Die massenhafte Auswanderung von Westdeutschen in die DDR ist ein deutsch-deutsches Tabu-Thema. Bernd Stöver geht den Motiven und Schicksalen dieser Auswanderer nach und fördert dabei - meist aus bisher verschlossenen Geheimdienst-Akten - erstaunliche und spannende Geschichten zu Tage, wie sie nur die deutsche Teilung schreiben konnte.
Bis zum Mauerbau 1961 sind mehr als eine halbe Million Westdeutsche in die DDR emigriert, darunter heute so bekannte wie Stefan Heym, Wolf Biermann, Robert Havemann, Ralph Giordano, Lothar Bisky oder Ronald Schernikau. Bis zum Mauerfall 1989 waren es jedes Jahr immer noch mehrere tausend Übersiedler.
Bernd Stöver beschreibt erstmals, was diese Bundesbürger bewogen hat, was sie erträumt haben, wovor sie geflohen sind und wie es ihnen im Arbeiter- und Bauernstaat ergangen ist. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei prominenten Auswanderern wie dem ersten westdeutschen Verfassungsschutzchef Otto John, den Spionen Günter Guillaume und Hans Wax, Offizieren und Politikern sowie den Terroristinnen Inge Viettund Susanne Albrecht, deren abenteuerlichen West-Ost-Biographien er auf der Grundlage von bisher unbekannten Akten von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nachgeht.
Bis zum Mauerbau 1961 sind mehr als eine halbe Million Westdeutsche in die DDR emigriert, darunter heute so bekannte wie Stefan Heym, Wolf Biermann, Robert Havemann, Ralph Giordano, Lothar Bisky oder Ronald Schernikau. Bis zum Mauerfall 1989 waren es jedes Jahr immer noch mehrere tausend Übersiedler.
Bernd Stöver beschreibt erstmals, was diese Bundesbürger bewogen hat, was sie erträumt haben, wovor sie geflohen sind und wie es ihnen im Arbeiter- und Bauernstaat ergangen ist. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei prominenten Auswanderern wie dem ersten westdeutschen Verfassungsschutzchef Otto John, den Spionen Günter Guillaume und Hans Wax, Offizieren und Politikern sowie den Terroristinnen Inge Viettund Susanne Albrecht, deren abenteuerlichen West-Ost-Biographien er auf der Grundlage von bisher unbekannten Akten von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nachgeht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2009Blättern in Beitrittsgebieten
Zwanzig Jahre Mauerfall - wer soll das bitte alles lesen? Ein Eilmarsch durch das Buchgebirge
Plötzlich war die Mauer wieder da. Aufgebaut aus Büchern zu zwanzig Jahren Mauerfall, DDR-Agonie, Wiedervereinigung. Und wer sitzt dahinter, ganz alleine, während alle anderen sich sonst wo rumtreiben dürfen: ich natürlich. Warum interessiert das eigentlich sonst keinen, frag' ich mich manchmal. Und dann muss ich mich aber auch fragen: Interessiert es denn mich überhaupt? Feministische Schriften werden im Wesentlichen auch nur von Frauen gelesen und oft nicht mal von denen. Nennen wir es also Pflichtbewusstsein aus Betroffenheit, gelegentlich dann aber doch wieder übergehend in brennendes Interesse: Das alles hat schließlich mit einem zu tun, man war dabei, es hat alles verändert; und direkt darauf wieder dieser entsetzliche Überdruss: Man war ja, wie gesagt, dabei, hat alles tausendmal gelesen und noch öfter selbst erzählt, es hat einem das Leben verändert - und das spricht ja im Zweifel schon mal gegen einen. Es ist mit diesen Büchern, kurz gesagt, wie mit der Sache selbst.
