Seit über dreißig Jahren betrachtet der Westen den Osten. Als Gast im Westen beschreibt Ingo Schulze, dass die Wirklichkeit immer jener Ort ist, der jenseits der Erwartung liegt.Ein halbes Jahr verbrachte Ingo Schulze von Oktober 2022 bis März 2023 im Ruhrgebiet als »Gast im Westen«. Was ihn interessierte? »Einen Plan hatte ich nicht. Und erst allmählich begann ich meine 'Methode' zu erkennen: Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen. Es gibt wohl kaum ein unsystematischeres Vorgehen. Aber jeder Plan wäre mir nicht weniger willkürlich erschienen.«So entstanden ganz unterschiedliche Betrachtungen, Porträts, Reportagen - eine Grundschule, in der die Musik die Rolle der Sprache übernimmt, weil zu wenige Kinder Deutsch sprechen; ein Stadionbesuch mit einem Polizeipräsidenten a. D., der nicht mehr das Wort "Clankriminalität" aussprechen wollte, es aber musste; ein Konzert im Alfried Krupp Saal der Essener Philharmonie führt zur Geschichte der Firma Krupp, zu den längsten Arbeitskämpfen der BRD und zu Europas größtem Binnenhafen; die Ruhe eines Kriegsgräberfriedhofs erscheint nicht mehr selbstverständlich; der Slapstick einer Theateraufführung setzt sich in der Wirklichkeit fort - über allem wabert ein Duft von Döner und Gyros und im Ohr hallen die Gesänge der Fußballfans nach.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ingo Schulze dreht den Spieß in diesem Buch einmal um und versucht einmal, als Ostler den Westen zu verstehen, erklärt Kritikerin Cornelia Geißler. Schulze hatte mit einem Aufenthaltsstipendium sechs Monate in Mühlheim verbracht. Unter anderem haben viele Gespräche mit einem früheren DDR-Flüchtling, der dann Kohlearbeiter im Ruhrgebiet wurde, Eingang in dieses fein komponierte, kluge Buch gefunden, so Geißler, der Autor geht zu Fußballspielen und in Brennpunktschulen, spricht mit den Menschen und liest Bücher und Artikel. Eine Recherchearbeit, die sie dem Band anmerkt, und eine "Bereicherung der deutsch-deutschen Erzählungen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2024Ein Land, das nicht zur Ruhe kommt
Sechs Monate lang war Ingo Schulze Stadtschreiber im Ruhrgebiet und hat ein Buch
über Menschen, Fußball und eine ganz besondere Farbe veröffentlicht.
Ingo Schulze war vergangene Woche vor allem deshalb bekannt, weil er sich im Stern für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aussprach. Er fügte dem ein „es muss doch eine Perspektive der Verhandlungen geben“ hinzu, was einigermaßen schräg ist, schließlich wollen derzeit weder die Ukraine noch Russland verhandeln. Der gebürtige Dresdner Ingo Schulze aber ist auch noch als Autor bekannt, als einer, der Fußball liebt und von Oktober 2022 bis Mai 2023 auf Einladung der Brost-Stiftung Stadtschreiber im Ruhrgebiet war. In dieser Zeit besucht er Spiele von Borussia Dortmund, Schalke, Rot-Weiß Essen. Seine Gesprächspartner treffen sich gern im Stadion, und Schulze tut das auch.
Die Passagen aus dem Stadion gehören zu den schönsten seines Buches „Zu Gast im Westen“, das aus dieser Zeit hervorgegangen ist. Beispielsweise über die variable Zeitwahrnehmung: vor dem Spiel zerdehnt wie vor Weihnachten, nach dem Spiel ein Nichts, eine Abwesenheit von Zeit, ein „Zeitloch“. Oder über die Südtribüne im Westfalenstadion, wo er Menschen sieht, die da stehen, „als stünden sie immer schon dort“. Sehr spitz auch sein Mitgefühl mit Dresdnern oder Berlinern, die in einer Stadt „ohne wirkliche Spitzenmannschaft“ leben müssen.
Andererseits handeln auch einige der schwülstigeren Passagen vom Fußball. Eine Eintrittskarte, auch wenn sie 71,50 Euro kostet, ist kein „Opfer“ und das Stadion kein „Tempelbezirk“. Ohnehin ist „Zu Gast im Westen“, darin einem Tagebuch nicht unähnlich, stilistisch ein wenig zerklüftet. Zwischen originellen Beobachtungen und gelungenen Szenen finden sich schier endlose Zusammenfassungen von Gesprächen oder Büchern.
