Der zweijährige Karl entdeckt die Welt. Liebevoll begleitet sein Vater die Expeditionen durch Wohnung, Spielplatz und Geschäfte und erinnert sich dabei an seine eigenen Kindheit und deren Gegenstandswelt, die er unbedingt bewahren will. Seine Partnerin Klara, die in der Denkmalschutzbehörde arbeitet, schickt derweil Erziehungsanweisungen per SMS. Ein komischer und berührender Roman über die Suche nach Schönheit, die Melancholie des Verschwindens und das Finden des Glücks.
buecher-magazin.deEr heißt Karl und ist zwei Jahre alt, der Mensch, der das Leben des Ich-Erzählers gründlich dominiert. Der Erzähler ist nämlich Karls Vater. Karls Mutter Klara geht arbeiten, während Karl und sein Vater gemeinsam den Tag bestreiten. Aber davon handelt "Zuckersand" eigentlich gar nicht. Wenn man unbedingt eine Handlung finden will, so besteht die wohl darin, dass Karl und sein Vater aus dem Haus gehen, und am Ende des Buches kommt Karls Mutter ihnen entgegen. Das meiste dazwischen ist, erzählchronologisch betrachtet, eine Abschweifung. Thematisch hingegen umkreisen alle Abschweifungen dasselbe Zentrum, nämlich Karl und sein Kindsein. Der Sohn weckt im Erzähler tausenderlei Erinnerungen. Daran, wie er Schulkameraden die Milchzähne klaute, oder wie es auf dem Plumpsklo der Großeltern roch. Und immer wieder wird das Straßenpflaster vor dem Haus betrachtet, denn die kleinen Dinge in der Umgebung sind wichtig, wenn man mit einem Zweijährigen unterwegs ist und sich seinem Tempo anpasst. Dass die Gedanken dabei abschweifen, ist nur natürlich; und wenn einer das auch noch so aufschreiben kann wie Jochen Schmidt, dann ist das so schön, dass man glatt neidisch werden könnte. Jedenfalls, wenn man zu denen gehört, die gerade keinen Zweijährigen zu Hause haben.
© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
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»Eine Feier des Augenblicks (...) eine hinreißende Erzählung.« Alexander Solloch, NDR Kulturjournal
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2017Der Vater aller Dinge, seine Frau und sein Sohn
Wie selten man Hammer kauft: Jochen Schmidts Roman "Zuckersand" inventarisiert die Ordnung unserer Welt
Eines Tages, so heißt es ja immer in Spielfilmen, wenn Väter ihren Söhnen titanisch einen Arm um die Schulter legen und mit dem anderen eine ausholende Geste über Ländereien, Stallungen oder Geldspeicher hinweg machen, "eines Tages, mein Sohn, wird das alles hier dir gehören!" In "Zuckersand", dem neuen Roman des Berliner Schriftstellers Jochen Schmidt, schaut der Vater seinen Sohn an und denkt: "Eines Tages wird er von ganz allein eine heiße Scheibe Toastbrot durch die Küche zum Tisch transportieren, indem er sie immer wieder hochwirft."
Und das ist natürlich die größtmögliche Erbschaft, die es gibt - viel größer, als es eine Ranch oder ein Ölimperium wäre: ein aufmerksames, allergisches Bewusstsein für die Rituale und Regeln des Alltags zu besitzen. Was der namenlos bleibende Vater aus Schmidts Buch seinem kleinen Sohn Karl mit auf den Weg gibt, sind Kulturtechniken, die sich wie von selbst vererben, ohne dass man so recht wüsste, wer sie einem eigentlich beibringt; man erlernt sie nebenbei, weil man sie eben braucht, ohne darauf zu achten. Aber der Vater tut es, er achtet noch auf das Geringste, und er wird dafür sorgen, dass sein Sohn es auch tun wird. Und darum geht es in "Zuckersand", einem Roman, der weitgehend ohne klassische Handlung bleibt, es passiert also nichts, was sich nacherzählen ließe: Um das magische Denken geht es, das uns mit unseren Dingen verbindet, um die Weltgesetze des Alltags, die niemand schreibt, aber jeder kennt: Also zum Beispiel jenes, dass man heißes Toastbrot mit spitzen Fingern durch die Luft werfen muss. Oder dass man Q-Tips im Ohr bewegt, als würde man Zuckerwatte auf einen Stab drehen. Es sind solche Kleinstdinge des Lebens, die organisieren, wie wir durch dieses Leben gehen, die aber unbemerkt im ewigen Tag-für-Tag verschwinden, obwohl sie uns viel mehr Halt geben als eine sauber durchargumentierte Philosophie beispielsweise oder eine radikal eindeutige politische Haltung. Auch ein Stalinist steht ja morgens vor dem Problem, dass sein gerösteter Toast von A nach B muss.
Wer sich auf Jochen Schmidts neuen Roman einlässt, der findet dort Seite für Seite mikroskopische Betrachtungen komplett normaler Dinge, die man aber so noch nicht gesehen hat, bis man sie mit den Augen dieses Erzählers sieht: "Als Kind fand ich das Testbild hypnotisierend, obwohl ich nicht wußte, welche Testergebnisse es lieferte." Oder: "Es ist seltsam, daß ich Karl überall gegen seinen Willen wegtragen kann. Wenn man das mit mir machen würde!" Oder: "Wie selten im Leben man einen Hammer kauft!" Oder: "Seltsam, zu welchen Leistungen einen Faulheit anspornen kann." Oder: "Es gibt so viele weiße Flecken auf der Landkarte unseres Körpers. Die Kniekehlen. Der Bereich hinter den Ohren. Die Rückseite der hinteren Backenzähne, die sich, mit der Zunge betastet, wie ein zerklüftetes Felsmassiv anfühlt, als sei die Zunge eine mechanische Lupe."