Fangen wir mal mit dem Erfreulichen an: Christian Saehrendt: "Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation. Studien zur Rolle der bildenden Kunst in der Auswärtigen Kulturpolitik der DDR" (Franz-Steiner-Verlag). Diese schöne konzise Studie steht nun in einer Reihe mit "Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990" (Nicolai) von Eckhard Gillen, einem westdeutschen Fachmann für ostdeutsche Kunst; daneben steht der Katalog der entschlossen einseitigen Westkunst-Ausstellung "60 Jahre, 60 Werke" (Wienand) - und dem antwortet natürlich kämpferisch die große Mappe "40 Werke aus der DDR" aus dem Verlag Neues Leben, herausgegeben von Elfriede Brüning, einer Kommunistin wirklich alten Schlags (Jahrgang 1910): "Nichts bleibt so, wie es ist. Das ist die Erfahrung meines langen Lebens. Darum blicke ich hoffnungsvoll in die Zukunft. Trotz alledem."
Herrlich breit aufgestellt unser Land, auch auf den Büchertischen, oder? Und so verhält sich das mit den anderen Titeln im Grunde auch: Das reicht von Egon Krenz' "Gefängnis-Notizen" (Edition Ost) bis zu Pfarrer Uwe Holmers Bekenntnisbuch "Der Mann, bei dem Honecker wohnte" (Hänssler): "Frau Honecker wischte, während draußen geschimpft wurde, bei uns zu Hause die Treppe."
Wer braucht da Romane?
Es sind in diesem Herbst vor allem die Zeithistoriker, die ihre Ernte präsentieren können, gereift in zwanzig Jahren Forschung. Und das alles kann man auch lesen wie einen einzigen, großen polyfokalen Achtziger-Jahre-Roman: Alle diese Bücher greifen dauernd ineinander über, sie behandeln ja auch die gleichen Themen, bieten nur verschiedene Perspektiven und setzen andere Schwerpunkte. Eine Geschichte der Mauer gibt es aus britischer Sicht und als künftiges Standardwerk (Frederick Taylor: "Die Mauer - 13. August 1961 bis 9. November 1989", Siedler) sowie als handliches Überblicksbuch (Edgar Wolfrum: "Die Mauer - Geschichte einer Teilung", C. H. Beck); Andreas Rödder erzählt in "Deutschland einig Vaterland" die "Geschichte der Wiedervereinigung" (auch C. H. Beck), während Ilko-Sascha Kowalczuk in "Endspiel" eine Geschichte der "Revolution von 1989 in der DDR" (ebenfalls C. H. Beck) vorlegt, die er zur Abwechslung einmal nicht mit den Montagsdemonstrationen beginnen lässt (oder mit Biermanns Ausbürgerung oder mit Honeckers Machtergreifung und so weiter); für ihn keimt der Umsturz stattdessen am 1. Oktober 1987, als nach dem Ausscheiden von BFC, Lok Leipzig und Dynamo Dresden in den europäischen Pokalturnieren der Platz für den Sportkommentar in der "Jungen Welt" aus Protest weiß blieb; und der Studienband "Das Land ist still - noch. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971-1989)" (Böhlau) weiß da von noch weit renitenteren Umtrieben zu berichten, wogegen Bernd Stöver, in "Zuflucht DDR" (schon wieder C. H. Beck), wissen lässt, weshalb trotzdem verblüffend viele Leute auch in dieser Richtung über die Mauer kamen - und wenn der ungarische Schriftsteller György Dalos das am Ende alles in einem noch viel größeren Panorama aufgehen lässt, indem er, Satellitenstaat für Satellitenstaat, den Zerfall und das Zertrudeln des Ostblocks beschreibt ("Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa", bei C. H. Beck, wo sonst?): Dann möchte man das eigentlich fast am liebsten einmal im Theater inszeniert sehen.
