Neue Gedichte von Günter Kunert: "Einer der sich schreibend an den Verhältnissen reibt, um die Welt zu erhalten." Carsten Hueck, Deutschlandfunk
"Barfuß im Sand / des Strandes lebt die Kindheit / weiter. Großmutter, erzähl mir / ein Märchen, ehe du gestorben wirst. / Ich war Pinocchio auf Zeit, / mein Herz hölzern beim Anblick / verstummter Menschen und / schweigender Ruinen." Günter Kunert blickt in seinen neuesten Gedichten zurück bis in die Kindheit, zurück auf ein bewegtes Leben in einer bewegten Zeit. Gleichzeitig beobachtet er seine Gegenwart mit gewohnt illusionslosem Scharfsinn. Mal in unverhohlen-bitterem Ton, mal in melancholischen Stimmungsbildern zieht Günter Kunert als eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur seine Spuren unnachahmlich weiter.
"Barfuß im Sand / des Strandes lebt die Kindheit / weiter. Großmutter, erzähl mir / ein Märchen, ehe du gestorben wirst. / Ich war Pinocchio auf Zeit, / mein Herz hölzern beim Anblick / verstummter Menschen und / schweigender Ruinen." Günter Kunert blickt in seinen neuesten Gedichten zurück bis in die Kindheit, zurück auf ein bewegtes Leben in einer bewegten Zeit. Gleichzeitig beobachtet er seine Gegenwart mit gewohnt illusionslosem Scharfsinn. Mal in unverhohlen-bitterem Ton, mal in melancholischen Stimmungsbildern zieht Günter Kunert als eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur seine Spuren unnachahmlich weiter.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zwei Tage nur nach Günter Kunerts Tod im Alter von neunzig Jahren ist dieser Gedichtband erschienen, der dem Rezensenten Hubert Spiegel den "Stenograf unserer Katastrophen" noch einmal in seiner ganzen Größe nahe bringt. Ob ihm Kunert in nur sechs Zeilen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vor Augen führt oder "kleine Menschheitsdramen" in Verse gießt - stets spürt der Kritiker die Resignation und den Pessimismus des Dichters, der sich davon allerdings nie lähmen ließ. Ebenso wie Kunert Vergangenheit und Gegenwart verzahnt, gelingt es ihm, Mythologisches mit Alltäglichem zu verknüpfen, staunt der Rezensent, der hier unter anderem von Flüchtlingszügen, Vulkanausbrüchen oder der Oktoberrevolution 1917 liest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2019Kassandras Selbstgespräch
Letzte Tiefenbohrung: Zwei Bände von Günter Kunert
Am letzten Samstag ist Günter Kunert im Alter von neunzig Jahren gestorben. Zwei Tage danach erschien sein neues Buch. Es heißt "Zu Gast im Labyrinth", verheißt im Untertitel "Neue Gedichte" des in vielen Genres beheimateten Lyrikers und ist laut Auskunft seines Verlegers Jo Lendle der 43. Band, den Günter Kunert im Laufe eines guten halben Jahrhunderts im Hanser Verlag veröffentlicht hat, nachdem er 1950 mit dem Gedichtband "Wegschilder und Mauerinschriften" in der DDR debütiert hatte. Was 1963 im Westen wenig optimistisch mit "Erinnerung an einen Planeten - Gedichte aus fünfzehn Jahren" seinen Anfang nahm, ist nun an einen Schlusspunkt gelangt.
Schon das erste Gedicht des neuen Bandes zeigt, dass Günter Kunert seiner mehr schwarz als grau eingefärbten Lieblingsperspektive bis zuletzt treu geblieben ist: Dieser Dichter versteht sich exemplarisch als Augenzeuge großer wie kleiner Menschheitsdramen und als Stenograph unserer Katastrophen. Dabei sind seine Mitschriften durchaus epochenübergreifend gemeint: Was nicht selbst erlebt wurde, wird imaginiert. Von der Zukunft ist dabei wenig Gutes zu erwarten.