Die Lupe des Vaters richtet sich so gut wie nie nach außen. Es gibt zwar ein Außen in diesem Roman, man versteht, dass er in unserem Jahrzehnt spielen muss, weil der Tennisprofi Novak Djokovic vorkommt. Der Vater hat auch einen Job, er ist Katalogtexter bei der "Neuen Hausfrau", und es gäbe dort für ihn sogar die Chance zum Sozialen, aber: "Mittags geht es in die Kantine, wo man zwischen ,Essen I' und ,Essen II' wählt und Teller und Nachtischschälchen auf einem Tablett zum Tisch trägt, weit genug von den Kollegen, um beim Essen träumen zu können."
Der träumende, in sich gekehrte Vater ist sich selbst genug mit seiner Frau und dem Sohn und der eingezirkelten Welt, die er so bewohnt. Das allermeiste, was in "Zuckersand" geschieht, spielt sich auf dem kleinsten Raum der Familienwohnung ab - und in den Körpern, die sie bewohnen. Und doch ist Jochen Schmidts Roman welthaltig, ein Porträt der Gegenwart, ein Gesellschaftsporträt: weil es durch die Konzentration auf das Unbemerkte und die Privatgeheimnisse seltsamer, unbefragter Gegenstände des Alltags zeigt, womit wir in Wahrheit leben, während wir denken, wir leben mit Donald Trump oder dem iPhone 7 oder Dieselgate.
Der Erzähler verschiebt also nichts weniger als die Gewichtungen der Weltwahrnehmung. Er macht - und das ist eigentlich ein uralter Magazinschreibertrick - das Kleine ganz groß und das Große ganz klein. Sein Blick ist nach innen gerichtet - das sagt etwas darüber, wie interessant er das Außen findet. Und wer den Autor Jochen Schmidt kennt, auch aus den Texten, die er für dieses Feuilleton schreibt, zuletzt über das familienspezifische Vokabular des Brettspiels "Memory", der ahnt, dass es da Verwandtschaften geben muss.
"Es ist haarsträubend, wie schön unsere Räder und auch die westlichen waren", hat Jochen Schmidt, der 1970 in Ost-Berlin geboren wurde, vor einiger Zeit im Gespräch gesagt. "Das gilt für die ganze Technik. Ich will nicht kulturpessimistisch sein, aber wenn man sich Autos anguckt, die sehen heute alle gleich aus." In "Zuckersand", das ist eine der herrlichsten Stellen im Buch, sagt der Vater: "Zur Zeit ist mein Lieblingsgegenstand eine bulgarische Rechenmaschine für Kinder, ein Blechgerät, bei dem man durch Drehen an zwei Walzen die Zahlen von 0 bis 10 multipliziert, leider kann ich schon rechnen, sonst würde ich es gerne damit lernen." Er wolle nicht kulturpessimistisch klingen, hat Schmidt in jenem Gespräch gesagt - aber nach allem, was er seinen Lesern vorsetzt, ist er es. Oder besser: verweigert er die Umarmung des kommenden Neuen, solange dem verschwindenden Alten nicht der Respekt entgegengebracht wird, zumindest einen Alterssitz in unserer Gegenwart zu erhalten. Mitkommen, bleiben zu dürfen.
Weil die Gegenstände (Fieberthermometer, Rechenmaschinen, verlorene Computertasten und Handschuhe, Glühbirnen) ja Anteil an unserem Leben hatten, weil sie unser Leben in sich aufgenommen haben. "Ich kann mich nur schwer von Dingen trennen, die mich zum Überleben brauchen", sagt der Vater, und wieder ist da eine Umkehrung im Spiel - nicht der Vater braucht die Dinge, die Dinge brauchen auch ihn. Diese gegenseitige Anverwandlung ist eine Alchemie, die Kulturhistoriker wie Wolfgang Schivelbusch seit langem erforschen: inwiefern die Dinge, die wir besitzen, zu uns werden.
Und das ist dann wirklich irgendwann keine kulturpessimistische Träumerei mehr, es widersetzt sich einer wachstumsorientierten Ordnung der Dinge. Auch der Möbelgigant Ikea untersucht seit einiger Zeit das magische Verhältnis der Menschen zu ihren Dingen: warum eine angestoßene Vase vom Flohmarkt so viel lebendiger wirkt als eine genormte, die auch nur drei Euro gekostet hat, aber zu Tausenden aufgereiht auf einer Palette steht. Weswegen Ikea jetzt begonnen hat, Unregelmäßigkeiten in seine Massenware einzuspeisen, Glasbruch für Vasen zu verwenden, um einen Fingerabdruck des Authentischen künstlich zu erzeugen - und damit Charakter und Lebenswärme. Um Geld zu verdienen.
"Ein schöner Gegenstand gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück", sagt der Vater in Schmidts Roman, "er strahlt Liebe, Würde und Unschuld aus, wie eine Kinderzeichnung. (Vielleicht ist er aber auch gerade deshalb schön, weil in ihm Liebe steckt?)" "Zuckersand" ist ein Liebesroman über einen Mann, der an seinem Weltlein und den Dingen darin hängt - es ist aber auch ein Liebesroman zwischen einem Vater und seiner Frau und dann auch noch zwischen einem Vater und seinem Sohn. Die beiden spielen zusammen, weil auch der Vater sein Kinderherz nicht verloren hat: "Karl versteckte sich hinter dem blauen Klohäuschen, ich sollte ihn suchen und rannte im Kreis, es versetzte ihn in Ekstase, wenn ich heimlich die Richtung wechselte und ihm von der anderen Seite entgegenkam. Wie sollte ich mit meinen Gefühlen für diesen Jungen leben, ohne davon vollkommen gelähmt zu werden?" In diesem Roman gibt es keinen einzigen zynischen Buchstaben.