Das Angenehme an diesen Büchern ist natürlich ihre Distanz, ihre professionelle Abgeklärtheit. Selbst ein Beteiligter, ein sogenannter Bürgerrechtler wie der Pfarrer Erhard Neubert ("Unsere Revolution - Die Geschichte der Jahre 1989/90", Piper) schiebt den Jargon strenger Wissenschaftlichkeit wie eine Unterlegscheibe zwischen Stoff und Leser. Heikel wird es ja immer erst dann, wenn die berüchtigten Befindlichkeiten ins Spiel kommen und die Leute sich, wie Wolfgang Thierse das unvorsichtigerweise einmal gefordert hat, ihre Geschichten erzählen. Bei Böhlau ist in diesem Frühjahr schon ein Buch erschienen, das sich liest wie Maxi Wanders "Guten Morgen, du Schöne", nur mit Westdeutschen. Es heißt "Die Wessis - Westdeutsche Führungskräfte beim Aufbau Ost" und versammelt die zum Teil erschütternden Berichte derer, die man im Osten oft zu Unrecht als zweite Wahl, Desperados und Verbannte gebrandmarkt hat.
Wann wir schreien Seit' an Seit'
Nicht weniger erschütternd und aufschlussreich ist allerdings das, was ihre ostdeutschen Vorgänger zu berichten haben, denn schon wer Schivelbuschs "Kultur der Niederlage" gelesen hat, dem mussten ja bei der Beschreibung des amerikanischen Bürgerkriegs die Parallelen ins Auge springen; eine Studie von Stefan Zahlmann brachte beides (ebenfalls bei Böhlau) nun endlich zusammen: "Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989" ist seine Studie unterschrieben, und ihr Titel lautet: "Autobiografische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns", was im Übrigen auch über allem anderen stehen könnte, was über den Osten seit 1990 so zu lesen ist, manchmal allerdings auch mit umgekehrter Verteilung der Adjektive - und wenn da, wie Wolfgang Engler das einmal vorgeschlagen hat, am besten schon von einem Gescheitert-Werden gesprochen werden muss: Welchen Begriff nimmt man dann eigentlich für die Biographien, die der Gesellschaft zum Opfer fielen, als diese sich noch eine entwickelte sozialistische nannte? Das sechzehnjährige Mädchen, das sich regelmäßig in verschwiegenen Wochenendhäuschen unter der Bluse befummeln lassen muss von dem Mann, der es währenddessen über seine Mitschüler ausfragt; die Frau, die später wegen Verdachts auf "Republikflucht" im Gefängnis sitzt, nach der Wende eine Ausbildung zur Logopädin schafft, Patientenberichte schreiben muss, von ihrem Trauma eingeholt wird und jetzt Invalide ist: Das sind so die Geschichten aus "Black Box DDR: Unerzählte Leben unterm SED-Regime" (Marix), das unter anderem von ebenjener Ines Geipel herausgegeben wurde, die, weil sie nicht nur als Leistungssportlerin in der DDR zum Dopingopfer wurde, sondern als solches den von ihr als solche betrachteten Dopingopfern von heute auf den Wecker geht, wie ihr nicht zuletzt der ostdeutsche Diskuswerfer Robert Harting bei den Leichtathletikweltmeisterschaften in Berlin recht deutlich zu erkennen gegeben hat, jene notorische Ines Geipel also, die schon selbst wissen dürfte, dass es Schwarzbücher wie diese sind, die auf der anderen Seite die farbigen Erinnerungsfibeln an den Palast der Republik und das Sandmännchen bedingen - wenn nicht sogar den Einsatz einer Jana Hensel: "Achtung Zone - Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten" sieht genauso aus wie damals "Zonenkinder", es steht im Grunde auch das Gleiche drin, nur der Verlag heißt anders, nämlich Piper statt Rowohlt, es ist eine Art Fortsetzung mit gleichen Mitteln: Sofort ist da wieder dieses engagierte Pionierleiterinnen-Wir, dieser als nachdenklich gelten wollende Tonfall, sofort fühlt man sich sozusagen ganz wie zu Hause, und sofort muss man ihr unbedingt zustimmen, gerade dann, wenn man natürlich am liebsten auf jeder Seite einen Ausreiseantrag stellen möchte aus dieser Zwangsgemeinschaft wegen geistiger Enge, Sprachverlust und allgemeiner Muffigkeit - man muss ihr einfach zustimmen und sagen: Ja, ganz genau, bitte "anders bleiben" dürfen, das wäre über die Maßen wichtig und angenehm.