Schulzes Methode hingegen ist in ihrer Zufälligkeit nur stringent. „Wenn man mich einlud, bin ich hingegangen“, das verrät größtmögliche Offenheit. Die Lehrerin einer einst verrufenen, nun aber gefeierten Grundschule in Mühlheim hat ihn eingeladen und Essens gerade pensionierter Polizeipräsident, ein Klempner aus Gelsenkirchen und die Musiker der Essener Philharmoniker, linke Buchhändler, Lokalpolitiker und ein ehemaliger Republikflüchtling. Sie alle finden in Schulze einen vorurteilslosen Zuhörer, der eine fast demonstrative Naivität ebenso offenlegt wie den Referenzrahmen seiner ostdeutschen Herkunft. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Vergleich zwischen dem untergegangenen Osten und dem tiefen Westen dort am fruchtbarsten ist, wo es um Arbeit geht, schwere, körperliche Arbeit oder, ortstypisch, Maloche. Hier wie dort habe physische Arbeit ihren Stellenwert als Wirtschaftsfaktor längst eingebüßt, so Schulze, nur hatte der Verlust unterschiedliche Effekte. Während die ideologisch hergeleitete Privilegierung des physisch Schuftenden im „Arbeiter- und Bauernparadies“ nach 1989 in eine „fatale Abwertung der Arbeiter“ umschlug, steigert sich das Ruhrgebiet in einen umso leidenschaftlicheren Malocher-Kult hinein, je länger das Zeitalter von Kohle und Stahl zurückliegt.
Nicht nur Schulze, sondern auch einige seiner Gesprächspartner sehen diese Verklärung kritisch. Was sei denn das für ein Ideal, seinen Körper durch harte Arbeit zu ruinieren, fragt der Schalker Heimatpfleger Olivier Kruschinski, während „Technik, Feinschliff, Taktik, Köpfchen“ keine Rolle spielten, dabei seien gerade dies doch die Fertigkeiten des Ruhrgebiets, nicht nur in der Industrie, sondern auch im Fußball? Sein Fazit: „Wir brauchen eine neue Erzählung, eine andere Story.“
Diese neue Meistererzählung ist Ingo Schulzes Buch nicht. Wie sollte es auch? Aber es verrät einen dann eben doch nicht nur zufälligen Blick auf eine Region, die von der Selbstüberschätzung und Selbstausbeutung des Menschen erzählt und von den Verheerungen, die beides anrichtet, kurz: vom Anthropozän. Nach dem Ende der Schwerindustrie ist der gesamte Raum an Rhein und Ruhr um zehn, zwanzig Meter abgesackt. Alles im Ruhrgebiet bewegt sich, Schächte, Gruben, Flüsse müssen eingehegt und bewirtschaftet werden, damit Menschen hier überhaupt noch leben können. Ein ausgeklügeltes System aus Grubenentwässerung, Wassermanagement, Halden- und Polderbewirtschaftung soll eine Landschaft stabilisieren, die nicht zur Ruhe kommt. „Über 150 Jahre hat sich das Ruhrgebiet verausgabt, hat produziert und geliefert“, schreibt Schulze: „Zurückgeblieben ist die wohl künstlichste Landschaft Deutschlands, wahrscheinlich Europas.“
Ingo Schulze ist ein Gast, wie man ihn jedem Ort nur wünschen kann, bescheiden, neugierig, mit viel Sinn auch für die nicht marktgängige Schönheit. Am Zusammenfluss von Rhein und Ruhr in Duisburg – Schulze nennt es den „Bosporus“ – steht die Stele „Rheinorange“ des Kölner Künstlers Lutz Fritsch. Die Bezeichnung spielt auf die flammende Farbe des Nachthimmels beim Abstich an, und hat sogar eine genaue Bezeichnung, RAL 2004, „reinorange“. Am Bosporus des Ruhrgebiets zu sitzen und dem Abendhimmel beim Verglühen zuzusehen, schreibt Schulze, das könnte ihm schon gefallen.
SONJA ZEKRI
Je länger das Zeitalter der
Kohle zurückliegt,
desto mehr Malocher-Kult
So ähnlich sieht sie aus, die Farbe „Rheinorange“, die es im Ruhrgebiet zu sehen gibt. Hier an der Zeche Gneisenau.
Foto: IMAGO/Zoonar
Ingo Schulze:
Zu Gast im Westen.
Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 344 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sechs Monate lang war Ingo Schulze Stadtschreiber im Ruhrgebiet und hat ein Buch
über Menschen, Fußball und eine ganz besondere Farbe veröffentlicht.
Ingo Schulze war vergangene Woche vor allem deshalb bekannt, weil er sich im Stern für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aussprach. Er fügte dem ein „es muss doch eine Perspektive der Verhandlungen geben“ hinzu, was einigermaßen schräg ist, schließlich wollen derzeit weder die Ukraine noch Russland verhandeln. Der gebürtige Dresdner Ingo Schulze aber ist auch noch als Autor bekannt, als einer, der Fußball liebt und von Oktober 2022 bis Mai 2023 auf Einladung der Brost-Stiftung Stadtschreiber im Ruhrgebiet war. In dieser Zeit besucht er Spiele von Borussia Dortmund, Schalke, Rot-Weiß Essen. Seine Gesprächspartner treffen sich gern im Stadion, und Schulze tut das auch.
Die Passagen aus dem Stadion gehören zu den schönsten seines Buches „Zu Gast im Westen“, das aus dieser Zeit hervorgegangen ist. Beispielsweise über die variable Zeitwahrnehmung: vor dem Spiel zerdehnt wie vor Weihnachten, nach dem Spiel ein Nichts, eine Abwesenheit von Zeit, ein „Zeitloch“. Oder über die Südtribüne im Westfalenstadion, wo er Menschen sieht, die da stehen, „als stünden sie immer schon dort“. Sehr spitz auch sein Mitgefühl mit Dresdnern oder Berlinern, die in einer Stadt „ohne wirkliche Spitzenmannschaft“ leben müssen.
Andererseits handeln auch einige der schwülstigeren Passagen vom Fußball. Eine Eintrittskarte, auch wenn sie 71,50 Euro kostet, ist kein „Opfer“ und das Stadion kein „Tempelbezirk“. Ohnehin ist „Zu Gast im Westen“, darin einem Tagebuch nicht unähnlich, stilistisch ein wenig zerklüftet. Zwischen originellen Beobachtungen und gelungenen Szenen finden sich schier endlose Zusammenfassungen von Gesprächen oder Büchern.
Schulzes Methode hingegen ist in ihrer Zufälligkeit nur stringent. „Wenn man mich einlud, bin ich hingegangen“, das verrät größtmögliche Offenheit. Die Lehrerin einer einst verrufenen, nun aber gefeierten Grundschule in Mühlheim hat ihn eingeladen und Essens gerade pensionierter Polizeipräsident, ein Klempner aus Gelsenkirchen und die Musiker der Essener Philharmoniker, linke Buchhändler, Lokalpolitiker und ein ehemaliger Republikflüchtling. Sie alle finden in Schulze einen vorurteilslosen Zuhörer, der eine fast demonstrative Naivität ebenso offenlegt wie den Referenzrahmen seiner ostdeutschen Herkunft. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Vergleich zwischen dem untergegangenen Osten und dem tiefen Westen dort am fruchtbarsten ist, wo es um Arbeit geht, schwere, körperliche Arbeit oder, ortstypisch, Maloche. Hier wie dort habe physische Arbeit ihren Stellenwert als Wirtschaftsfaktor längst eingebüßt, so Schulze, nur hatte der Verlust unterschiedliche Effekte. Während die ideologisch hergeleitete Privilegierung des physisch Schuftenden im „Arbeiter- und Bauernparadies“ nach 1989 in eine „fatale Abwertung der Arbeiter“ umschlug, steigert sich das Ruhrgebiet in einen umso leidenschaftlicheren Malocher-Kult hinein, je länger das Zeitalter von Kohle und Stahl zurückliegt.