Die ungenierten Geräusche, die sein Sohn macht, sind Schlaf- und Trostlieder für den Vater, und die Unverklemmtheit, mit der "Zuckersand" diese Geräusche und ihre Quellen aufzählt, ist emanzipatorisch - sie dienen keinem Effekt, sie würden aber fehlen, wenn der Vater sie nicht aufzählte. Der Vater selbst betrachtet seinen Körper in der gleichen ungenierten Neugier: "Beim Einschlafen wanderte ich in Gedanken durch meine Organe und stellte mir den Kampf der standhaften Antikörper gegen Armeen von Bakterien vor. Ich hätte meinen Körper gerne einmal mit einem Expeditionsteam erforscht, wie in ,Die Phantastische Reise', einem Film, der die Reize von Weltraum und Tauchereinsamkeit vereinte. Nur, daß ich eben meinen eigenen Körper bereisen wollte, und das ginge nur, wenn ich durch eine noch genauer zu überdenkende Methode der Zellteilung oder Parallelgenese eine winzige Kopie meiner selbst herstellte, die sich dann aus bereitgelegten Materialien und nach meiner vorsorglich verfaßten Anleitung ein Amphibienfahrzeug für die Erkundung meines Körpers baute."
Wer hätte so etwas nicht auch schon mal gedacht in seinem Leben? Bescheuerte Selbstexperimente haben die Menschheit immer schon weitergebracht. Auszuprobieren, was geschieht, wenn ich diesen Schlauch jetzt tief in die Vene führe, gelange ich dann ins Herz?
Das Amphibienfahrzeug, das sich der Vater wünscht, ist dieser Roman. "Zuckersand" inventarisiert Material, mit dem Schriftsteller einen Roman erzählen würden, wären sie an der Erfassung des komisch komplexen Lebens interessiert - und nicht daran, eine Geschichte zu erzählen, die in diesem Leben passiert. Jochen Schmidt ist ein Leser und Interpret von Marcel Proust, er hat auch schon darüber geschrieben, eine Mikrogeschichte darüber, wie es ist, die "Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen - aber Schmidt treibt Prousts manische Gesellschaftsinventarisierung der besseren Kreise noch weiter, transportiert sie aus dem sozialen Raum hinaus tief hinein in die Körper und die Objektbeziehungen. Es geht kaum genauer, kaum näher - bei stets größter Diskretion, selbst wenn es um Ohrenschmalz geht (und es geht um Ohrenschmalz in diesem Roman, mehr als einmal). Man fragt sich schon, was nach dieser Art des Erzählens noch kommt, Krimis im Einzellermilieu?
Das Ansingen ausgefallener oder schön beschädigter Dinge birgt trotzdem die Gefahr des Manufactorisierens. Jochen Schmidt bewahrt großer Humor davor, und eine Selbstironie, die nicht gefallen will, sondern einfach die Wahrnehmung schärft: nicht aus dem Blick zu verlieren, wie unbedeutend man ist angesichts der Wunder da draußen. "Vor dem Einschlafen", erzählt der Vater einmal - und das ist auch wieder so eine Proustsache, das Schlafengehen mit kreiselnden Gedanken -, "vor dem Einschlafen versuche ich manchmal, einen vollständigen Stammbaum meiner Schuhe anzulegen und rückwärts durchzugehen, und ich erschrecke bei dem Gedanken, daß ich vielleicht nur noch zehn Paar Schuhe im Leben brauchen werde." Dass in den Dingen nicht nur unser Leben steckt, sondern auch das Gegenteil davon, davon erzählt "Zuckersand" auch, oder, um dem Erzähler dieses feinen Buchs ein letztes Mal das Wort zu geben: "Deshalb schreibe ich ja diesen Bericht, auch wenn ich die Zeit damit nicht stoppen kann (das kann ja leider auch keine Stoppuhr)."
TOBIAS RÜTHER.
Jochen Schmidt: "Zuckersand". Roman. Mit Illustrationen von Line Hoven. Verlag C. H. Beck, 206 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie selten man Hammer kauft: Jochen Schmidts Roman "Zuckersand" inventarisiert die Ordnung unserer Welt
Eines Tages, so heißt es ja immer in Spielfilmen, wenn Väter ihren Söhnen titanisch einen Arm um die Schulter legen und mit dem anderen eine ausholende Geste über Ländereien, Stallungen oder Geldspeicher hinweg machen, "eines Tages, mein Sohn, wird das alles hier dir gehören!" In "Zuckersand", dem neuen Roman des Berliner Schriftstellers Jochen Schmidt, schaut der Vater seinen Sohn an und denkt: "Eines Tages wird er von ganz allein eine heiße Scheibe Toastbrot durch die Küche zum Tisch transportieren, indem er sie immer wieder hochwirft."
Und das ist natürlich die größtmögliche Erbschaft, die es gibt - viel größer, als es eine Ranch oder ein Ölimperium wäre: ein aufmerksames, allergisches Bewusstsein für die Rituale und Regeln des Alltags zu besitzen. Was der namenlos bleibende Vater aus Schmidts Buch seinem kleinen Sohn Karl mit auf den Weg gibt, sind Kulturtechniken, die sich wie von selbst vererben, ohne dass man so recht wüsste, wer sie einem eigentlich beibringt; man erlernt sie nebenbei, weil man sie eben braucht, ohne darauf zu achten. Aber der Vater tut es, er achtet noch auf das Geringste, und er wird dafür sorgen, dass sein Sohn es auch tun wird. Und darum geht es in "Zuckersand", einem Roman, der weitgehend ohne klassische Handlung bleibt, es passiert also nichts, was sich nacherzählen ließe: Um das magische Denken geht es, das uns mit unseren Dingen verbindet, um die Weltgesetze des Alltags, die niemand schreibt, aber jeder kennt: Also zum Beispiel jenes, dass man heißes Toastbrot mit spitzen Fingern durch die Luft werfen muss. Oder dass man Q-Tips im Ohr bewegt, als würde man Zuckerwatte auf einen Stab drehen. Es sind solche Kleinstdinge des Lebens, die organisieren, wie wir durch dieses Leben gehen, die aber unbemerkt im ewigen Tag-für-Tag verschwinden, obwohl sie uns viel mehr Halt geben als eine sauber durchargumentierte Philosophie beispielsweise oder eine radikal eindeutige politische Haltung. Auch ein Stalinist steht ja morgens vor dem Problem, dass sein gerösteter Toast von A nach B muss.