Denn wenn es etwas gibt, das einem wirklich so richtig auf den Wecker geht seit zwanzig Jahren in Deutschland, dann ist das selbstverständlich das Gejammer und das Genöle, das nostalgische Genörgel, das Ressentiment der Zukurzgekommenen, ganz allgemein also das gebückte Gehechel, das eben immer genau jene Veteranen des Westdeutschen am lautesten bewehklagen, bei denen es am ausgeprägtesten vorkommt. Der offenbar nicht ohne Grund sich so nennende Klaus Bittermann vom Tiamat-Verlag zum Beispiel, der aus dem Umschlagfoto der von ihm selbst herausgegebenen Humoristenanthologie "Unter Zonis - Zwanzig Jahre reichen jetzt so langsam mal wieder" herausschaut wie eine verlotterte Oma, die man nach all den Jahren mal von ihrem Kreuzberger Schwafelstammtisch wegschleppen und auf die Straße, in die Wirklichkeit, in die Gegenwart stellen müsste, zum Auslüften und Farbekriegen. Denn wenn selbst Kräfte wie Jenny Zylka so kilometertief unter ihren Möglichkeiten bleiben, dann stimmt vielleicht mit dem ganzen Konzept etwas nicht, und wenn das Konzept darin besteht, auch den ganz besonders Verklemmten mal ein Ventil zu öffnen, denen, die sich sonst nirgendwo trauen, ihren niederen chauvinistischen Instinkten mal ein bisschen Raum zu geben, einen durch Stahlgitter der Ironie bewehrten Raum, versteht sich, denn wir reden wie gesagt von Extremformen der Verdruckstheit, obwohl die Ossibeschimpfung ja nun wirklich das unriskanteste Gelände ist, auf dem man sich überhaupt bewegen kann, dann ist das, wenn man es recht bedenkt, noch einmal eine ganze Stufe erbärmlicher, als Negerwitze zu erzählen und dabei zur Distanzierung von Negerwitzenerzählern mit den Augen zu zwinkern.
Die alten Lieder singen
Der Osten, das kann man mal so festhalten, tut dem Westen nicht nur nicht gut, manchmal holt er auch das Schlimmste aus ihm heraus, wie diese komplexgebeutelte Jammerei von Maxim Biller über die "Deutsche Deprimierende Republik", die, vor ein paar Monaten, ausgerechnet in dieser Zeitung hier erscheinen musste, wofür ich persönlich mich bis heute schäme, weil eine derartig halt- und hemmungslose Anhäufung von ethnischen Charakterzuschreibungen seit siebzig Jahren in keiner deutschen Zeitung mehr gestanden haben dürfte; aber das alles wäre gar nicht der Rede wert, wenn die spektakuläre Dumpfheit dieses Textes nicht dummerweise so nachhaltig überdeckt hätte, dass sein Thema durchaus eins war, über das zu sprechen wäre: das Verschwinden der Bundesrepublik, wie sie vermutlich zwar auch nie war, aber wie sie jetzt in den Erinnerungen wächst - und wie man sie eben gerade im Osten kannte oder jedenfalls imaginierte und begehrte. Daniela Dahn hat über diesen Punkt allerdings ein ganzes Buch geschrieben ("Wehe dem Sieger - Ohne Osten kein Westen", Rowohlt), und in Ingo Schulzes Essaysammlung "Was wollen wir" (Berlin) kommt er ebenfalls nicht gerade zu kurz.
Mir persönlich stach er ins Auge, als jetzt der Suhrkamp-Verlag Thomas Rosenlöchers Wendetagebuch "Die verkauften Pflastersteine" wieder herausbrachte, ein Protokoll der Angst, der Euphorie, der Unsicherheit, der Freude über die Freiheit und des Erschreckens über das Deutschlandgebrüll und alles, was dann kam, der Live-Mitschnitt einer Desillusionierung, und gleichzeitig der Beleg, dem Weltgeist gewissermaßen in den Mantel geholfen zu haben, wofür man sich ja nun wirklich nicht entschuldigen muss, schon gar nicht gegenüber den Westdeutschen, die nun wirklich noch nie bei etwas dabei waren, schon gar nicht bei sich selbst.
