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Egon Bahr berichtet aus 50 Jahren seines politischen Lebens. Er erzählt von der Vergangenheit und spannt zugleich einen Bogen zur Gegenwart. Seit Ende der 50er Jahre an der Seite Willy Brandts bereitet er gedanklich eine Kursänderung der Bonner Ostpolitik vor. 1963 formuliert er vor der Evangelischen Akademie in Tutzing den "Wandel durch Annäherung". Bisher Unbekanntes berichtet Egon Bahr über seine Verhandlungen mit der Sowjetunion, Polen und der DDR, gestützt auf ein umfangreiches Archiv und private Notizen über seine politischen Aktivitäten, die oft als Geheimdiplomatie kritisiert wurden.

Produktbeschreibung
Egon Bahr berichtet aus 50 Jahren seines politischen Lebens. Er erzählt von der Vergangenheit und spannt zugleich einen Bogen zur Gegenwart. Seit Ende der 50er Jahre an der Seite Willy Brandts bereitet er gedanklich eine Kursänderung der Bonner Ostpolitik vor. 1963 formuliert er vor der Evangelischen Akademie in Tutzing den "Wandel durch Annäherung". Bisher Unbekanntes berichtet Egon Bahr über seine Verhandlungen mit der Sowjetunion, Polen und der DDR, gestützt auf ein umfangreiches Archiv und private Notizen über seine politischen Aktivitäten, die oft als Geheimdiplomatie kritisiert wurden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.1997

Wandel durch Anbiederung
Allen anderen turmhoch überlegen: Egon Bahr blickt zurück

Egon Bahr: Zu meiner Zeit. Karl Blessing Verlag, München 1996. 608 Seiten, 16 Seiten Abbildungen, 58,80 Mark.

Am 21. Dezember 1969 landete auf dem Flughafen Köln-Bonn eine Maschine der "Aeroflot". Unter den Passagieren war ein beleibter Mann mittleren Alters mit Brille und einer Pelzmütze auf dem kahlen Schädel. Ungehindert passierte der Reisende aus Moskau die Paß- und Zollkontrolle. Schon einen Tag später saß Valerij Lednew in Bonn dem Chef des Bundeskanzleramtes, Staatssekretär Egon Bahr, gegenüber.

Zu seiner Legitimation trug er ein Schreiben Willy Brandts in der Aktentasche, das er gemäß seinen Instruktionen jedoch nur für den "äußersten Fall" vorzeigen sollte. Darin schlug der Kanzler der sozialliberalen Koalition dem sowjetischen Regierungschef Alexej Kossygin einen "Austausch von vertraulichen Erwägungen" zwischen den beiden Regierungen in Bonn und Moskau vor. Lednew brauchte das Schreiben nur kurz zu erwähnen, da verstand Bahr: Der Abgesandte Moskaus kam "von ganz oben". Denn von dem Brief wußten in Bonn nur vier Personen: Bahr, der ihn entworfen, Brandt, der ihn unterschrieben, Außenminister Walter Scheel, der ihn gelesen, und Bahrs Sekretärin, die ihn abgeschrieben hatte. Kossygin, der eigentliche Adressat, hatte das Papier an Breschnew weitergeleitet. Von dessen Sekretariat wanderte es auf den Schreibtisch des KGB-Chefs Jurij Andropow.

So begann das, was Egon Bahr jetzt in seinen Erinnerungen die "operative Phase" der Bonner Ostpolitik nennt, die auf das engste mit seinem Namen und Programm verknüpft ist. Lednew war dafür der richtige Mann. Bereits 1964 hatte er als einer von zwei journalistischen Begleitern auf seiner Reise durch Westdeutschland mit Chruschtschows Schwiegersohn Alexej Adschubej das Terrain sondiert und nützliche Kontakte geknüpft. Als Mitarbeiter der 2. Hauptverwaltung des KGB, unter anderem zuständig für die Überwachung der ausländischen Korrespondenten in Moskau, reiste er unter dem unverfänglichen Deckmantel eines Journalisten. Versehen mit einem Dauervisum, wurde er zum Dauerpendler zwischen Moskau und Bonn - und zum gesuchten Gesprächspartner der Bundeskanzler Brandt und Schmidt.

Viel Mühe und Druckerschwärze verwendete Bahr in seinen Erinnerungen auf den Nachweis seiner Arglosigkeit im Umgang mit den Abgesandten Andropows. Noch als ihm später in Moskau Lednews Vorgesetzter, der KGB-General Wjatscheslaw Keworkow, als "Slawa" vorgestellt wird, interessierte ihn der Nachname nicht. Lednew hielt er für einen Mann Kossygins, "Slawa"-Keworkow für einen Mitarbeiter Breschnews. Daß beide dem KGB zuzuordnen wären, war für ihn "eher unwahrscheinlich".