Wer sich auf Jochen Schmidts neuen Roman einlässt, der findet dort Seite für Seite mikroskopische Betrachtungen komplett normaler Dinge, die man aber so noch nicht gesehen hat, bis man sie mit den Augen dieses Erzählers sieht: "Als Kind fand ich das Testbild hypnotisierend, obwohl ich nicht wußte, welche Testergebnisse es lieferte." Oder: "Es ist seltsam, daß ich Karl überall gegen seinen Willen wegtragen kann. Wenn man das mit mir machen würde!" Oder: "Wie selten im Leben man einen Hammer kauft!" Oder: "Seltsam, zu welchen Leistungen einen Faulheit anspornen kann." Oder: "Es gibt so viele weiße Flecken auf der Landkarte unseres Körpers. Die Kniekehlen. Der Bereich hinter den Ohren. Die Rückseite der hinteren Backenzähne, die sich, mit der Zunge betastet, wie ein zerklüftetes Felsmassiv anfühlt, als sei die Zunge eine mechanische Lupe."
Die Lupe des Vaters richtet sich so gut wie nie nach außen. Es gibt zwar ein Außen in diesem Roman, man versteht, dass er in unserem Jahrzehnt spielen muss, weil der Tennisprofi Novak Djokovic vorkommt. Der Vater hat auch einen Job, er ist Katalogtexter bei der "Neuen Hausfrau", und es gäbe dort für ihn sogar die Chance zum Sozialen, aber: "Mittags geht es in die Kantine, wo man zwischen ,Essen I' und ,Essen II' wählt und Teller und Nachtischschälchen auf einem Tablett zum Tisch trägt, weit genug von den Kollegen, um beim Essen träumen zu können."
Der träumende, in sich gekehrte Vater ist sich selbst genug mit seiner Frau und dem Sohn und der eingezirkelten Welt, die er so bewohnt. Das allermeiste, was in "Zuckersand" geschieht, spielt sich auf dem kleinsten Raum der Familienwohnung ab - und in den Körpern, die sie bewohnen. Und doch ist Jochen Schmidts Roman welthaltig, ein Porträt der Gegenwart, ein Gesellschaftsporträt: weil es durch die Konzentration auf das Unbemerkte und die Privatgeheimnisse seltsamer, unbefragter Gegenstände des Alltags zeigt, womit wir in Wahrheit leben, während wir denken, wir leben mit Donald Trump oder dem iPhone 7 oder Dieselgate.
Der Erzähler verschiebt also nichts weniger als die Gewichtungen der Weltwahrnehmung. Er macht - und das ist eigentlich ein uralter Magazinschreibertrick - das Kleine ganz groß und das Große ganz klein. Sein Blick ist nach innen gerichtet - das sagt etwas darüber, wie interessant er das Außen findet. Und wer den Autor Jochen Schmidt kennt, auch aus den Texten, die er für dieses Feuilleton schreibt, zuletzt über das familienspezifische Vokabular des Brettspiels "Memory", der ahnt, dass es da Verwandtschaften geben muss.
"Es ist haarsträubend, wie schön unsere Räder und auch die westlichen waren", hat Jochen Schmidt, der 1970 in Ost-Berlin geboren wurde, vor einiger Zeit im Gespräch gesagt. "Das gilt für die ganze Technik. Ich will nicht kulturpessimistisch sein, aber wenn man sich Autos anguckt, die sehen heute alle gleich aus." In "Zuckersand", das ist eine der herrlichsten Stellen im Buch, sagt der Vater: "Zur Zeit ist mein Lieblingsgegenstand eine bulgarische Rechenmaschine für Kinder, ein Blechgerät, bei dem man durch Drehen an zwei Walzen die Zahlen von 0 bis 10 multipliziert, leider kann ich schon rechnen, sonst würde ich es gerne damit lernen." Er wolle nicht kulturpessimistisch klingen, hat Schmidt in jenem Gespräch gesagt - aber nach allem, was er seinen Lesern vorsetzt, ist er es. Oder besser: verweigert er die Umarmung des kommenden Neuen, solange dem verschwindenden Alten nicht der Respekt entgegengebracht wird, zumindest einen Alterssitz in unserer Gegenwart zu erhalten. Mitkommen, bleiben zu dürfen.
Weil die Gegenstände (Fieberthermometer, Rechenmaschinen, verlorene Computertasten und Handschuhe, Glühbirnen) ja Anteil an unserem Leben hatten, weil sie unser Leben in sich aufgenommen haben. "Ich kann mich nur schwer von Dingen trennen, die mich zum Überleben brauchen", sagt der Vater, und wieder ist da eine Umkehrung im Spiel - nicht der Vater braucht die Dinge, die Dinge brauchen auch ihn. Diese gegenseitige Anverwandlung ist eine Alchemie, die Kulturhistoriker wie Wolfgang Schivelbusch seit langem erforschen: inwiefern die Dinge, die wir besitzen, zu uns werden.
Und das ist dann wirklich irgendwann keine kulturpessimistische Träumerei mehr, es widersetzt sich einer wachstumsorientierten Ordnung der Dinge. Auch der Möbelgigant Ikea untersucht seit einiger Zeit das magische Verhältnis der Menschen zu ihren Dingen: warum eine angestoßene Vase vom Flohmarkt so viel lebendiger wirkt als eine genormte, die auch nur drei Euro gekostet hat, aber zu Tausenden aufgereiht auf einer Palette steht. Weswegen Ikea jetzt begonnen hat, Unregelmäßigkeiten in seine Massenware einzuspeisen, Glasbruch für Vasen zu verwenden, um einen Fingerabdruck des Authentischen künstlich zu erzeugen - und damit Charakter und Lebenswärme. Um Geld zu verdienen.