Was wäre das für ein triumphales Suhrkamp-Taschenbuch gewesen, dachte ich mir, wenn die noch so farbig und begehrenswert sein dürften, wie sie und der Westen einmal waren. Heute sehen die Dinger ja leider sehr grau und ängstlich aus, wie ein Billig-Imprint des Aufbau-Verlags. Aber Jammern bringt ja nichts.
PETER RICHTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwanzig Jahre Mauerfall - wer soll das bitte alles lesen? Ein Eilmarsch durch das Buchgebirge
Plötzlich war die Mauer wieder da. Aufgebaut aus Büchern zu zwanzig Jahren Mauerfall, DDR-Agonie, Wiedervereinigung. Und wer sitzt dahinter, ganz alleine, während alle anderen sich sonst wo rumtreiben dürfen: ich natürlich. Warum interessiert das eigentlich sonst keinen, frag' ich mich manchmal. Und dann muss ich mich aber auch fragen: Interessiert es denn mich überhaupt? Feministische Schriften werden im Wesentlichen auch nur von Frauen gelesen und oft nicht mal von denen. Nennen wir es also Pflichtbewusstsein aus Betroffenheit, gelegentlich dann aber doch wieder übergehend in brennendes Interesse: Das alles hat schließlich mit einem zu tun, man war dabei, es hat alles verändert; und direkt darauf wieder dieser entsetzliche Überdruss: Man war ja, wie gesagt, dabei, hat alles tausendmal gelesen und noch öfter selbst erzählt, es hat einem das Leben verändert - und das spricht ja im Zweifel schon mal gegen einen. Es ist mit diesen Büchern, kurz gesagt, wie mit der Sache selbst.
Fangen wir mal mit dem Erfreulichen an: Christian Saehrendt: "Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation. Studien zur Rolle der bildenden Kunst in der Auswärtigen Kulturpolitik der DDR" (Franz-Steiner-Verlag). Diese schöne konzise Studie steht nun in einer Reihe mit "Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990" (Nicolai) von Eckhard Gillen, einem westdeutschen Fachmann für ostdeutsche Kunst; daneben steht der Katalog der entschlossen einseitigen Westkunst-Ausstellung "60 Jahre, 60 Werke" (Wienand) - und dem antwortet natürlich kämpferisch die große Mappe "40 Werke aus der DDR" aus dem Verlag Neues Leben, herausgegeben von Elfriede Brüning, einer Kommunistin wirklich alten Schlags (Jahrgang 1910): "Nichts bleibt so, wie es ist. Das ist die Erfahrung meines langen Lebens. Darum blicke ich hoffnungsvoll in die Zukunft. Trotz alledem."
Herrlich breit aufgestellt unser Land, auch auf den Büchertischen, oder? Und so verhält sich das mit den anderen Titeln im Grunde auch: Das reicht von Egon Krenz' "Gefängnis-Notizen" (Edition Ost) bis zu Pfarrer Uwe Holmers Bekenntnisbuch "Der Mann, bei dem Honecker wohnte" (Hänssler): "Frau Honecker wischte, während draußen geschimpft wurde, bei uns zu Hause die Treppe."
Wer braucht da Romane?