In diesem Sinne ist im auch als Selbstporträt des Dichters zu lesenden Eröffnungsgedicht des neuen Bandes von den "blinden Augen Künftiger" die Rede, vor denen der Chronist niederlegt, was ihm doppelte Last ist. Genannt werden Blut, Feuer und Ehrensold, Gehirnmasse, Reifrock, Fallbeil, Eisbergkollision und "Bomberanflug über Hannover-Braunschweig-Nagasaki bis Tschernobyl". So wird in nur sechs Zeilen das zwanzigste Jahrhundert aufgerufen: von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs über die "Titanic" und das Fallbeil, mit dem die Nazis Tausende zu Tode brachten, darunter Hans und Sophie Scholl, bis zu den Bombardierungen von Hannover (1943), Braunschweig (1944) und Nagasaki (1945) und dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Doppelt ist die Last, weil der Chronist das Erwähnte nicht nur zum Teil miterlebt hat, sondern weil er fürchten muss, dass man ihm all das zur Last legen wird, was er in seiner Chronik niederschreibt. Deshalb schwitzt er vor Angst über seinen Sätzen: "Alles Ungeheuerliche / wird man eines Tages / ihm zuordnen." Mit jeder Zeile, so heißt es weiter, verliere er seine Unschuld: "Zum Schluss liegt er da, / eine niedergeschlagene Gestalt, / geschändet von der Welt, / von jedem eigenen Wort."
Was steht dem Dichter zu Gebot, um sich zu schützen oder sogar zur Wehr zu setzen gegen die Greuel und die Zumutungen der Welt? "Nur Worte, hilflose Worte." So schrieb Günter Kunert vor vier Jahren. Damals hatte er die Schirmherrschaft für eine Ausstellung übernommen, in der das Militärhistorische Museum Leipzig mit literarischen Zeugnissen an die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 erinnerte. "Man kann alles", so Kunert 2015, "selbst das Ungeheuerlichste, beschreiben und benennen, ohne mehr als eine schwache Ahnung dessen zu vermitteln, wie das Beschriebene eigentlich gewesen ist." Zur Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Mittel und ihrer Möglichkeiten kommt nun im neuen, dem letzten Gedichtband eine sich zur Gewissheit aufschwingende Befürchtung: Die hilflosen Worte werden sich dereinst gegen ihren Urheber wenden, sich verbünden mit den Übeln, die sie beschreiben und bannen sollen, bis der Chronist niedergestreckt ist, geschändet von der Welt und "von jedem eigenen Wort".
Geht es noch pessimistischer? Wohl kaum. Aber dieser Tiefpunkt ist zugleich ein Anfang, denn es handelt sich ja um das Eröffnungsgedicht des Bandes, dem viele weitere Gedichte folgen. Der Chronist sieht sein Schicksal voraus, und es mag ihn bekümmern. Aber es lähmt ihn nicht. Er macht weiter, stellt sich den "Mühen der Ebenen" und verhilft nicht ohne Sarkasmus den düsteren Prophezeiungen der Pythia zur Wirklichkeit, dabei "den Rauch aus der Erdspalte / inhalierend trotz / der Lungenkrebswarnung".
Die Tiefenbohrung in Mythologie und Zeitgeschichte ("Gegenwartestand") und der Blick auf die banalen Dinge des Alltags wie das Herbstlaub vor der Haustür ("Eingedenk dessen") - beides ist Anlass für wohlbegründete Resignation. Das welke Blatt vor der Tür signalisiert dem Dichter die bevorstehende Kündigung des "Aufenthaltsrechts" auf Erden und wird verrechnet mit der evolutionären Erbschaft von Jahrmillionen. Die Göttin Aurora wird aufgerufen, aber nicht wie bei Homer als "rosenfingrige", nicht wie bei Jakob van Hoddis als Matrone mit "dicken, rotgefroren Fingern" ("Nach Hause stiefeln wir verstört und alt, / die grelle, gelbe Nacht hat abgeblüht"), sondern als Symbol der blutig gescheiterten Hoffnung der Oktoberrevolution: "Die Göttin / der Morgenröte war Taufpatin / eines Panzerkreuzers, von dem aus / Millionen Menschen erschossen wurden."
Bruchlos geht es aus der Vergangenheit des Jahres 1917 in die Nachrichtengegenwart unserer Tage. Bilder von Migranten vor den Toren Europas lassen den Dichter nicht verstummen, rühren aber auch nicht an sein altes Herz: "Flüchtling zu sein, ist / ein neuer Beruf, für den man / keine Lehre braucht." Katastrophenmetaphorik kommt zum Einsatz: Die herannahenden Flüchtlingszüge werden mit dem apokalyptischen Verhängnis eines alles verheerenden Vulkanausbruchs verglichen ("Ich sehe / die endlosen Scharen über den Bildschirm / ziehen, biologische Lava, die / das Gestern niederwalzt.") Dann geht Kunert, ganz Teiresias im Fernsehsessel, sogar noch einen Schritt weiter und zitiert aus dem "Kriegslied" von Matthias Claudius: "Ich stehe / davor und begehre daran nicht schuld zu sein. "
Die Dichter, so hat Kunert in dieser Zeitung einmal geschrieben, zeichnen sich aus durch ihren erstaunlichen Instinkt für "das einzig richtige Wort, für die allein mögliche Wortwahl, für das Stimmige der Metaphern, für das apodiktisch Unabänderliche des Gesagten". So streng wollen wir nicht sein, sondern uns von Kunerts Gedicht "Heimatkundlich" daran erinnern lassen, dass unter jeder Schreibmaschine, jedem Laptop ein Abgrund gähnt, in den mehr als nur ein paar Buchstaben stürzen können. Auch daraus erwächst ja "die Lust der Gefahr / durch die Worte und Wörter".