"Ein schöner Gegenstand gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück", sagt der Vater in Schmidts Roman, "er strahlt Liebe, Würde und Unschuld aus, wie eine Kinderzeichnung. (Vielleicht ist er aber auch gerade deshalb schön, weil in ihm Liebe steckt?)" "Zuckersand" ist ein Liebesroman über einen Mann, der an seinem Weltlein und den Dingen darin hängt - es ist aber auch ein Liebesroman zwischen einem Vater und seiner Frau und dann auch noch zwischen einem Vater und seinem Sohn. Die beiden spielen zusammen, weil auch der Vater sein Kinderherz nicht verloren hat: "Karl versteckte sich hinter dem blauen Klohäuschen, ich sollte ihn suchen und rannte im Kreis, es versetzte ihn in Ekstase, wenn ich heimlich die Richtung wechselte und ihm von der anderen Seite entgegenkam. Wie sollte ich mit meinen Gefühlen für diesen Jungen leben, ohne davon vollkommen gelähmt zu werden?" In diesem Roman gibt es keinen einzigen zynischen Buchstaben.
Die ungenierten Geräusche, die sein Sohn macht, sind Schlaf- und Trostlieder für den Vater, und die Unverklemmtheit, mit der "Zuckersand" diese Geräusche und ihre Quellen aufzählt, ist emanzipatorisch - sie dienen keinem Effekt, sie würden aber fehlen, wenn der Vater sie nicht aufzählte. Der Vater selbst betrachtet seinen Körper in der gleichen ungenierten Neugier: "Beim Einschlafen wanderte ich in Gedanken durch meine Organe und stellte mir den Kampf der standhaften Antikörper gegen Armeen von Bakterien vor. Ich hätte meinen Körper gerne einmal mit einem Expeditionsteam erforscht, wie in ,Die Phantastische Reise', einem Film, der die Reize von Weltraum und Tauchereinsamkeit vereinte. Nur, daß ich eben meinen eigenen Körper bereisen wollte, und das ginge nur, wenn ich durch eine noch genauer zu überdenkende Methode der Zellteilung oder Parallelgenese eine winzige Kopie meiner selbst herstellte, die sich dann aus bereitgelegten Materialien und nach meiner vorsorglich verfaßten Anleitung ein Amphibienfahrzeug für die Erkundung meines Körpers baute."
Wer hätte so etwas nicht auch schon mal gedacht in seinem Leben? Bescheuerte Selbstexperimente haben die Menschheit immer schon weitergebracht. Auszuprobieren, was geschieht, wenn ich diesen Schlauch jetzt tief in die Vene führe, gelange ich dann ins Herz?
Das Amphibienfahrzeug, das sich der Vater wünscht, ist dieser Roman. "Zuckersand" inventarisiert Material, mit dem Schriftsteller einen Roman erzählen würden, wären sie an der Erfassung des komisch komplexen Lebens interessiert - und nicht daran, eine Geschichte zu erzählen, die in diesem Leben passiert. Jochen Schmidt ist ein Leser und Interpret von Marcel Proust, er hat auch schon darüber geschrieben, eine Mikrogeschichte darüber, wie es ist, die "Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen - aber Schmidt treibt Prousts manische Gesellschaftsinventarisierung der besseren Kreise noch weiter, transportiert sie aus dem sozialen Raum hinaus tief hinein in die Körper und die Objektbeziehungen. Es geht kaum genauer, kaum näher - bei stets größter Diskretion, selbst wenn es um Ohrenschmalz geht (und es geht um Ohrenschmalz in diesem Roman, mehr als einmal). Man fragt sich schon, was nach dieser Art des Erzählens noch kommt, Krimis im Einzellermilieu?
Das Ansingen ausgefallener oder schön beschädigter Dinge birgt trotzdem die Gefahr des Manufactorisierens. Jochen Schmidt bewahrt großer Humor davor, und eine Selbstironie, die nicht gefallen will, sondern einfach die Wahrnehmung schärft: nicht aus dem Blick zu verlieren, wie unbedeutend man ist angesichts der Wunder da draußen. "Vor dem Einschlafen", erzählt der Vater einmal - und das ist auch wieder so eine Proustsache, das Schlafengehen mit kreiselnden Gedanken -, "vor dem Einschlafen versuche ich manchmal, einen vollständigen Stammbaum meiner Schuhe anzulegen und rückwärts durchzugehen, und ich erschrecke bei dem Gedanken, daß ich vielleicht nur noch zehn Paar Schuhe im Leben brauchen werde." Dass in den Dingen nicht nur unser Leben steckt, sondern auch das Gegenteil davon, davon erzählt "Zuckersand" auch, oder, um dem Erzähler dieses feinen Buchs ein letztes Mal das Wort zu geben: "Deshalb schreibe ich ja diesen Bericht, auch wenn ich die Zeit damit nicht stoppen kann (das kann ja leider auch keine Stoppuhr)."
TOBIAS RÜTHER.