Es sind in diesem Herbst vor allem die Zeithistoriker, die ihre Ernte präsentieren können, gereift in zwanzig Jahren Forschung. Und das alles kann man auch lesen wie einen einzigen, großen polyfokalen Achtziger-Jahre-Roman: Alle diese Bücher greifen dauernd ineinander über, sie behandeln ja auch die gleichen Themen, bieten nur verschiedene Perspektiven und setzen andere Schwerpunkte. Eine Geschichte der Mauer gibt es aus britischer Sicht und als künftiges Standardwerk (Frederick Taylor: "Die Mauer - 13. August 1961 bis 9. November 1989", Siedler) sowie als handliches Überblicksbuch (Edgar Wolfrum: "Die Mauer - Geschichte einer Teilung", C. H. Beck); Andreas Rödder erzählt in "Deutschland einig Vaterland" die "Geschichte der Wiedervereinigung" (auch C. H. Beck), während Ilko-Sascha Kowalczuk in "Endspiel" eine Geschichte der "Revolution von 1989 in der DDR" (ebenfalls C. H. Beck) vorlegt, die er zur Abwechslung einmal nicht mit den Montagsdemonstrationen beginnen lässt (oder mit Biermanns Ausbürgerung oder mit Honeckers Machtergreifung und so weiter); für ihn keimt der Umsturz stattdessen am 1. Oktober 1987, als nach dem Ausscheiden von BFC, Lok Leipzig und Dynamo Dresden in den europäischen Pokalturnieren der Platz für den Sportkommentar in der "Jungen Welt" aus Protest weiß blieb; und der Studienband "Das Land ist still - noch. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971-1989)" (Böhlau) weiß da von noch weit renitenteren Umtrieben zu berichten, wogegen Bernd Stöver, in "Zuflucht DDR" (schon wieder C. H. Beck), wissen lässt, weshalb trotzdem verblüffend viele Leute auch in dieser Richtung über die Mauer kamen - und wenn der ungarische Schriftsteller György Dalos das am Ende alles in einem noch viel größeren Panorama aufgehen lässt, indem er, Satellitenstaat für Satellitenstaat, den Zerfall und das Zertrudeln des Ostblocks beschreibt ("Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa", bei C. H. Beck, wo sonst?): Dann möchte man das eigentlich fast am liebsten einmal im Theater inszeniert sehen.
Das Angenehme an diesen Büchern ist natürlich ihre Distanz, ihre professionelle Abgeklärtheit. Selbst ein Beteiligter, ein sogenannter Bürgerrechtler wie der Pfarrer Erhard Neubert ("Unsere Revolution - Die Geschichte der Jahre 1989/90", Piper) schiebt den Jargon strenger Wissenschaftlichkeit wie eine Unterlegscheibe zwischen Stoff und Leser. Heikel wird es ja immer erst dann, wenn die berüchtigten Befindlichkeiten ins Spiel kommen und die Leute sich, wie Wolfgang Thierse das unvorsichtigerweise einmal gefordert hat, ihre Geschichten erzählen. Bei Böhlau ist in diesem Frühjahr schon ein Buch erschienen, das sich liest wie Maxi Wanders "Guten Morgen, du Schöne", nur mit Westdeutschen. Es heißt "Die Wessis - Westdeutsche Führungskräfte beim Aufbau Ost" und versammelt die zum Teil erschütternden Berichte derer, die man im Osten oft zu Unrecht als zweite Wahl, Desperados und Verbannte gebrandmarkt hat.