Ebenfalls ein starker Reiz: das Wechselspiel zwischen dem "Übermaß an Ehrlichkeit", das dem literarischen Werk den Anschein von Authentizität beschert, und dem Bedürfnis des Autors nach Schutz und Intimität: "Man lässt nicht gerne in seine Tiefen, in seine schmutzigen Ecken blicken, nicht mal unter Tarnung." Fast vierzig Jahre lang hat Günter Kunert, was es an Schmutzecken und Abgründen zu erforschen gab, festgehalten und notiert in seinem sogenannten "Big Book", das er nicht als Tagebuch verstanden wissen wollte. Im vorigen Jahr sind unter dem Titel "Ohne Umkehr" Auszüge daraus erschienen, die überwiegend aus den Jahren 2015 bis 2018 stammen. Wer will, kann mühelos Parallelen zwischen beiden Bänden entdecken, Natürlich findet auch das Flüchtlingsthema wieder Erwähnung, wenn Kunert die ihm naiv erscheinende Hoffnung der Flüchtlinge von heute kurzerhand mit der Situation der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergleicht: "Wir waren keineswegs schlauer als die Flüchtlinge heute. Heute sind wir die gebrannten Kinder angesichts derer, die die Brandmarkung noch vor sich haben." Wir dürfen uns Günter Kunerts "Big Book" wohl als Kassandras unveröffentlichte Selbstgespräche vorstellen.
Auf freundliche Aufnahme hat dieser Dichter nie spekuliert, nicht einmal postum: "Keine Spekulation auf Nachleben im Wort. Der gelebte Moment des Schreibens zählt, alles Übrige trägt die Abfallbeseitigung mit sich fort." Ganz so schlimm wird es schon nicht kommen. Denn die Abfallbeseitigung, das sind wir, die vorläufige Nachwelt.
HUBERT SPIEGEL
Ein Nachruf auf Günter Kunert und zwei seiner "Frankfurter Anthologien" sind unter www.faz.net/kunert zu finden.
Günter Kunert: "Zu Gast im Labyrinth". Neue Gedichte.
Hanser Verlag, München 2019. 112 S., geb., 19,- [Euro].
Günter Kunert: "Ohne Umkehr".
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Letzte Tiefenbohrung: Zwei Bände von Günter Kunert
Am letzten Samstag ist Günter Kunert im Alter von neunzig Jahren gestorben. Zwei Tage danach erschien sein neues Buch. Es heißt "Zu Gast im Labyrinth", verheißt im Untertitel "Neue Gedichte" des in vielen Genres beheimateten Lyrikers und ist laut Auskunft seines Verlegers Jo Lendle der 43. Band, den Günter Kunert im Laufe eines guten halben Jahrhunderts im Hanser Verlag veröffentlicht hat, nachdem er 1950 mit dem Gedichtband "Wegschilder und Mauerinschriften" in der DDR debütiert hatte. Was 1963 im Westen wenig optimistisch mit "Erinnerung an einen Planeten - Gedichte aus fünfzehn Jahren" seinen Anfang nahm, ist nun an einen Schlusspunkt gelangt.
Schon das erste Gedicht des neuen Bandes zeigt, dass Günter Kunert seiner mehr schwarz als grau eingefärbten Lieblingsperspektive bis zuletzt treu geblieben ist: Dieser Dichter versteht sich exemplarisch als Augenzeuge großer wie kleiner Menschheitsdramen und als Stenograph unserer Katastrophen. Dabei sind seine Mitschriften durchaus epochenübergreifend gemeint: Was nicht selbst erlebt wurde, wird imaginiert. Von der Zukunft ist dabei wenig Gutes zu erwarten.
