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Die 90er-Jahre sind mehr als Piercing und Techno, Buffalo-Schuhe und Neonazis. Dieses stilprägende Jahrzehnt ist zum Scharnier zwischen zwei Zeitaltern geworden: Seine Bewohner vollzogen die Deutsche Einheit, erfanden das Internet, bewunderten die totale Sonnenfinsternis, feierten die Loveparade in Berlin, jubelten den Spice Girls und Nirvana zu, schufen einen nie gekannten Aktienboom und waren im TV live dabei, als Sarajevo beschossen und Helmut Kohl abgewählt wurde. Joachim Hentschel berichtet von den ersten Raves, spricht mit VIVA-Moderatorinnen, besucht Revival-Partys, liest in alten…mehr

Produktbeschreibung
Die 90er-Jahre sind mehr als Piercing und Techno, Buffalo-Schuhe und Neonazis. Dieses stilprägende Jahrzehnt ist zum Scharnier zwischen zwei Zeitaltern geworden: Seine Bewohner vollzogen die Deutsche Einheit, erfanden das Internet, bewunderten die totale Sonnenfinsternis, feierten die Loveparade in Berlin, jubelten den Spice Girls und Nirvana zu, schufen einen nie gekannten Aktienboom und waren im TV live dabei, als Sarajevo beschossen und Helmut Kohl abgewählt wurde. Joachim Hentschel berichtet von den ersten Raves, spricht mit VIVA-Moderatorinnen, besucht Revival-Partys, liest in alten BRAVO-Ausgaben - und ergründet so die Seele eines Jahrzehnts, das historisch eingeklemmt zwischen Mauerfall und 9/11 sehnlichst darauf wartet, von uns wiederentdeckt zu werden.
Autorenporträt
Hentschel, Joachim§
Joachim Hentschel, Jahrgang 1969, erlebte die 90er-Jahre in Deutschland, England und den USA, schrieb erste Reportagen und sah angeblich dem Sänger Beck ähnlich. Später arbeitete er als Journalist für die Süddeutsche Zeitung, GQ, Rolling Stone, Wired und Business Punk. Zu seinen Interviewpartnern zählten 90er-Ikonen wie Robbie Williams, Juliette Lewis, Harald Schmidt, David Lynch, Ewan McGregor, die Fantastischen Vier und Blümchen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2019

Freiheit
bedeutet Stress
Techno, „Akte X“, Jean Baudrillard:
Joachim Hentschels Kompendium der Neunziger
VON JONAS LAGES
Das Denken in Dekaden ist eine angenehme Sache. Seit einigen Jahren ist besonders in der Mode und im Pop die Rückkehr der Neunziger nicht mehr zu übersehen. Acid-Washed-Jeans – hier, vier Staffeln „Friends“ auf Netflix durchschauen – da. Demna Gvasalia etwa, der 1981 geborene Chefdesigner von Balenciaga, betreibt gerade mit seinen Kollektionen genauso teure wie erfolgreiche Erinnerungsarbeit: er lässt die Kleidung seiner Jugend in Georgien wiederaufleben und bannt die Textur einer Epoche in Baumwolle und Polyester.
Wie aber fasst man eine Epoche in Worte und macht ein Buch daraus? Über die äußeren Ereignisse der Politik? Die inneren Entwicklungen einer Gesellschaft? Über politische Strömungen? Trends der Popkultur? Das Kino? Körperideale? Kulturtechniken? Und nimmt man dabei die Position des unbeteiligten Chronisten ein oder erzählt man aus einer subjektiven Perspektive erinnerte Erfahrungen, die womöglich stellvertretend für die Zeit, in der sie sich ereigneten, stehen?
Der Popkritiker Joachim Hentschel möchte sich auf den 320 Seiten seines Buchs über die Neunziger nicht festlegen und probiert all diese Zugänge aus. „Zu geil für diese Welt“ heißt das Buch, benannt nach einem Lied der Fantastischen Vier, mit deren Musikvideo der TV-Sender Viva 1993 startete und mit dem er sich Ende 2018 auch verabschiedete.
Die meist zwanzig- bis vierzigseitigen Kapitel behandeln jeweils ein anderes Thema. Es geht um die Wiedervereinigung, um Techno mit Berlin als seinem Zentrum, die Jugendkultur rund um den TV-Sender Viva, den Rechtsextremismus, die Figur des Antihelden, Sci-Fi-Geschichten, das Internet, den Begriff der sogenannten Spaßgesellschaft und das Neunziger-Revival der Gegenwart. Zur Halbzeit erhält man, in der Manier einer Buzzfeed-Bildergalerie, „neun wirklich gute Nachrichten aus den 90er-Jahren (und eine schlimme)“. Alle Kapitel gliedern sich dann wiederum in eine Handvoll Unterpunkte mit jeweils anderen Schwerpunkten.
Die einzig klare Eingrenzung ist eine zeitliche: es beginnt mit der „globalgalaktischen Plattenverschiebung“ der Wiedervereinigung – „Weltgeschichte zum Anfassen, Bunt-Anmalen und Sich-Reinsetzen“ – und endet mit 9/11, ausgeführt von „Möchtegernmärtyrern einer radikal-muslimischen Terrororganisation, die bis dahin nicht mal sonderlich Small-Talk-tauglich gewesen war“.
Die zentralen Motive der Kurzessays sind die Freiheit und der Optimismus, die man zwischen diesen beiden Ereignissen empfinden durfte, die Formen, in denen sie neue Selbstentwürfe und alternative Wirklichkeiten ermöglichten – und schließlich die Frage, wohin sie verschwunden sind.