Wann wir schreien Seit' an Seit'
Nicht weniger erschütternd und aufschlussreich ist allerdings das, was ihre ostdeutschen Vorgänger zu berichten haben, denn schon wer Schivelbuschs "Kultur der Niederlage" gelesen hat, dem mussten ja bei der Beschreibung des amerikanischen Bürgerkriegs die Parallelen ins Auge springen; eine Studie von Stefan Zahlmann brachte beides (ebenfalls bei Böhlau) nun endlich zusammen: "Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989" ist seine Studie unterschrieben, und ihr Titel lautet: "Autobiografische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns", was im Übrigen auch über allem anderen stehen könnte, was über den Osten seit 1990 so zu lesen ist, manchmal allerdings auch mit umgekehrter Verteilung der Adjektive - und wenn da, wie Wolfgang Engler das einmal vorgeschlagen hat, am besten schon von einem Gescheitert-Werden gesprochen werden muss: Welchen Begriff nimmt man dann eigentlich für die Biographien, die der Gesellschaft zum Opfer fielen, als diese sich noch eine entwickelte sozialistische nannte? Das sechzehnjährige Mädchen, das sich regelmäßig in verschwiegenen Wochenendhäuschen unter der Bluse befummeln lassen muss von dem Mann, der es währenddessen über seine Mitschüler ausfragt; die Frau, die später wegen Verdachts auf "Republikflucht" im Gefängnis sitzt, nach der Wende eine Ausbildung zur Logopädin schafft, Patientenberichte schreiben muss, von ihrem Trauma eingeholt wird und jetzt Invalide ist: Das sind so die Geschichten aus "Black Box DDR: Unerzählte Leben unterm SED-Regime" (Marix), das unter anderem von ebenjener Ines Geipel herausgegeben wurde, die, weil sie nicht nur als Leistungssportlerin in der DDR zum Dopingopfer wurde, sondern als solches den von ihr als solche betrachteten Dopingopfern von heute auf den Wecker geht, wie ihr nicht zuletzt der ostdeutsche Diskuswerfer Robert Harting bei den Leichtathletikweltmeisterschaften in Berlin recht deutlich zu erkennen gegeben hat, jene notorische Ines Geipel also, die schon selbst wissen dürfte, dass es Schwarzbücher wie diese sind, die auf der anderen Seite die farbigen Erinnerungsfibeln an den Palast der Republik und das Sandmännchen bedingen - wenn nicht sogar den Einsatz einer Jana Hensel: "Achtung Zone - Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten" sieht genauso aus wie damals "Zonenkinder", es steht im Grunde auch das Gleiche drin, nur der Verlag heißt anders, nämlich Piper statt Rowohlt, es ist eine Art Fortsetzung mit gleichen Mitteln: Sofort ist da wieder dieses engagierte Pionierleiterinnen-Wir, dieser als nachdenklich gelten wollende Tonfall, sofort fühlt man sich sozusagen ganz wie zu Hause, und sofort muss man ihr unbedingt zustimmen, gerade dann, wenn man natürlich am liebsten auf jeder Seite einen Ausreiseantrag stellen möchte aus dieser Zwangsgemeinschaft wegen geistiger Enge, Sprachverlust und allgemeiner Muffigkeit - man muss ihr einfach zustimmen und sagen: Ja, ganz genau, bitte "anders bleiben" dürfen, das wäre über die Maßen wichtig und angenehm.
Denn wenn es etwas gibt, das einem wirklich so richtig auf den Wecker geht seit zwanzig Jahren in Deutschland, dann ist das selbstverständlich das Gejammer und das Genöle, das nostalgische Genörgel, das Ressentiment der Zukurzgekommenen, ganz allgemein also das gebückte Gehechel, das eben immer genau jene Veteranen des Westdeutschen am lautesten bewehklagen, bei denen es am ausgeprägtesten vorkommt. Der offenbar nicht ohne Grund sich so nennende Klaus Bittermann vom Tiamat-Verlag zum Beispiel, der aus dem Umschlagfoto der von ihm selbst herausgegebenen Humoristenanthologie "Unter Zonis - Zwanzig Jahre reichen jetzt so langsam mal wieder" herausschaut wie eine verlotterte Oma, die man nach all den Jahren mal von ihrem Kreuzberger Schwafelstammtisch wegschleppen und auf die Straße, in die Wirklichkeit, in die Gegenwart stellen müsste, zum Auslüften und Farbekriegen. Denn wenn selbst Kräfte wie Jenny Zylka so kilometertief unter ihren Möglichkeiten bleiben, dann stimmt vielleicht mit dem ganzen Konzept etwas nicht, und wenn das Konzept darin besteht, auch den ganz besonders Verklemmten mal ein Ventil zu öffnen, denen, die sich sonst nirgendwo trauen, ihren niederen chauvinistischen Instinkten mal ein bisschen Raum zu geben, einen durch Stahlgitter der Ironie bewehrten Raum, versteht sich, denn wir reden wie gesagt von Extremformen der Verdruckstheit, obwohl die Ossibeschimpfung ja nun wirklich das unriskanteste Gelände ist, auf dem man sich überhaupt bewegen kann, dann ist das, wenn man es recht bedenkt, noch einmal eine ganze Stufe erbärmlicher, als Negerwitze zu erzählen und dabei zur Distanzierung von Negerwitzenerzählern mit den Augen zu zwinkern.
