. a. von Marsilio Ficino, Giordano Bruno, Dante Alighieri, Ernst Bloch der grundlegenden und auf Aristoteles zurückzuführenden Unterscheidung von Form und Materie nach sowie ihrem noch immer ungebrochenen Einfluss auf Begriffe wie »Kunst« und »Poesie«, die Sjöberg mit diesem Essay aus ihrem gedanklichen Käfig befreit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2020Poetischer Wildwuchs
Gustav Sjöberg plädiert für Naturphilologie
Im Jahr 1973 erklärte der italienische Künstler Gianfranco Baruchello, der im Umland Roms einen landwirtschaftlichen Betrieb gegründet hatte, den Anbau von Kartoffeln zum künstlerischen Experiment. Mit dieser Erweiterung des Kunstbegriffs schloss Baruchello, ein enger Freund Duchamps, nicht nur Gebrauchswert und Tauschwert miteinander kurz; er verwischte zugleich jene Grenzen, die für gewöhnlich Kultur und Natur, Werk und Nicht-Werk voneinander trennen: Das Keimen der Kartoffeln, ihre Aussaat und Ernte münden genauso wenig in ein fixierbares Werk, wie sie sich als Ausdruck eines individuellen Subjekts deuten lassen.
In einem schmalen, aber gehaltvollen, eigens auf Deutsch verfassten Band plädiert der schwedische Dichter und Übersetzer Gustav Sjöberg für ein Schreiben, "das, selbst natur, sich nicht mehr unterscheidet von den kartoffeln, die baruchello anbaute". Ihm geht es buchstäblich "um eine bewegung von der kartoffel als poesie hin zur poesie als kartoffel". Oder, wie es an anderer Stelle seines ebenso ideenreichen wie historisch weit ausgreifenden Essays heißt, um eine Ästhetik, die keinen Trennstrich zieht "zwischen weidenden kühen und gedichte schreibenden dichtern". Die Komik, die in solchen Zuspitzungen liegt, ist beabsichtigt: Was Sjöberg mit seinen kühnen Analogien verunsichern will, ist ein seit der Antike vorherrschendes Verständnis der Beziehung von Kunst und Natur.
Noch immer gilt der schöpferische Akt als die formende Umgestaltung einer passiven Materie. Diese erhielte ihre Wirklichkeit allein durch äußere Bestimmung: Erst durch den Töpfer wird der Lehm zur Vase. Dass ein Kunstwerk der Ausdruck seines Schöpfers sei, dass es mit anderen individuellen Leistungen verglichen und von Spezialisten bewertet werden könne, all dies sind Auffassungen, welche die Trennung von Form und Materie voraussetzen.
Jede Kultur, die auf diesem Gegensatz beruht, tendiert Sjöberg zufolge dazu, die Autorität einiger exemplarischer Individuen und der von ihnen verkörperten Werte über das "anarchische wachsen der sprache und der natur" zu stellen. Diese Mythologie des Autors und seines Werkes sei von der klassischen Poesie seit jeher befördert worden. Ihr entspreche auf einer ökonomischen Ebene die Verwandlung der Literatur in eine "marktwirtschaftliche realität", ihre Einbindung in eine Gesellschaft des Spektakels.
Ausgehend von dieser aufs Ganze zielenden Diagnose hätte sich der Autor in blasse Verallgemeinerungen oder apokalyptische Beschwörungen verstricken können. Seine spekulative Phantasie rettet ihn davor. Ohne je den Gestus des poeta doctus zu bemühen, breitet er eine Fülle an philosophischen und literarischen Quellen aus, die er mit Sinn für historische Unterschiede in überraschende Konstellationen bringt: Die heterodoxen Aristoteles-Deutungen des Averroes und der italienischen Renaissance treffen auf Positionen der historischen Avantgarde und der zeitgenössischen Dichtung.
Sjöbergs wichtigster Gesprächspartner ist jedoch Giordano Bruno, aus dessen wild wuchernden, alle Gattungen sprengenden Schriften er freilich nur das behält, was er zur Entwicklung seines eigenen Begriffs einer "blühenden allmaterie" benötigt: Die kosmische Vielheit der Welten - für Bruno das notwendige Korrelat eines auf unendliche Weise unendlichen Prinzips, das sich in seiner Selbstverschwendung manifestiert - bleibt ebenso ausgeklammert wie die Frage nach seinem Pantheismus (wenn es denn überhaupt einer ist). Aber Sjöberg geht es auch nicht um eine exakte Wiedergabe von Brunos Denken, sondern um dessen Aktualität in Hinblick auf ein "naturphilologisches" Schreiben. Ein solches Schreiben, das sich allen Kategorien der Autorschaft, der Schöpfung oder Arbeit entzöge, behandle die Natur nicht länger als ein ihm äußerliches Objekt. Es zerstreue sich vielmehr in ihr als ein Moment ihrer Selbstvermittlung.
Sjöberg hat diesen Augenblick des Verschwindens durch die Vielstimmigkeit seines Texts, durch seinen Montagecharakter und den Rhythmus der Zitate vorwegzunehmen versucht. Damit hat er es seinen Lesern nicht immer leichtgemacht. Aber er vermittelt ihnen so zumindest den Eindruck einer Poetik, in der "ein fisch, ein farnkraut und ein dichter gemeinsame sache machen" können.