Immer wieder beruft Bahr sich zu seiner Rechtfertigung auf Henry Kissinger, der als amerikanischer Sicherheitsberater ebenfalls über einen "geheimen Draht" nach Moskau verfügte. Der kleine, aber feine Unterschied: Kissingers "Spielkamerad" war mit Anatolij Dobrynin der sowjetische Botschafter in Washington - und nicht ein zwielichtiger KGB-Agent wie Lednew, den Moskaus Mann in Bonn, Valentin Falin, wie er in seinen Memoiren notiert, "für einen oberflächlichen Menschen - eben einen Journalisten" - hielt, dem er allenfalls die charakterliche Qualität eines Bohemiens mit einem ausgeprägten Hang zum süßen Leben zuerkennen mochte.

Doch es war Lednew und nicht Falin, der den Draht nach Bonn pflegte und dem Moskau auch heikle diplomatische Missionen wie die Abschiebung Solschenizyns aus der Sowjetunion anvertraute. Sein eigentlicher Chef Keworkow hielt sich diskret im Hintergrund. Reisen in das "feindliche Ausland" waren für ihn zu riskant. So traf man sich in der Vier-Sektoren-Stadt Berlin, Pücklerstraße 14, in der Dienstvilla des Bundesbevollmächtigten, argwöhnisch belauert von den Geheimdiensten der drei westlichen Schutzmächte. Auch Mielkes Stasi-Truppe war immer dabei. Offen rühmte sich ihr Chef, er wisse über jeden Schritt Bahrs und dessen sowjetischer Mittelsmänner Bescheid.

Schnell war man beim vertraulichen Genossen-Du. Bahr entwickelte sogar, wie er in seinen Erinnerungen bekennt, "starke freundschaftliche Bindungen" zu den Männern, von denen er angeblich nur die Vornamen kannte. Dabei hatte er lange gezögert, der Sozialdemokratischen Partei beizutreten. Die psychologische Hemmschwelle war für ihn die Anrede "Genosse". Er stammte aus einem gutbürgerlichen Elternhaus in Thüringen. Seine jüdische Abstammung hatte er zunächst erfolgreich verbergen können, bis er zu einem Offizierslehrgang auf eine Kriegsschule abkommandiert wurde. Aber er fand verständnisvolle Vorgesetzte und durfte seine Lehre als Großhandelskaufmann in einem Berliner Rüstungsbetrieb beenden.

Nach Kriegsende arbeitete Bahr zunächst als Reporter der kommunistischen "Berliner Zeitung", um wenig später zu dem amerikanischen Sender RIAS in West-Berlin überzuwechseln. Es folgten zehn Bonner Korrespondentenjahre mit einem kurzen Zwischenspiel als Chefredakteur des RIAS. 1960 stieß er zu Willy Brandt, der ihn zum Senatspressechef machte.

Noch war Bahr nicht im Zentrum der Macht angelangt. Aber schon spann er erste Fäden nach Ost-Berlin, wo er in dem Zweiten Sekretär der sowjetischen Botschaft "Unter den Linden", Belezkij, im Hauptberuf KGB-Resident, einen verständnisvollen Gesprächspartner fand. Mauerbau und Berlinkrise verhinderten den von Bahr heißersehnten Ausgleich zwischen Bonn und Moskau. Noch war die Zeit nicht reif für das große Spiel, das die Bundesrepublik aus den Schützengräben des Kalten Krieges direkt in die Umarmung der sowjetischen Supermacht führen sollte.

Bahr war nie ein überzeugter Anhänger der Westbindung. An Adenauer bewundert er das taktische Genie, nicht aber das Eintreten des ersten Bonner Kanzlers für das atlantische Bündnis. Mehrfach spricht er in seinen Erinnerungen von den Amerikanern abschätzig als "Amis". Am Zweiten Weltkrieg nahm er als Soldat teil, aus preußischem Pflichtgefühl, obschon er den Krieg mit Hitlers Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verloren gab. Lenin hält er für einen der "ganz Großen der Geschichte". Er war der erste Bonner Politiker, der nach dem Zeugnis Semjonows das Lenin-Mausoleum in Moskau betrat und so seinen Respekt "für unseren großen Lenin" bezeugte.

Am besten hat ihn wohl Henry Kissinger, Sicherheitsberater dreier amerikanischer Präsidenten, für Bahr nur ein "kleiner Professor", charakterisiert. In seinen bereits 1979 erschienenen "Erinnerungen" schreibt er: "Bahr war ein ungewöhnlich intelligenter Mann und vertraute selbst stark auf seine Fähigkeit, Formeln zu finden, um scheinbar ausweglose außenpolitische Situationen zu bewältigen. Er war entschlossen, die Beziehungen der Bundesrepublik zum Osten zu verbessern; er glaubte, gute Beziehungen zu sowjetischen und ostdeutschen Persönlichkeiten würden ihm bei diesen Bemühungen helfen. Seine Eitelkeit verführte ihn dazu, mit diesen Kontakten zu protzen, und das wurde von Gesprächspartnern gelegentlich zweifellos ausgenutzt. Seine Feinde - und das waren viele - warfen ihm eine prosowjetische Haltung vor; viele mißtrauten seiner angeblichen Verschlagenheit. Bahr gehörte zwar zur Linken, aber ich hielt ihn jedoch vor allem für einen deutschen Nationalisten, der Deutschlands zentrale Lage ausnutzen wollte, um mit beiden Seiten zu feilschen."