Jochen Schmidt: "Zuckersand". Roman. Mit Illustrationen von Line Hoven. Verlag C. H. Beck, 206 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jutta Person schwelgt mit Jochen Schmidts kinderkarreschiebendem Vater im possierlichen Sein der kleinen Dinge am Wegesrand: Kiesel, Haargummis, Rohre, alles animistisch belebt in den Augen des Sachenfinders, wie Person staunt. Dass Schmidts Pantoffelheld kein Esoteriker ist, sondern ein subtiler, ironischer "Feinmechaniker", den jedes Staubsaugergeräusch ins "Universum des Rauschens und Röhrens, Klackens und Quietschens" beziehungsweise zurück in die eigene (Ost-)Kindheit beamt, macht die Lektüre für Person erst schön. Umso mehr, als Schmidt mitunter ins Apokalyptische driftet, wenn er seine Figur Trennungsszenarien aushecken oder über Rasierklingen in der Sandkiste nachsinnen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.03.2017Der Erdnussgott
Jochen Schmidt erzählt in seinem Roman „Zuckersand“ von Rohren, Saugern, Sensationen, Vater-Sohn-Freuden
und bananenförmigen Bananendosen. Dabei erweist er sich als ironischer Feinmechaniker
VON JUTTA PERSON
Seit wir mit Karl leben, überraschen mich meine Angstfantasien. Manche Eltern stecken ihre Kinder in Winteranzüge mit Plüschöhrchen an den Kapuzen, das würde für uns nicht infrage kommen, weil ein Raubvogel ihn für ein Jungtier halten, vom Himmel herabstürzen und ihn entführen könnte.“ Der Vater, der in Jochen Schmidts Roman „Zuckersand“ den Sohn durch den Großstadtdschungel schiebt – zuerst im Kinderwagen, dann auch mit Bobby-Car und Laufrad – dieser Vater ist ein pointensicherer Spaßvogel, einerseits. Aber das betrifft nur die Show-Seite, denn andererseits haben wir es mit einem verträumt schrulligen Berliner Kreativ-Wolkenkuckucksheimer zu tun, der die Brutpflege übernimmt, während die Freundin und Kindsmutter Klara einem soliden Job beim Denkmalamt nachgeht.
Der Kindsvater arbeitet eigentlich an einer Studie über Schönheit, schreibt aber vor allem Werbetexte für „Die neue Hausfrau“, einen Katalog, dessen Produktpalette vom Sicherheits-Saughaken bis zu Zier-Bierfässern reicht. Gegenstände von trister Hässlichkeit, wo doch die Dingwelt das Lebensthema des sensitiven Bordstein-Checkers ist. Die Dinge, die sich schüchtern-schön am Wegesrand darbieten und von dort aus die Synapsen befeuern, sind die heimlichen Hauptfiguren dieses episodischen, der Kinderwagenfährte folgenden Romans: magische Gegenstände wie Pflastersteine, Rohre, Staubsauger, Haargummis, Lutscherstiele, Straßenreinigungsautos, Streusandkiesel und Rolltreppen. Oder auch, zu Hause angekommen, die Beißschiene der Freundin, der Nuckel des Sohnes, die eigenen Körpersäfte. Sie alle entwickeln ein animistisches Eigenleben, wie etwa der kaputte Röhrenfernseher, der „mit dem Gesicht nach unten“ auf dem Trottoir liegt, oder das Gehirn des Icherzählers, von dem er annimmt, dass es „beim Drauftreten eine Staubwolke erzeugen würde wie ein Bovist“.
Schon das Motto des Romans macht unmissverständlich klar: Das „wahre Geheimnis des Glücks“, heißt es mit dem britischen Dichter, Sozialisten und Kunstgewerbler William Morris, bestehe „in einem echten Interesse an allen Einzelheiten des täglichen Lebens“. Wer jetzt argwöhnt, dass hier ein einfältig dauerstaunender Objekt-Esoteriker am Werk sei, hat sich zum Glück getäuscht. Es ist nicht so, dass unterschiedslos sämtliche Partikel aus Gottes schönem Mikrokosmos verherrlicht würden. Jochen Schmidts Erzähler ist ein subtiler und vor allem ironischer Feinmechaniker, dessen Rohr- und Leitungs-Elogen ins Grotesk-Surreale ausgreifen.
Freuen sich Bauarbeiter darüber, dass sie mit strahlendblauen Riesenrohren arbeiten dürfen? Dass sie das wunderbare Geräusch hören können, „wenn Schutt durch eine Murmelbahn aus ineinandergesteckten Plastikrohrelementen nach unten rauscht“? Gerade in der unschuldig grinsenden Übertreibung liegt der Charme solcher Fragen. Überhaupt, das Universum des Rauschens und Röhrens, Klackens und Quietschens: eine dreiseitige Meditation über Staubsauger-Geräusche führt zurück in die Kindheit des Protagonisten, der sich an den Klang erinnert, den eingesaugte Weihnachtsbaumnadeln erzeugen. Und an eine wütende Mutter, die mit dem Staubsaugerkopf an die Kinderzimmertür stößt und sich darüber beschwert, dass ihr niemand bei der Hausarbeit hilft.
Die Kindheit, an die sich dieser notorisch tiefenentspannte Icherzähler erinnert, war eben anders glücklich. Wenn man hüpfen wollte, gab es höchstens alte Sessel, die jemand auf die Straße gestellt hatte. Eine trampolinlose Welt, in der die Rohre grau waren und nicht blau. Entscheidendes Detail: es geht um eine Ost-Kindheit, und bei Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, ist das auf eine eulenspiegelhafte Weise unpolitisch. Über das Coming of Age in der DDR hat er immer wieder geschrieben, in seinen Romanen „Müller haut uns raus“ und „Schneckenmühle“, in dem Geschichtenband „Der Wächter von Pankow“ oder zuletzt in „Drüben und Drüben“, einem Doppel-Memoir, in dem David Wagner seine Bonner und Schmidt seine Ost-Berliner Kindheit schilderte.