Nicht nur Schulze, sondern auch einige seiner Gesprächspartner sehen diese Verklärung kritisch. Was sei denn das für ein Ideal, seinen Körper durch harte Arbeit zu ruinieren, fragt der Schalker Heimatpfleger Olivier Kruschinski, während „Technik, Feinschliff, Taktik, Köpfchen“ keine Rolle spielten, dabei seien gerade dies doch die Fertigkeiten des Ruhrgebiets, nicht nur in der Industrie, sondern auch im Fußball? Sein Fazit: „Wir brauchen eine neue Erzählung, eine andere Story.“
Diese neue Meistererzählung ist Ingo Schulzes Buch nicht. Wie sollte es auch? Aber es verrät einen dann eben doch nicht nur zufälligen Blick auf eine Region, die von der Selbstüberschätzung und Selbstausbeutung des Menschen erzählt und von den Verheerungen, die beides anrichtet, kurz: vom Anthropozän. Nach dem Ende der Schwerindustrie ist der gesamte Raum an Rhein und Ruhr um zehn, zwanzig Meter abgesackt. Alles im Ruhrgebiet bewegt sich, Schächte, Gruben, Flüsse müssen eingehegt und bewirtschaftet werden, damit Menschen hier überhaupt noch leben können. Ein ausgeklügeltes System aus Grubenentwässerung, Wassermanagement, Halden- und Polderbewirtschaftung soll eine Landschaft stabilisieren, die nicht zur Ruhe kommt. „Über 150 Jahre hat sich das Ruhrgebiet verausgabt, hat produziert und geliefert“, schreibt Schulze: „Zurückgeblieben ist die wohl künstlichste Landschaft Deutschlands, wahrscheinlich Europas.“
Ingo Schulze ist ein Gast, wie man ihn jedem Ort nur wünschen kann, bescheiden, neugierig, mit viel Sinn auch für die nicht marktgängige Schönheit. Am Zusammenfluss von Rhein und Ruhr in Duisburg – Schulze nennt es den „Bosporus“ – steht die Stele „Rheinorange“ des Kölner Künstlers Lutz Fritsch. Die Bezeichnung spielt auf die flammende Farbe des Nachthimmels beim Abstich an, und hat sogar eine genaue Bezeichnung, RAL 2004, „reinorange“. Am Bosporus des Ruhrgebiets zu sitzen und dem Abendhimmel beim Verglühen zuzusehen, schreibt Schulze, das könnte ihm schon gefallen.
SONJA ZEKRI
Je länger das Zeitalter der
Kohle zurückliegt,
desto mehr Malocher-Kult
So ähnlich sieht sie aus, die Farbe „Rheinorange“, die es im Ruhrgebiet zu sehen gibt. Hier an der Zeche Gneisenau.
Foto: IMAGO/Zoonar
Ingo Schulze:
Zu Gast im Westen.
Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 344 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2024Fast jeden Tag bin ich unterwegs
Ein Ossi zu Gast bei Wessis: Ingo Schulze liefert Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet, beobachtet sich dabei selbst und sucht Helden der Wirklichkeit.
Metropolenschreiber Ruhr": Das klingt etwas hochtrabend für einen Ballungsraum, an dem Rost und Kohlenstaub haften, doch das "Projekt", 2017 von der Brost-Stiftung eingerichtet, hat sich etabliert. Neun Autoren wurde die Auszeichnung, die zu einem üppig dotierten Aufenthalt in Mülheim an der Ruhr einlädt, bisher zuteil, und auch wenn der eine oder andere mit dem Titel fremdelte, ist eine illustre Stafette entstanden, die mit jeder Stabübernahme die Blickrichtung ändert.
Ingo Schulze war der Siebte in dieser Reihe und, geboren 1962 in Dresden, der erste Ostdeutsche. Von Oktober 2022 bis März 2023 "zu Gast im Westen", hat er unter diesem Titel nun, ein knappes Jahr später, ein Buch vorgelegt. So eine schnelle Rendite ist nicht die Regel, doch auch zwei seiner Vorgänger hatten ähnlich früh, wenn auch mit nur etwa halb so vielen Seiten, "zurückgezahlt": Wolfram Eilenberger mit "Versuch einer Liebeserklärung" (F.A.Z. vom 8. Oktober 2021) und Per Leo mit dem geschichtsphilosophischen Essay "Noch nicht mehr" (F.A.Z. vom 8. November 2023).
Ingo Schulze macht etwas anderes, Näherliegendes: Er stellt sich der Wirklichkeit und beschreibt sie. "Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen", erklärt er seine "Methode". Gast zu sein, versteht er als Privileg, als Angebot, zuzuhören, nachzufragen, zu beobachten und, indem er davon erzählt, seiner Arbeit nachzugehen: "Fast jeden Tag bin ich unterwegs." Der Autor kennt die Region von Lesereisen her, aber "im Westen gelebt hatte ich zuvor noch nie". So hat er einen Blick von außen, aber auch die Angewohnheit zu vergleichen. Im Prolog "Neu in Mülheim-Broich" versucht er, sich die temporäre Lebensumwelt, vom Lichtschalter in seiner "stattlichen Doppelhaushälfte" bis zum Supermarkt in der "Broicher Mitte", schrittweise anzueignen. Zentrale Themen des Ruhrgebiets werden da schon angesprochen: Zuwanderung, Integration, Strukturwandel, fließende Stadtgrenzen, Siedlungsbrei, Wohlstandsgefälle, ÖPNV, Fußball.