Kaum saß Bahr im Sessel des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt, nahm er sein altes Spiel wieder auf. Im Januar 1970 zum Verhandlungsführer in Moskau ernannt, legte er schon bei der ersten Unterredung mit Außenminister Andrej Gromyko im Kreml, entgegen allen diplomatischen Gepflogenheiten, seine Karten auf den Tisch, darunter das wichtigste Zugeständnis, das Bonn in Verhandlungen mit Moskau zu vergeben hatte: die Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit.

Stolz bekennt er, Gromyko habe nicht eine einzige Sachfrage aufgeworfen, die man nicht schon im Planungsstab des Auswärtigen Amtes durchgenommen habe. Schon nach dem ersten Halbsatz Gromykos habe er gewußt, was der sowjetische Außenminister sagen würde. Es wäre ohnehin keinem gelungen, ihm etwas zu verkaufen, was seinem "durchdachten Konzept" widersprach. Die Welt des Egon Bahr als Wille und Vorstellung!

Der Bonner Staatssekretär war leicht zu verführen. Seine Eitelkeit - nach einem Bonmot von Jürgen Habermas "die Dummheit der Intellektuellen" - ließ ihn die Desinformationsspiele des Moskauer Komitees für Staatssicherheit für bare Münze nehmen. Glaubte er doch, vor allen anderen einen "uneinholbaren Informationsvorsprung" zu haben: dem Sachverstand der von ihm als "Bedenkenträger" abqualifizierten Diplomaten, den Informationen der "unwichtigen Dienste", den Analysen der journalistischen "Kremlastrologen".

Er, Bahr, stand turmhoch über allen anderen. Er wußte, daß Podgorny "ein Gegner" war, es Spannungen zwischen Breschnew und Kossygin gab, Chruschtschow von Rapallo träumte. Er kannte die "verborgenen Pluralismen", die es in der Kremlführung gab, "wie in westlichen Gesellschaften auch".

Er konnte es sich sogar leisten, den sowjetischen Regierungschef Kossygin in einer eigens für ihn inszenierten Verhandlungskomödie "an der Nase herumzuführen", wie wir aus den Erinnerungen Keworkows erfahren. Bahr habe, als er Kossygin im Kreml gegenübersaß, den "unbezähmbaren Wunsch" verspürt, Kossygin unter dem Tisch anzustoßen oder ihm zuzuzwinkern, um ihm zu verstehen zu geben, das Ganze sei nur zum Spaß inszeniert, und zwar nicht für ihn, sondern für den sowjetischen Regierungschef.

Denn er, Bahr, war im geheimen Bunde mit der mächtigsten Institution des Landes, dem Generalsekretär und seinem Geheimdienstchef. Von welcher Qualität die Botschaft war, die Andropows Abgesandte über den "geheimen Kanal" nach Bonn übermittelten, erhellt das fast idyllische Bild eines "Friedensfürsten", das Bahr in seinen Erinnerungen von Breschnew zeichnet. Er attestiert ihm nicht nur eine russische Seele, große Emotionen und großzügige Gesten, auch einen Schuß Brutalität, ohne den "das russische Riesenreich wohl nicht zusammengehalten und regiert werden könne". Breschnew habe die "jahrzehntelange Linie der sowjetischen Aufrüstung gebrochen und so den notwendigen Übergang zu Gorbatschow vollzogen". "Für den Weltfrieden war Breschnew ein Gewinn."

Kaum glaublich, aber in Bahrs Memoiren findet sich kein Wort über die Führungs- und Richtungskämpfe, die das Moskauer Politbüro in den sechziger und siebziger Jahren erschütterten; nichts von der konsequenten Ausschaltung all derer, die Breschnew in die kollektive Kremlführung einbinden wollten und sich seinem Griff nach der Alleinherrschaft widersetzten. Kein Wort von Breschnew als dem Würger von Prag und dem Schlächter von Afghanistan; nichts von Rüstungsexpansion, Revolutionsexport und wirtschaftlicher Stagnation der Breschnew-Ära. Dafür das ganze auf sozialdemokratische Gemütsbedürfnisse zugeschnittene idyllische Bild einer sowjetischen Friedensmacht. Gehirnwäsche in Vollendung!

Am Ende beschleichen Bahr selbst Zweifel an der Stimmigkeit seiner Politik des "Wandels durch Annäherung". Der Wandel fand nicht statt. Aus Annäherung war Anbiederung geworden, aus Geheimdiplomatie Geheimdienstdiplomatie. "Die Antennen hatten zwar genügend Signale empfangen", so Bahr heute, "aber die Auswertung war mangelhaft. Ich erkannte nicht, daß reif wurde, was mit dem Wandel durch Annäherung angestrebt wurde. Ich war blind für die Situation, als sie unvermutet eintrat. Die Geschichte ist anders gelaufen." BOTHO KIRSCH

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