Die Sehnsucht, die ihre Spuren durch den Zuckersand zieht, ist dabei weniger eine nach konkreter Familienhistorie, sondern hat vielmehr mit einem allumfassenden Nichts-Verlieren-Können zu tun. Dieser obsessive Sammler von Augenblicken, Materialzuständen und Konsistenzen kann kein Fitzelchen liegen lassen – und ähnelt darin seinem Sohn. Was den kleinen Karl angeht, kann es einem dabei schon mulmig werden. Wird er, von Helikopter-Eltern hemmungslos verzärtelt, zu einem jener wütenden Schreikinder heranwachsen, die ausrasten, wenn sie der Umwelt ihren Willen nicht aufzwingen können? „Ich wagte nicht, Karl anzusprechen, weil er sicher unwillig reagiert hätte“, heißt es, wenn er vom Wasserhahn weg und hin zum Zähneputzen dirigiert werden müsste. Die zart ironische Pointe besteht aber darin, dass es gar nicht so sehr um den Sohn geht, oder zumindest: nicht nur. Vielleicht ist Karl eher ein Medium, das dem Vater eine zweite Kindheit ermöglicht. Über neue Väter und Mütter, Distinktions-Spielzeug und Verbürgerlichung ist ja schon viel geschrieben worden; diesem Vater ist das aber schnurz. Hier geht es wortwörtlich um Rekreation. Das Ich, das Dinge mag, die sich selbst enthalten – zum Beispiel bananenförmige Bananendosen –, erschafft sich selbst neu, indem es schiebt und schiebt.
Manchmal gibt es aber auch in der friedlichen „Zuckersand“-Clowneske einen ultrakurzen Zug ins Apokalyptische; wenn etwa Richard überlegt, welche seiner Fähigkeiten im Falle einer Trennung Karl dazu bewegen könnten, sich für ihn zu entscheiden; oder wenn er einfließen lässt, dass im Kinderspielplatz-Sand (dem Sand, der beim gespielten Kakaotrinken zum „Zuckersand“ wird) einmal Rasierklingen versteckt waren. Bei solchen Ausflügen an den Rand der Idylle könnte man an Nicholson Baker denken, den amerikanischen Großmeister des Alltäglichen. In dessen Roman „Eine Schachtel Streichhölzer“ kann sich der schlaflose, sonst so gemächliche Icherzähler eine Weile nur mit Selbstmordfantasien zum Schlafen bringen.
Nackte Angst, ob vor dem eigenen Versagen oder vor der Monstrosität der Welt, bleibt dem „Zuckersand“-Daddy im Grunde fremd; sein Abdriften in die Steampunk-Welt aus selbergebastelten Sohnbeglückungen ist nur im befriedeten Alltagsmodus möglich. Ach ja, Gott gibt es übrigens auch, vom Vater aus Knete geformt, als der selber ein Kind war. Gott „hatte die Form einer Erdnuss mit Armen und Beinen, große Kulleraugen und lächelte freundlich“.
Es würde ja auch keinen Sinn ergeben, wenn der Gott der kleinen Dinge selbst etwas Großes wäre; eine kleine freundliche Erdnuss aber lässt man sich gern gefallen.
Jochen Schmidt: Zuckersand. Roman. München, C.H. Beck 2017. 206 S., 18 Euro. E-Book 13,99 Euro.
Versagensängste sind
dem Zuckersand-Daddy im
Grunde fremd
Der Vater in „Zuckersand“ befürchtet, Raubvögel könnten herabstürzen und seinen Sohn entführen.
Foto: imago/Steinach
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Jochen Schmidt erzählt in seinem Roman „Zuckersand“ von Rohren, Saugern, Sensationen, Vater-Sohn-Freuden
und bananenförmigen Bananendosen. Dabei erweist er sich als ironischer Feinmechaniker
VON JUTTA PERSON
Seit wir mit Karl leben, überraschen mich meine Angstfantasien. Manche Eltern stecken ihre Kinder in Winteranzüge mit Plüschöhrchen an den Kapuzen, das würde für uns nicht infrage kommen, weil ein Raubvogel ihn für ein Jungtier halten, vom Himmel herabstürzen und ihn entführen könnte.“ Der Vater, der in Jochen Schmidts Roman „Zuckersand“ den Sohn durch den Großstadtdschungel schiebt – zuerst im Kinderwagen, dann auch mit Bobby-Car und Laufrad – dieser Vater ist ein pointensicherer Spaßvogel, einerseits. Aber das betrifft nur die Show-Seite, denn andererseits haben wir es mit einem verträumt schrulligen Berliner Kreativ-Wolkenkuckucksheimer zu tun, der die Brutpflege übernimmt, während die Freundin und Kindsmutter Klara einem soliden Job beim Denkmalamt nachgeht.
Der Kindsvater arbeitet eigentlich an einer Studie über Schönheit, schreibt aber vor allem Werbetexte für „Die neue Hausfrau“, einen Katalog, dessen Produktpalette vom Sicherheits-Saughaken bis zu Zier-Bierfässern reicht. Gegenstände von trister Hässlichkeit, wo doch die Dingwelt das Lebensthema des sensitiven Bordstein-Checkers ist. Die Dinge, die sich schüchtern-schön am Wegesrand darbieten und von dort aus die Synapsen befeuern, sind die heimlichen Hauptfiguren dieses episodischen, der Kinderwagenfährte folgenden Romans: magische Gegenstände wie Pflastersteine, Rohre, Staubsauger, Haargummis, Lutscherstiele, Straßenreinigungsautos, Streusandkiesel und Rolltreppen. Oder auch, zu Hause angekommen, die Beißschiene der Freundin, der Nuckel des Sohnes, die eigenen Körpersäfte. Sie alle entwickeln ein animistisches Eigenleben, wie etwa der kaputte Röhrenfernseher, der „mit dem Gesicht nach unten“ auf dem Trottoir liegt, oder das Gehirn des Icherzählers, von dem er annimmt, dass es „beim Drauftreten eine Staubwolke erzeugen würde wie ein Bovist“.