Die Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet bewegen sich zwischen den Genres und sind so etwas wie journalistische Erzählungen: Einerseits erfindet Schulze nichts (hinzu), andererseits beobachtet er sich in seiner Rolle. Oft genügt ein äußerer Anlass, um einen Faden aufzunehmen und fortzuspinnen: Ein Konzert im Alfried-Krupp-Saal der Essener Philharmonie führt zum Namensgeber, dann in die Villa Hügel und zur Geschichte des Unternehmens, zu dessen Rolle in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, dem letzten Erben Arndt von Bohlen und Halbach, der Stiftung unter Berthold Beitz und dessen Ostpolitik und weiter zum Arbeitskampf in Rheinhausen, dem Duisburger Hafen, dessen Manager Erich Staake und der Zugverbindung nach China bis nach Ruhrort, zu Franz Haniel und der Dichterin Barbara Köhler - ein Fluss von Geschichten, der munter mäandert, bis er im "Rheinorange" des Abendhimmels glänzt. Dann sitzt Schulze noch einmal im Alfried-Krupp-Saal, nun in einer Ecke der Orchesterbühne, um eine Innenansicht des Klangkörpers zu geben und das Publikum von vorne zu beobachten: "Betrachtungen eines musikalischen Dilettanten".
Was Schulze mitbringt, sind Offenheit, Humor und sein schwarz-gelbes Trikot - das Ruhrgebiet springt darauf an: "Dat is hier so, wir sagen du." Wenn ihm ein gleichaltriger Landsmann aus Leipzig von seiner abenteuerlichen Flucht im Juli 1989 über Budapest in den Westen erzählt, dann wird eine deutsch-deutsche Momentaufnahme daraus; wenn er neben dem Polizeipräsidenten a. D. das "Risikospiel" Rot-Weiss Essen gegen den Halleschen FC verfolgt, absolviert er einen Schnellkurs über Clankriminalität; wenn er sich vom Seniorchef eines Sanitärbetriebs durch Gelsenkirchen chauffieren lässt, gerät das zu einer Zeitreise durch die Wirtschaftswunder- und Kohlenkrisenjahre der Stadt, deren Scheitelpunkt das Theater mit den "blauen Dingern" von Yves Klein markiert. Und wenn er anschließend auf Schalke-Tour geht, lernt er zwischen St. Joseph und der Kampfbahn Glückauf den irischen Bergbauingenieur Thomas William Mulvany und eine moderne Interpretation des Schalker Kreisels kennen. Schulze belässt es nicht bei Anekdoten.
In der Buchhandlung, die ein Flugbegleiter der Lufthansa in Essen-Holsterhausen eröffnet hat, begegnet Schulze dem Juristen der Wasserwerke Mülheim, der mit ihm zum Wasserturm Aquarius radelt und ihn an die Emscherkläranlage Bottrop vermittelt. In der nächsten Buchhandlung in Kettwig ruft ein Wilhelm-von-Kügelgen-Abend Erinnerungen an seine Anfänge als Autor auf, und in der "Weltbühne" in Duisburg-Neudorf, der "letzten linken Buchhandlung weit und breit", deckt er sich mit Büchern ein, von "denen ich gar nicht wusste, dass ich sie gesucht habe". Mit einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten trifft er sich in Dortmund-Hörde, wo das Stahlwerk Phoenix-Ost für ein Villenviertel am See abgeräumt wurde, und zeichnet den Werdegang des nonkonformen Politikers nach, der sich gegen das Partei-Establishment durchgesetzt und schließlich "keinen anderen Weg mehr gesehen hat, als aus der SPD auszutreten".
So geht es kreuz und quer. Schulze nimmt das Ruhrgebiet, wie es kommt. Reportage, Porträt, Stadterkundung, Ortsbesichtigung, Lektüreeindrücke, Essay, Theaterkritik - manches ist durchkomponiert, anderes schnell heruntergeschrieben. Zwei herausragende unter den neunzehn Texten berichten von Schulen in sozialen Brennpunkten, die sich als Leuchttürme der Bildungsgerechtigkeit erweisen: die "Grundschule im Dichterviertel" in Mülheim, mit der sich ihre Leiterin die "kaputteste Schule weit und breit ausgesucht" und sie so neu konzipiert hat, dass sie "unter die fünf besten Schulen Deutschlands" gewählt wurde, und die Gemeinschaftsgrundschule Sandstraße in Duisburg-Marxloh, wo neunzig Prozent der Erstklässler aus prekären und instabilen Familien kommen, kaum Deutsch sprechen und über Musik- und Tanzunterricht (Schönberg, Bartók, Ligeti) an das Lernen und die Sprache herangeführt werden.