In diesem Sinne ist im auch als Selbstporträt des Dichters zu lesenden Eröffnungsgedicht des neuen Bandes von den "blinden Augen Künftiger" die Rede, vor denen der Chronist niederlegt, was ihm doppelte Last ist. Genannt werden Blut, Feuer und Ehrensold, Gehirnmasse, Reifrock, Fallbeil, Eisbergkollision und "Bomberanflug über Hannover-Braunschweig-Nagasaki bis Tschernobyl". So wird in nur sechs Zeilen das zwanzigste Jahrhundert aufgerufen: von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs über die "Titanic" und das Fallbeil, mit dem die Nazis Tausende zu Tode brachten, darunter Hans und Sophie Scholl, bis zu den Bombardierungen von Hannover (1943), Braunschweig (1944) und Nagasaki (1945) und dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Doppelt ist die Last, weil der Chronist das Erwähnte nicht nur zum Teil miterlebt hat, sondern weil er fürchten muss, dass man ihm all das zur Last legen wird, was er in seiner Chronik niederschreibt. Deshalb schwitzt er vor Angst über seinen Sätzen: "Alles Ungeheuerliche / wird man eines Tages / ihm zuordnen." Mit jeder Zeile, so heißt es weiter, verliere er seine Unschuld: "Zum Schluss liegt er da, / eine niedergeschlagene Gestalt, / geschändet von der Welt, / von jedem eigenen Wort."
Was steht dem Dichter zu Gebot, um sich zu schützen oder sogar zur Wehr zu setzen gegen die Greuel und die Zumutungen der Welt? "Nur Worte, hilflose Worte." So schrieb Günter Kunert vor vier Jahren. Damals hatte er die Schirmherrschaft für eine Ausstellung übernommen, in der das Militärhistorische Museum Leipzig mit literarischen Zeugnissen an die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 erinnerte. "Man kann alles", so Kunert 2015, "selbst das Ungeheuerlichste, beschreiben und benennen, ohne mehr als eine schwache Ahnung dessen zu vermitteln, wie das Beschriebene eigentlich gewesen ist." Zur Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Mittel und ihrer Möglichkeiten kommt nun im neuen, dem letzten Gedichtband eine sich zur Gewissheit aufschwingende Befürchtung: Die hilflosen Worte werden sich dereinst gegen ihren Urheber wenden, sich verbünden mit den Übeln, die sie beschreiben und bannen sollen, bis der Chronist niedergestreckt ist, geschändet von der Welt und "von jedem eigenen Wort".
Geht es noch pessimistischer? Wohl kaum. Aber dieser Tiefpunkt ist zugleich ein Anfang, denn es handelt sich ja um das Eröffnungsgedicht des Bandes, dem viele weitere Gedichte folgen. Der Chronist sieht sein Schicksal voraus, und es mag ihn bekümmern. Aber es lähmt ihn nicht. Er macht weiter, stellt sich den "Mühen der Ebenen" und verhilft nicht ohne Sarkasmus den düsteren Prophezeiungen der Pythia zur Wirklichkeit, dabei "den Rauch aus der Erdspalte / inhalierend trotz / der Lungenkrebswarnung".
Die Tiefenbohrung in Mythologie und Zeitgeschichte ("Gegenwartestand") und der Blick auf die banalen Dinge des Alltags wie das Herbstlaub vor der Haustür ("Eingedenk dessen") - beides ist Anlass für wohlbegründete Resignation. Das welke Blatt vor der Tür signalisiert dem Dichter die bevorstehende Kündigung des "Aufenthaltsrechts" auf Erden und wird verrechnet mit der evolutionären Erbschaft von Jahrmillionen. Die Göttin Aurora wird aufgerufen, aber nicht wie bei Homer als "rosenfingrige", nicht wie bei Jakob van Hoddis als Matrone mit "dicken, rotgefroren Fingern" ("Nach Hause stiefeln wir verstört und alt, / die grelle, gelbe Nacht hat abgeblüht"), sondern als Symbol der blutig gescheiterten Hoffnung der Oktoberrevolution: "Die Göttin / der Morgenröte war Taufpatin / eines Panzerkreuzers, von dem aus / Millionen Menschen erschossen wurden."
