Produktdetails
- Verlag: Manholt Verlag
- Originaltitel: En rade
- Seitenzahl: 196
- Abmessung: 23mm x 132mm x 205mm
- Gewicht: 330g
- ISBN-13: 9783924903220
- Artikelnr.: 07698551
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Huysmans sucht "Zuflucht" / Von Hanns-Josef Ortheil
Kurz nach Erscheinen seines Romans "A rebours" im Jahr 1884, der ihn in Frankreich berühmt machte, hielt sich Joris-Karl Huysmans zusammen mit seiner Lebensgefährtin Anne Meunier in Schloß Lourps auf dem Land, östlich von Paris, auf. Der kurze Sommeraufenthalt wurde zum Anlaß für den Roman "En rade" (Zuflucht).
Huysmans behält die Paar-Konstellation bei, aber er läßt sich durch den jüngeren Jacques Marles vertreten, der mit seiner Frau Louise vor den Gläubigern aus Paris flieht, um auf dem Land Erholung zu finden. Louise leidet - ähnlich wie Anne Meunier - an einer Krankheit, der kein Arzt auf die Spur kommt. Das Zusammenleben des Paares ist nicht einfach. Jacques hatte Louise geheiratet, um sich den häuslichen Alltag vom Leib zu halten, Louise hatte zugestimmt, weil Jacques eine gute Partie zu werden versprach. Doch längst haben sich diese Hoffnungen in ihr Gegenteil verkehrt: Jacques ist hoch verschuldet, und Louise kann den Haushalt wegen ihrer Krankheit kaum führen. Die sexuellen Freuden sind den beiden durch die Krankheit verwehrt; Jacques wird unruhig, läßt seinen Abneigungen gegen Louise immer freieren Lauf und verschanzt sich hinter Träumen und Phantasmen.
Die Ehe der beiden behandelt Huysmans mit durchdringendem psychologischen Blick. Doch wird das Bild dieser nervenaufreibenden Ehe nicht zum zentralen Thema. Dem Intimleben des Pariser Paares wird das Landleben entgegengehalten; es wird zu ihrem Verhängnis. Mit idyllischen Vorstellungen bricht man auf und gerät in Schloß Lourps von Tag zu Tag mehr in die Hölle. Die Unterkunft ist eine Zumutung, und die Landbewohner - allen voran Louises Onkel Antoine und Tante Norine, die das Schloß verwalten - sind eine Plage. Habgierig stürzen sie sich auf die empfindsamen Pariser Seelen. Von außen betrachtet, passiert nicht viel, im Innern der Gestalten aber brodelt es, bis die Trennung und die Abreise zurück nach Paris die Erlösung bringen. Großartig sind Huysmans realistische Bilder des Landlebens, die mit den städtischen Vorstellungen von den Freuden der Ernte und dem behaglichen Leben der Bauern aufräumen. Huysmans' Meisterschaft seines sozialen Blicks besteht darin, die Landbewohner als Menschen darzustellen, die sich nur um ihren Eigennutz scheren. Die Porträts des Landlebens - grandiose Skizzen von kalbenden Kühen und paarungsunwilligen Stieren, vom Billard- und Kartenspiel der Bauern und von ihren armseligen Intrigen, mit denen sie die Großstädter betrügen - sind präzis beobachtet und leuchten weit über das Erscheinungsjahr des Romans (1886) hinaus.
Verschwenderisch gestaltet sind die Wahrnehmungen der Hauptfigur. Huysmans zeichnet Schloß Lourps als einen wuchernden Kosmos mit Piranesischer Dimensionen. Jacques Marles unternimmt hier seine Spaziergänge und Fluchten. Die phantastische Szenerie ähnelt bald einem Traum, in den sie an den herausragenden Stellen des Buches auch mündet. Jacques Marles hängt Träumen von Jean Paulscher Weite nach. Anders als bei Jean Paul verglühen diese Träume nicht in einem irreal werdenden Kosmischen. Huysmans mischt seinem Helden ein virtuoses Traumgebräu aus Naturbildern, Bildungsrudimenten und erotischen Phantasien, die Jacques Marles zur Deutung reizen.
Kaum zehn Jahre vor Freuds ersten Versuchen zur Traumdeutung tauchen in Huysmans' "En rade" (1886) bohrende Fragen auf: "Besaßen Träume in ihrem hermetischen Irrsinn eine Bedeutung?" Existierte "eine zwangsläufige Verknüpfung der Ideen, die derart fein war, daß sie zwischen allen Versuchen der Analyse hindurchschlüpfte - eine unterirdische Zündschnur in der Dunkelheit der Seele, deren Funken vorwärtsglitt und mit einem Schlag lang vergessene Verliese erhellte oder seit der Kindheit unbewohnte Keller miteinander verband?"
Die poetische Wucht von Huysmans' Roman entlädt sich in den Naturbildern und Traumphantasien. Visionäre Landschaften entstehen, stets bilder- und wortreich beschworen. Jacques Marles ist ihr Erzeuger, aber auch ihr Detektiv. Seine Nervosität, sein Spürsinn verklammern die Terrains, das Private geht über ins Soziale, das Soziale in die Schichten der Bildung, die Bildung in den apokalyptischen Traum.
"En rade" ist auch ein Werk der Sprachkunst, eine Orgie seltener Namen, wissenschaftlicher Begriffe und lexikalisch wirkender Einwürfe, die den traumatischen Wanderungen des Helden eingepaßt sind wie aufglimmende Signale der Sprache, die die Wahrnehmung empfindlicher und schärfer machen.
In der schwelgerischen, genauen Übersetzung von Michael Kleeberg ist der Roman im Deutschen eine Entdeckung. Sie könnte die Lust, einen der bedeutendsten Artisten der französischen Sprache wieder zu lesen, neu entfachen.
Joris-Karl Huysmans: "Zuflucht". Aus dem Französischen übersetzt von Michael Kleeberg. Manholt Verlag, Bremen 1998. 224 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main