Die alten Lieder singen
Der Osten, das kann man mal so festhalten, tut dem Westen nicht nur nicht gut, manchmal holt er auch das Schlimmste aus ihm heraus, wie diese komplexgebeutelte Jammerei von Maxim Biller über die "Deutsche Deprimierende Republik", die, vor ein paar Monaten, ausgerechnet in dieser Zeitung hier erscheinen musste, wofür ich persönlich mich bis heute schäme, weil eine derartig halt- und hemmungslose Anhäufung von ethnischen Charakterzuschreibungen seit siebzig Jahren in keiner deutschen Zeitung mehr gestanden haben dürfte; aber das alles wäre gar nicht der Rede wert, wenn die spektakuläre Dumpfheit dieses Textes nicht dummerweise so nachhaltig überdeckt hätte, dass sein Thema durchaus eins war, über das zu sprechen wäre: das Verschwinden der Bundesrepublik, wie sie vermutlich zwar auch nie war, aber wie sie jetzt in den Erinnerungen wächst - und wie man sie eben gerade im Osten kannte oder jedenfalls imaginierte und begehrte. Daniela Dahn hat über diesen Punkt allerdings ein ganzes Buch geschrieben ("Wehe dem Sieger - Ohne Osten kein Westen", Rowohlt), und in Ingo Schulzes Essaysammlung "Was wollen wir" (Berlin) kommt er ebenfalls nicht gerade zu kurz.
Mir persönlich stach er ins Auge, als jetzt der Suhrkamp-Verlag Thomas Rosenlöchers Wendetagebuch "Die verkauften Pflastersteine" wieder herausbrachte, ein Protokoll der Angst, der Euphorie, der Unsicherheit, der Freude über die Freiheit und des Erschreckens über das Deutschlandgebrüll und alles, was dann kam, der Live-Mitschnitt einer Desillusionierung, und gleichzeitig der Beleg, dem Weltgeist gewissermaßen in den Mantel geholfen zu haben, wofür man sich ja nun wirklich nicht entschuldigen muss, schon gar nicht gegenüber den Westdeutschen, die nun wirklich noch nie bei etwas dabei waren, schon gar nicht bei sich selbst.
Was wäre das für ein triumphales Suhrkamp-Taschenbuch gewesen, dachte ich mir, wenn die noch so farbig und begehrenswert sein dürften, wie sie und der Westen einmal waren. Heute sehen die Dinger ja leider sehr grau und ängstlich aus, wie ein Billig-Imprint des Aufbau-Verlags. Aber Jammern bringt ja nichts.
PETER RICHTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Für Bernd Greiner war es eine echte Neuigkeit, dass zwischen 1949 und 1989 rund eine halbe Million Westdeutsche in die DDR übergesiedelt sind. Mit Spannung hat er also Bernd Stövers gründliche Untersuchung dieses Umstands gelesen, und hat gründlich dazugelernt. Erfahren hat er zum Beispiel, dass die wenigsten aus ideologischen Gründen in den Arbeiter- und Bauernstaat rübergemacht haben, die meisten dagegen aus persönlichen oder sozialen Gründen: Verwandtschaft im Osten, verkorkste Karrieren im Westen. Die von Stöver herausgestellten prominenten Fälle findet Greiner durchaus aufschlussreich, näher beleuchtet werden etwa der Verfassungsschutzchef Otto John, der berüchtigte Günter Guillaume oder die RAF-Terroristinnen Susanne Albrecht und Inge Viett. Lieber wäre es dem Rezensenten allerdings gewesen, wenn Stöver einige durchschnittlichere Lebenswege nachgezeichnet hätte, die Greiner Einblick in den Alltag der Rübergemachten gewährt hätten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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