Bruchlos geht es aus der Vergangenheit des Jahres 1917 in die Nachrichtengegenwart unserer Tage. Bilder von Migranten vor den Toren Europas lassen den Dichter nicht verstummen, rühren aber auch nicht an sein altes Herz: "Flüchtling zu sein, ist / ein neuer Beruf, für den man / keine Lehre braucht." Katastrophenmetaphorik kommt zum Einsatz: Die herannahenden Flüchtlingszüge werden mit dem apokalyptischen Verhängnis eines alles verheerenden Vulkanausbruchs verglichen ("Ich sehe / die endlosen Scharen über den Bildschirm / ziehen, biologische Lava, die / das Gestern niederwalzt.") Dann geht Kunert, ganz Teiresias im Fernsehsessel, sogar noch einen Schritt weiter und zitiert aus dem "Kriegslied" von Matthias Claudius: "Ich stehe / davor und begehre daran nicht schuld zu sein. "
Die Dichter, so hat Kunert in dieser Zeitung einmal geschrieben, zeichnen sich aus durch ihren erstaunlichen Instinkt für "das einzig richtige Wort, für die allein mögliche Wortwahl, für das Stimmige der Metaphern, für das apodiktisch Unabänderliche des Gesagten". So streng wollen wir nicht sein, sondern uns von Kunerts Gedicht "Heimatkundlich" daran erinnern lassen, dass unter jeder Schreibmaschine, jedem Laptop ein Abgrund gähnt, in den mehr als nur ein paar Buchstaben stürzen können. Auch daraus erwächst ja "die Lust der Gefahr / durch die Worte und Wörter".
Ebenfalls ein starker Reiz: das Wechselspiel zwischen dem "Übermaß an Ehrlichkeit", das dem literarischen Werk den Anschein von Authentizität beschert, und dem Bedürfnis des Autors nach Schutz und Intimität: "Man lässt nicht gerne in seine Tiefen, in seine schmutzigen Ecken blicken, nicht mal unter Tarnung." Fast vierzig Jahre lang hat Günter Kunert, was es an Schmutzecken und Abgründen zu erforschen gab, festgehalten und notiert in seinem sogenannten "Big Book", das er nicht als Tagebuch verstanden wissen wollte. Im vorigen Jahr sind unter dem Titel "Ohne Umkehr" Auszüge daraus erschienen, die überwiegend aus den Jahren 2015 bis 2018 stammen. Wer will, kann mühelos Parallelen zwischen beiden Bänden entdecken, Natürlich findet auch das Flüchtlingsthema wieder Erwähnung, wenn Kunert die ihm naiv erscheinende Hoffnung der Flüchtlinge von heute kurzerhand mit der Situation der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergleicht: "Wir waren keineswegs schlauer als die Flüchtlinge heute. Heute sind wir die gebrannten Kinder angesichts derer, die die Brandmarkung noch vor sich haben." Wir dürfen uns Günter Kunerts "Big Book" wohl als Kassandras unveröffentlichte Selbstgespräche vorstellen.
Auf freundliche Aufnahme hat dieser Dichter nie spekuliert, nicht einmal postum: "Keine Spekulation auf Nachleben im Wort. Der gelebte Moment des Schreibens zählt, alles Übrige trägt die Abfallbeseitigung mit sich fort." Ganz so schlimm wird es schon nicht kommen. Denn die Abfallbeseitigung, das sind wir, die vorläufige Nachwelt.
HUBERT SPIEGEL
Ein Nachruf auf Günter Kunert und zwei seiner "Frankfurter Anthologien" sind unter www.faz.net/kunert zu finden.
Günter Kunert: "Zu Gast im Labyrinth". Neue Gedichte.
Hanser Verlag, München 2019. 112 S., geb., 19,- [Euro].
Günter Kunert: "Ohne Umkehr".
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mit diesem abermaligen Versuch, die Welt aus dem Schlaf der Unvernunft zu wecken, hat uns Günter Kunert ein virtuoses Vermächtnis hinterlassen. Dieser Gedichtband ist zugleich eine kunstvolle Zusammenfassung seines Lebenswerkes." Torsten Unger, MDR Kultur, 06.10.19
"'Zu Gast im Labyrinth' ... enthält rund hundert 'neue Gedichte' und zeigt, welch hohes literarisches Niveau und welche wache Aufmerksamkeit sich der Schriftsteller bis zuletzt bewahren konnte." Carsten Otte, SWR Lesenswert Magazin, 03.11.19
"Auch die letzten Gedichte bestätigen Kunerts Ruf als ein origineller Melancholiker." Jürgen Verdofsky, Frankfurter Rundschau, 12.12.19
"'Zu Gast im Labyrinth' ... enthält rund hundert 'neue Gedichte' und zeigt, welch hohes literarisches Niveau und welche wache Aufmerksamkeit sich der Schriftsteller bis zuletzt bewahren konnte." Carsten Otte, SWR Lesenswert Magazin, 03.11.19
"Auch die letzten Gedichte bestätigen Kunerts Ruf als ein origineller Melancholiker." Jürgen Verdofsky, Frankfurter Rundschau, 12.12.19