Die Dramaturgie des Aufenthalts und des Buches setzt den Ausflug nach Marxloh, dem "einzigen Ort im Ruhrgebiet, vor dem ich eindringlich gewarnt wurde", an den Schluss. "Es wäre mir auch nicht schwergefallen, weitere sechs Monate oder gar sechs Jahre damit zuzubringen, das Ruhrgebiet besser kennenzulernen", schreibt Schulze im Epilog. Die Helden der Wirklichkeit, die er jenseits der Skyline aus aufgereihten Wahrzeichen, die den Buchumschlag ziert, erkundet, heißen nicht Beitz oder Staake, nicht Willy "Ente" Lippens, Mesut Özil oder Kloppo, die auch vorkommen, sondern Nicola Küppers und Klaus Hagge. Starke Persönlichkeiten einer vielfältigen Region. Ruhrgebiet eben. ANDREAS ROSSMANN
Ingo Schulze: "Zu Gast im Westen". Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2024. 344 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Ossi zu Gast bei Wessis: Ingo Schulze liefert Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet, beobachtet sich dabei selbst und sucht Helden der Wirklichkeit.
Metropolenschreiber Ruhr": Das klingt etwas hochtrabend für einen Ballungsraum, an dem Rost und Kohlenstaub haften, doch das "Projekt", 2017 von der Brost-Stiftung eingerichtet, hat sich etabliert. Neun Autoren wurde die Auszeichnung, die zu einem üppig dotierten Aufenthalt in Mülheim an der Ruhr einlädt, bisher zuteil, und auch wenn der eine oder andere mit dem Titel fremdelte, ist eine illustre Stafette entstanden, die mit jeder Stabübernahme die Blickrichtung ändert.
Ingo Schulze war der Siebte in dieser Reihe und, geboren 1962 in Dresden, der erste Ostdeutsche. Von Oktober 2022 bis März 2023 "zu Gast im Westen", hat er unter diesem Titel nun, ein knappes Jahr später, ein Buch vorgelegt. So eine schnelle Rendite ist nicht die Regel, doch auch zwei seiner Vorgänger hatten ähnlich früh, wenn auch mit nur etwa halb so vielen Seiten, "zurückgezahlt": Wolfram Eilenberger mit "Versuch einer Liebeserklärung" (F.A.Z. vom 8. Oktober 2021) und Per Leo mit dem geschichtsphilosophischen Essay "Noch nicht mehr" (F.A.Z. vom 8. November 2023).
Ingo Schulze macht etwas anderes, Näherliegendes: Er stellt sich der Wirklichkeit und beschreibt sie. "Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen", erklärt er seine "Methode". Gast zu sein, versteht er als Privileg, als Angebot, zuzuhören, nachzufragen, zu beobachten und, indem er davon erzählt, seiner Arbeit nachzugehen: "Fast jeden Tag bin ich unterwegs." Der Autor kennt die Region von Lesereisen her, aber "im Westen gelebt hatte ich zuvor noch nie". So hat er einen Blick von außen, aber auch die Angewohnheit zu vergleichen. Im Prolog "Neu in Mülheim-Broich" versucht er, sich die temporäre Lebensumwelt, vom Lichtschalter in seiner "stattlichen Doppelhaushälfte" bis zum Supermarkt in der "Broicher Mitte", schrittweise anzueignen. Zentrale Themen des Ruhrgebiets werden da schon angesprochen: Zuwanderung, Integration, Strukturwandel, fließende Stadtgrenzen, Siedlungsbrei, Wohlstandsgefälle, ÖPNV, Fußball.