Schon das Motto des Romans macht unmissverständlich klar: Das „wahre Geheimnis des Glücks“, heißt es mit dem britischen Dichter, Sozialisten und Kunstgewerbler William Morris, bestehe „in einem echten Interesse an allen Einzelheiten des täglichen Lebens“. Wer jetzt argwöhnt, dass hier ein einfältig dauerstaunender Objekt-Esoteriker am Werk sei, hat sich zum Glück getäuscht. Es ist nicht so, dass unterschiedslos sämtliche Partikel aus Gottes schönem Mikrokosmos verherrlicht würden. Jochen Schmidts Erzähler ist ein subtiler und vor allem ironischer Feinmechaniker, dessen Rohr- und Leitungs-Elogen ins Grotesk-Surreale ausgreifen.
Freuen sich Bauarbeiter darüber, dass sie mit strahlendblauen Riesenrohren arbeiten dürfen? Dass sie das wunderbare Geräusch hören können, „wenn Schutt durch eine Murmelbahn aus ineinandergesteckten Plastikrohrelementen nach unten rauscht“? Gerade in der unschuldig grinsenden Übertreibung liegt der Charme solcher Fragen. Überhaupt, das Universum des Rauschens und Röhrens, Klackens und Quietschens: eine dreiseitige Meditation über Staubsauger-Geräusche führt zurück in die Kindheit des Protagonisten, der sich an den Klang erinnert, den eingesaugte Weihnachtsbaumnadeln erzeugen. Und an eine wütende Mutter, die mit dem Staubsaugerkopf an die Kinderzimmertür stößt und sich darüber beschwert, dass ihr niemand bei der Hausarbeit hilft.
Die Kindheit, an die sich dieser notorisch tiefenentspannte Icherzähler erinnert, war eben anders glücklich. Wenn man hüpfen wollte, gab es höchstens alte Sessel, die jemand auf die Straße gestellt hatte. Eine trampolinlose Welt, in der die Rohre grau waren und nicht blau. Entscheidendes Detail: es geht um eine Ost-Kindheit, und bei Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, ist das auf eine eulenspiegelhafte Weise unpolitisch. Über das Coming of Age in der DDR hat er immer wieder geschrieben, in seinen Romanen „Müller haut uns raus“ und „Schneckenmühle“, in dem Geschichtenband „Der Wächter von Pankow“ oder zuletzt in „Drüben und Drüben“, einem Doppel-Memoir, in dem David Wagner seine Bonner und Schmidt seine Ost-Berliner Kindheit schilderte.
Die Sehnsucht, die ihre Spuren durch den Zuckersand zieht, ist dabei weniger eine nach konkreter Familienhistorie, sondern hat vielmehr mit einem allumfassenden Nichts-Verlieren-Können zu tun. Dieser obsessive Sammler von Augenblicken, Materialzuständen und Konsistenzen kann kein Fitzelchen liegen lassen – und ähnelt darin seinem Sohn. Was den kleinen Karl angeht, kann es einem dabei schon mulmig werden. Wird er, von Helikopter-Eltern hemmungslos verzärtelt, zu einem jener wütenden Schreikinder heranwachsen, die ausrasten, wenn sie der Umwelt ihren Willen nicht aufzwingen können? „Ich wagte nicht, Karl anzusprechen, weil er sicher unwillig reagiert hätte“, heißt es, wenn er vom Wasserhahn weg und hin zum Zähneputzen dirigiert werden müsste. Die zart ironische Pointe besteht aber darin, dass es gar nicht so sehr um den Sohn geht, oder zumindest: nicht nur. Vielleicht ist Karl eher ein Medium, das dem Vater eine zweite Kindheit ermöglicht. Über neue Väter und Mütter, Distinktions-Spielzeug und Verbürgerlichung ist ja schon viel geschrieben worden; diesem Vater ist das aber schnurz. Hier geht es wortwörtlich um Rekreation. Das Ich, das Dinge mag, die sich selbst enthalten – zum Beispiel bananenförmige Bananendosen –, erschafft sich selbst neu, indem es schiebt und schiebt.
Manchmal gibt es aber auch in der friedlichen „Zuckersand“-Clowneske einen ultrakurzen Zug ins Apokalyptische; wenn etwa Richard überlegt, welche seiner Fähigkeiten im Falle einer Trennung Karl dazu bewegen könnten, sich für ihn zu entscheiden; oder wenn er einfließen lässt, dass im Kinderspielplatz-Sand (dem Sand, der beim gespielten Kakaotrinken zum „Zuckersand“ wird) einmal Rasierklingen versteckt waren. Bei solchen Ausflügen an den Rand der Idylle könnte man an Nicholson Baker denken, den amerikanischen Großmeister des Alltäglichen. In dessen Roman „Eine Schachtel Streichhölzer“ kann sich der schlaflose, sonst so gemächliche Icherzähler eine Weile nur mit Selbstmordfantasien zum Schlafen bringen.
Nackte Angst, ob vor dem eigenen Versagen oder vor der Monstrosität der Welt, bleibt dem „Zuckersand“-Daddy im Grunde fremd; sein Abdriften in die Steampunk-Welt aus selbergebastelten Sohnbeglückungen ist nur im befriedeten Alltagsmodus möglich. Ach ja, Gott gibt es übrigens auch, vom Vater aus Knete geformt, als der selber ein Kind war. Gott „hatte die Form einer Erdnuss mit Armen und Beinen, große Kulleraugen und lächelte freundlich“.
Es würde ja auch keinen Sinn ergeben, wenn der Gott der kleinen Dinge selbst etwas Großes wäre; eine kleine freundliche Erdnuss aber lässt man sich gern gefallen.
Jochen Schmidt: Zuckersand. Roman. München, C.H. Beck 2017. 206 S., 18 Euro. E-Book 13,99 Euro.
Versagensängste sind
dem Zuckersand-Daddy im
Grunde fremd
Der Vater in „Zuckersand“ befürchtet, Raubvögel könnten herabstürzen und seinen Sohn entführen.
Foto: imago/Steinach
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