MAXIMILIAN GILLESSEN
Gustav Sjöberg:
"zu der blühenden
allmaterie". über die
natur der poesie.
Matthes und Seitz
Verlag, Berlin 2020.
144 S., br., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gustav Sjöberg plädiert für Naturphilologie
Im Jahr 1973 erklärte der italienische Künstler Gianfranco Baruchello, der im Umland Roms einen landwirtschaftlichen Betrieb gegründet hatte, den Anbau von Kartoffeln zum künstlerischen Experiment. Mit dieser Erweiterung des Kunstbegriffs schloss Baruchello, ein enger Freund Duchamps, nicht nur Gebrauchswert und Tauschwert miteinander kurz; er verwischte zugleich jene Grenzen, die für gewöhnlich Kultur und Natur, Werk und Nicht-Werk voneinander trennen: Das Keimen der Kartoffeln, ihre Aussaat und Ernte münden genauso wenig in ein fixierbares Werk, wie sie sich als Ausdruck eines individuellen Subjekts deuten lassen.
In einem schmalen, aber gehaltvollen, eigens auf Deutsch verfassten Band plädiert der schwedische Dichter und Übersetzer Gustav Sjöberg für ein Schreiben, "das, selbst natur, sich nicht mehr unterscheidet von den kartoffeln, die baruchello anbaute". Ihm geht es buchstäblich "um eine bewegung von der kartoffel als poesie hin zur poesie als kartoffel". Oder, wie es an anderer Stelle seines ebenso ideenreichen wie historisch weit ausgreifenden Essays heißt, um eine Ästhetik, die keinen Trennstrich zieht "zwischen weidenden kühen und gedichte schreibenden dichtern". Die Komik, die in solchen Zuspitzungen liegt, ist beabsichtigt: Was Sjöberg mit seinen kühnen Analogien verunsichern will, ist ein seit der Antike vorherrschendes Verständnis der Beziehung von Kunst und Natur.
Noch immer gilt der schöpferische Akt als die formende Umgestaltung einer passiven Materie. Diese erhielte ihre Wirklichkeit allein durch äußere Bestimmung: Erst durch den Töpfer wird der Lehm zur Vase. Dass ein Kunstwerk der Ausdruck seines Schöpfers sei, dass es mit anderen individuellen Leistungen verglichen und von Spezialisten bewertet werden könne, all dies sind Auffassungen, welche die Trennung von Form und Materie voraussetzen.
Jede Kultur, die auf diesem Gegensatz beruht, tendiert Sjöberg zufolge dazu, die Autorität einiger exemplarischer Individuen und der von ihnen verkörperten Werte über das "anarchische wachsen der sprache und der natur" zu stellen. Diese Mythologie des Autors und seines Werkes sei von der klassischen Poesie seit jeher befördert worden. Ihr entspreche auf einer ökonomischen Ebene die Verwandlung der Literatur in eine "marktwirtschaftliche realität", ihre Einbindung in eine Gesellschaft des Spektakels.
Ausgehend von dieser aufs Ganze zielenden Diagnose hätte sich der Autor in blasse Verallgemeinerungen oder apokalyptische Beschwörungen verstricken können. Seine spekulative Phantasie rettet ihn davor. Ohne je den Gestus des poeta doctus zu bemühen, breitet er eine Fülle an philosophischen und literarischen Quellen aus, die er mit Sinn für historische Unterschiede in überraschende Konstellationen bringt: Die heterodoxen Aristoteles-Deutungen des Averroes und der italienischen Renaissance treffen auf Positionen der historischen Avantgarde und der zeitgenössischen Dichtung.
Sjöbergs wichtigster Gesprächspartner ist jedoch Giordano Bruno, aus dessen wild wuchernden, alle Gattungen sprengenden Schriften er freilich nur das behält, was er zur Entwicklung seines eigenen Begriffs einer "blühenden allmaterie" benötigt: Die kosmische Vielheit der Welten - für Bruno das notwendige Korrelat eines auf unendliche Weise unendlichen Prinzips, das sich in seiner Selbstverschwendung manifestiert - bleibt ebenso ausgeklammert wie die Frage nach seinem Pantheismus (wenn es denn überhaupt einer ist). Aber Sjöberg geht es auch nicht um eine exakte Wiedergabe von Brunos Denken, sondern um dessen Aktualität in Hinblick auf ein "naturphilologisches" Schreiben. Ein solches Schreiben, das sich allen Kategorien der Autorschaft, der Schöpfung oder Arbeit entzöge, behandle die Natur nicht länger als ein ihm äußerliches Objekt. Es zerstreue sich vielmehr in ihr als ein Moment ihrer Selbstvermittlung.
Sjöberg hat diesen Augenblick des Verschwindens durch die Vielstimmigkeit seines Texts, durch seinen Montagecharakter und den Rhythmus der Zitate vorwegzunehmen versucht. Damit hat er es seinen Lesern nicht immer leichtgemacht. Aber er vermittelt ihnen so zumindest den Eindruck einer Poetik, in der "ein fisch, ein farnkraut und ein dichter gemeinsame sache machen" können.
MAXIMILIAN GILLESSEN
Gustav Sjöberg:
"zu der blühenden
allmaterie". über die
natur der poesie.
Matthes und Seitz
Verlag, Berlin 2020.
144 S., br., 15,- [Euro].
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