Als Material dienen dafür größtenteils der zeitgenössische Journalismus und Sachbücher; gelegentlich sprechen Geistesgrößen wie Jean Baudrillard oder Francis Fukuyama halbseitige Grußworte. Zusammengehalten wird das Ganze aber mit teils szenisch ausgearbeiteten persönlichen Anekdoten. Hentschel, 1969 geboren, erlebte die Neunziger vor allem als Student in Tübingen. Den ersten Rave genießt er in einem Wäldchen der schwäbischen Provinz; seinen ersten Euro erhält er an Neujahr 2002 als Rückgeld beim Kauf eines Wurstbrots.
Dieses Buch zu lesen, fühlt sich an, als würde man in Zeitlupe eine Enzyklopädie durchblättern, in die ein paar Tagebuchseiten geklebt sind. Mit seinen wohlportionierten Wissenshäppchen ist das Buch ein genauso kurzweiliger wie ausschweifender Begleiter. Es spricht seine Leser ganz kumpelhaft von der Seite an – wie ein entfernter Verwandter, der, sonst schweigsam, nach dem vierten Bier aufdreht und aus seinen Assoziationsketten nicht mehr hinausfindet. Metaphern aus dem kulinarisch-organischen Bereich kommen genauso vor wie das Stakkato der Ortsmarkierungen aus dem Inventar der Reportage.
Die schier endlose Reihe von Themen hat freilich aber auch zur Folge, dass wenige von ihnen nähergehend betrachtet werden können. Nach dem zehnten Impulsreferat zu einem ubiquitären Protagonisten oder Kulturprodukt – Kurt Cobain, Kate Moss, „Matrix“, „Akte X“ – kann das gelegentlich ein wenig frustrieren. Und nicht immer möchte dieses Buch darüber nachdenken, was die Phänomene, die es beschreibt, bedeuten könnten oder welche Rückschlüsse sie über die Zeit, die sie hervorgebracht hat, erlauben. Anders gesagt: manchmal fühlt man sich so informiert, wie nach einer Viertelstunde bei Google.
Aber selbstverständlich kann man einem Buch nicht die veränderte Wissensordnung der Gegenwart anlasten. Nur hat die Verfügbarkeit von Wissen eben auch Auswirkungen auf die Neugier von Lesenden. Womit gesagt sein soll, dass das Abseitige, Nichtnormative, die Randphänomene und Unwägbarkeiten – also all das, was man nicht bei Wikipedia nachlesen kann, durch die veränderte Wissenshierarchie noch wichtiger und interessanter geworden ist. Denn gerade das historisch vermeintlich Banale und fernab der Hochkultur Gedeihende wirft ja oft ein Schlaglicht auf die Umstände, denen es entstammt.
Und jedes Mal, wenn sich das Buch dann fernab der Pfade des Erwartbaren bewegt, wird es richtig stark. Zu den spannendsten Stellen gehören etwa die eingestreuten Kurzanalysen von Werbespots aus den Neunzigern. Nicht erst seit Gillette seinen Kunden die toxische Männlichkeit abrasieren will, gehört die Werbung nun mal zu den größten Opportunisten des Zeitgeists. Etwa wenn Coca- Cola 1993 in das Michael-Jackson-Bashing einstimmt. Nachdem der von Pepsi gesponserte Jackson ein Konzert in Thailand wegen vermeintlicher Dehydrierung absagt, heißt es in einer Zeitungsanzeige: „Dehydriert? Einfach Coke trinken!“
Aufschlussreich ist auch jene Passage, in der sich Hentschel nach mehr als 20 Jahren eine alte Videokassette mit vier Stunden Viva-Programm ansieht und veranschaulicht, wie „die ständige Spiegelung des Kleinstädtischen im Glamour“ den Sender geprägt hat. Oder wenn er von seinen ersten Kontakten mit dem Internet in der Uni-Bibliothek berichtet, vom Aufschreiben der Adressen im Spiralblock.
Die schönste Episode des Buchs ist aber ein Treffen mit Isabel Dziobek. In den Neunzigern moderierte sie mit ihrer Zwillingsschwester Nathalie bei Viva. Heute ist sie Psychologieprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin und beschäftigt sich mit Autismus und der Erlernbarkeit von Empathie. Für Dziobek ist die Kehrseite der vielen Wahlmöglichkeiten, die die Neunziger ermöglichten, dass sie auch viele Menschen überfordern können: „Freiheit kreiert eben oft Stress“. All jene also, die die Neunziger mit halbwegs wachen Sinnen wahrgenommen haben, sollten keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse erwarten, sondern dieses überblicksartige Kompendium eher als Einladung zum Schwelgen und Auffrischen von Erinnerungen verstehen. Die Nachgeborenen dürften dagegen beruhigt sein. Sie, die Desillusionierten, haben scheinbar wohl doch nicht so viel verpasst. Den Stil der Neunziger, den haben sie ja ohnehin schon.
Joachim Hentschel: Zu geil für diese Welt. Die 90er – Euphorie und Drama eines Jahrzehnts. Piper Verlag, München 2019. 320 Seiten, 15 Euro.
Es geht um den Optimismus,
den man zwischen Mauerfall und
9/11 kurz empfinden durfte
Das Buch klingt wie ein
entfernter Verwandter, der nach
dem vierten Bier aufdreht
Den Nachgeborenen zeigt das Buch: Allzu viel haben sie nicht verpasst. Marusha auf der „Mayday IX“.
Foto: Arne Dedert/dpa
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»Ein unterhaltsamer und doch reflektierter Rückblick auf ein 'Jahrzehnt als Scharnier zwischen zwei Zeitaltern'.« SWR "kunscht!" 20181213