Die Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet bewegen sich zwischen den Genres und sind so etwas wie journalistische Erzählungen: Einerseits erfindet Schulze nichts (hinzu), andererseits beobachtet er sich in seiner Rolle. Oft genügt ein äußerer Anlass, um einen Faden aufzunehmen und fortzuspinnen: Ein Konzert im Alfried-Krupp-Saal der Essener Philharmonie führt zum Namensgeber, dann in die Villa Hügel und zur Geschichte des Unternehmens, zu dessen Rolle in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, dem letzten Erben Arndt von Bohlen und Halbach, der Stiftung unter Berthold Beitz und dessen Ostpolitik und weiter zum Arbeitskampf in Rheinhausen, dem Duisburger Hafen, dessen Manager Erich Staake und der Zugverbindung nach China bis nach Ruhrort, zu Franz Haniel und der Dichterin Barbara Köhler - ein Fluss von Geschichten, der munter mäandert, bis er im "Rheinorange" des Abendhimmels glänzt. Dann sitzt Schulze noch einmal im Alfried-Krupp-Saal, nun in einer Ecke der Orchesterbühne, um eine Innenansicht des Klangkörpers zu geben und das Publikum von vorne zu beobachten: "Betrachtungen eines musikalischen Dilettanten".
Was Schulze mitbringt, sind Offenheit, Humor und sein schwarz-gelbes Trikot - das Ruhrgebiet springt darauf an: "Dat is hier so, wir sagen du." Wenn ihm ein gleichaltriger Landsmann aus Leipzig von seiner abenteuerlichen Flucht im Juli 1989 über Budapest in den Westen erzählt, dann wird eine deutsch-deutsche Momentaufnahme daraus; wenn er neben dem Polizeipräsidenten a. D. das "Risikospiel" Rot-Weiss Essen gegen den Halleschen FC verfolgt, absolviert er einen Schnellkurs über Clankriminalität; wenn er sich vom Seniorchef eines Sanitärbetriebs durch Gelsenkirchen chauffieren lässt, gerät das zu einer Zeitreise durch die Wirtschaftswunder- und Kohlenkrisenjahre der Stadt, deren Scheitelpunkt das Theater mit den "blauen Dingern" von Yves Klein markiert. Und wenn er anschließend auf Schalke-Tour geht, lernt er zwischen St. Joseph und der Kampfbahn Glückauf den irischen Bergbauingenieur Thomas William Mulvany und eine moderne Interpretation des Schalker Kreisels kennen. Schulze belässt es nicht bei Anekdoten.
In der Buchhandlung, die ein Flugbegleiter der Lufthansa in Essen-Holsterhausen eröffnet hat, begegnet Schulze dem Juristen der Wasserwerke Mülheim, der mit ihm zum Wasserturm Aquarius radelt und ihn an die Emscherkläranlage Bottrop vermittelt. In der nächsten Buchhandlung in Kettwig ruft ein Wilhelm-von-Kügelgen-Abend Erinnerungen an seine Anfänge als Autor auf, und in der "Weltbühne" in Duisburg-Neudorf, der "letzten linken Buchhandlung weit und breit", deckt er sich mit Büchern ein, von "denen ich gar nicht wusste, dass ich sie gesucht habe". Mit einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten trifft er sich in Dortmund-Hörde, wo das Stahlwerk Phoenix-Ost für ein Villenviertel am See abgeräumt wurde, und zeichnet den Werdegang des nonkonformen Politikers nach, der sich gegen das Partei-Establishment durchgesetzt und schließlich "keinen anderen Weg mehr gesehen hat, als aus der SPD auszutreten".
So geht es kreuz und quer. Schulze nimmt das Ruhrgebiet, wie es kommt. Reportage, Porträt, Stadterkundung, Ortsbesichtigung, Lektüreeindrücke, Essay, Theaterkritik - manches ist durchkomponiert, anderes schnell heruntergeschrieben. Zwei herausragende unter den neunzehn Texten berichten von Schulen in sozialen Brennpunkten, die sich als Leuchttürme der Bildungsgerechtigkeit erweisen: die "Grundschule im Dichterviertel" in Mülheim, mit der sich ihre Leiterin die "kaputteste Schule weit und breit ausgesucht" und sie so neu konzipiert hat, dass sie "unter die fünf besten Schulen Deutschlands" gewählt wurde, und die Gemeinschaftsgrundschule Sandstraße in Duisburg-Marxloh, wo neunzig Prozent der Erstklässler aus prekären und instabilen Familien kommen, kaum Deutsch sprechen und über Musik- und Tanzunterricht (Schönberg, Bartók, Ligeti) an das Lernen und die Sprache herangeführt werden.
Die Dramaturgie des Aufenthalts und des Buches setzt den Ausflug nach Marxloh, dem "einzigen Ort im Ruhrgebiet, vor dem ich eindringlich gewarnt wurde", an den Schluss. "Es wäre mir auch nicht schwergefallen, weitere sechs Monate oder gar sechs Jahre damit zuzubringen, das Ruhrgebiet besser kennenzulernen", schreibt Schulze im Epilog. Die Helden der Wirklichkeit, die er jenseits der Skyline aus aufgereihten Wahrzeichen, die den Buchumschlag ziert, erkundet, heißen nicht Beitz oder Staake, nicht Willy "Ente" Lippens, Mesut Özil oder Kloppo, die auch vorkommen, sondern Nicola Küppers und Klaus Hagge. Starke Persönlichkeiten einer vielfältigen Region. Ruhrgebiet eben. ANDREAS ROSSMANN
Ingo Schulze: "Zu Gast im Westen". Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2024. 344 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein tolles Buch für alle, die den Westen neu kennenlernen wollen.« (Christian Rabhansl, DLF Kultur, 24.02.2024) »wunderbar unprätentiöse und aufgeschlossene, der eigenen Neugier folgende und den darin auftauchenden Menschen zugewandte Texte.« (Ulrich Rüdenauer, MDR Kultur, 28.02.2024) »Nach der Lektüre verstehen auch Zugereiste noch ein bisschen besser, warum sie gerne hier leben.« (Hannes Krauss, WAZ, 29.02.2024) »Ingo Schulze ist ein Gast, wie man ihn jedem Ort nur wünschen kann, bescheiden, neugierig, mit viel Sinn auch für die nicht marktgängige Schönheit.« (Sonja Zekri, Süddeutsche Zeitung, 25.03.2024) »Ingo Schulzes Buch ist nicht einfach eine Fahrt ins Ruhrgebiet, es ist auch eine innerdeutsche Gedankenreise. Im besten Fall schauen Ost und West mit den Augen des anderen aufeinander.« (Ulf Kalkreuth, rbb Kultur, 13.04.2024) »Es ist ein neugieriger, wohlwollender und auch humorvoller Blick, mit dem Schulze seinen vorübergehenden Wohnort wahrnimmt.« (Dirk Hohnsträter, WDR3, 12.04.2024) »Schulzes teilnehmende Beobachtungen sind so detailfreudig, dass selbst Kenner des Ruhrgebiets noch Neues erfahren dürften. (...) eine 350-seitige Liebeserklärung an eine proletarisch ehrliche Region« (Oliver Jungen, Deutschlandfunk, 17.04.2024) »Lange wurde er nicht mehr so bewundernd umgarnt, der Post-Schimanski-Ruhrpott, wie von einem Gast aus dem Osten.« (Oliver Jungen, Deutschlandfunk, Büchermarkt, 17.04.2024) »(Ingo Schulzes) ostdeutsche Perspektive ist interessant und einmalig, weil er mit der gemeinsamen Erfahrung permanenten Wandels Vergleichbares entdeckt« (Markus Steinmayr, der freitag, 26.04.2024) »Ingo Schulze betrachtet sein Forschungsfeld neugierig und unvoreingenommen, verantwortungsbewusst und akribisch.« (Karin Grossmann, Sächsische Zeitung, 09.04.2024) »Schulze macht Lust aufs Ruhrgebiet.« (Thomas Klatt, Märkische Oderzeitung, 18.05.2024) »wunderbar unprätentiöse und aufgeschlossene, der eigenen Neugier folgende und den darin auftauchenden Menschen zugewandte Texte (...). Wer das Ruhrgebiet noch nicht kennt: Mit dem Blick des aufmerksamen Gastes aus dem Osten wird es einem ein Stückchen nähergebracht.« (Ulrich Rüdenauer, Südwest Presse, 08.06.2024) »Über seine inhaltliche Stärke hinaus ist dieses Buch hervorragend geschrieben. Die Weisheit des Schriftstellers Ingo Schulze, sein Gespür für gute Geschichten, seine prägnante Sprache verwandeln diese Ruhrgebietstexte in fesselnde Erzählungen.« (Cornelia Geißler, Berliner Zeitung, 11.06.2024) »dieser Einblick aber ist eine Bereicherung der deutsch-deutschen Erzählungen.« (Cornelia Geissler, Frankfurter Rundschau, 12.06.2024) »eine überaus lesenswerte Sammlung origineller Beobachtungen und ungewöhnlicher Porträts« (Hannes Krauss, Literaturkritik, 15.07.2024) »Ingo Schulze ist ein sehr zugewandter, grundsympathischer Gast im Westen.« (Holger Moos, Goethe-Institut, August 2024)