Sie zählen zu den bedeutendsten Politikern ihrer Generation und sie verbindet eine langjährige Freundschaft. Sie stehen für Zuverlässigkeit, wegweisende Entscheidungen und klare, oft unbequeme Positionen. Sie treffen sich - diesmal nicht zum Schachspielen, sondern um über große politische Themen zu reden, die zurzeit die Menschen bewegen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2011Der Dunst der Stunde
Der Kanzlerkandidatenkandidat bringt jetzt immer seinen Patenonkel mit: Peer Steinbrück hat ein Buch mit Helmut Schmidt gemacht - und wagt, in besonders kühnen Momenten, manchmal sogar Widerspruch
In dem Gesprächsbuch der beiden Schachspieler Helmut Schmidt und Peer Steinbrück, das nach ihrer medialen Großoffensive bei "Günther Jauch", im "Spiegel" und in der "Zeit" am Donnerstag endlich erschienen ist, gibt es eine interessante Passage über Bücher und Politik. Da erzählt Peer Steinbrück, der mit seinem Bestseller "Unterm Strich" im vergangenen Jahr auf Lesereise war, dass, wenn er von einem Literaturhaus, einer Buchhandlung oder von einer Universität zur Buchvorstellung eingeladen worden war, die Säle immer voll waren. Hatte ihn die SPD eingeladen, war höchstens ein Zehntel an Besuchern da.
Steinbrück hat darüber lange mit Sigmar Gabriel, dem Parteivorsitzenden, geredet: "Wir müssen unsere Veranstaltungsformate ändern", hat er ihm gesagt: "Klatschmarsch, Einzug, irgendein Musikstück, eine sechzigminütige agitatorische Rede, nach der die anderen immer die Vollidioten und die eigenen Leute immer die Schlaumeier sind, obwohl jeder im Publikum weiß, dass die Verteilung von Schlaumeiern und Idioten der Normalverteilung der Bevölkerung entspricht . . ."
"Das ist druckreif!", lobt Helmut Schmidt.
Welche Konsequenzen die Unterhaltung mit Gabriel für die zukünftigen SPD-Parteiveranstaltungen hat, ob man sie sich demnächst als Buchpräsentationen oder literarische Events vorstellen darf, erfährt man leider nicht. Man ahnt aber, was Peer Steinbrück auf seiner Lesereise schlagartig klargeworden sein muss. Mit Büchern lässt sich vermitteln, was die deutsche Politik braucht: Persönlichkeit und Substanz, "face and substance", wie er das amerikanisch nennt. Beides kommt selten zusammen. Meistens dann, wenn Politiker bereits außer Dienst sind. Das sei ja gerade einer der Gründe, warum Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und übrigens auch Joschka Fischer im Ansehen der Bevölkerung einen so hohen Stellenwert haben - stellt Peer Steinbrück fest. Und macht ein Buch mit Helmut Schmidt.
Die Frage ist nur, ob er sich damit einen Gefallen getan hat.
"Zug um Zug" heißt das Buch, eine Anspielung auf die Zigarettenrauch- und Schachleidenschaft der beiden Männer. Es wird wohl als das Buch in die Geschichte der SPD eingehen, in dem der Altkanzler Helmut Schmidt seinen Parteifreund Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten empfohlen hat: "Ob Ihnen das nun sonderlich in den Kram passt oder nicht, Peer. Die SPD wäre gut beraten, Sie als den Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu nominieren."
Aber das ist es dann auch schon. Darüber hinaus nämlich liest es sich wie eine weitere Staffel jener Schmidt-Show, die als Dauergespräch mit wechselnden Partnern immerzu weiterläuft, obwohl wir sie alle längst auswendig kennen. Angefangen hat das mit den "Hand aufs Herz"-Interviews, mit denen sich Sandra Maischberger als Helmut Schmidts Enkelin erfand. Mit Giovanni di Lorenzos "Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt"-Gesprächen ging es weiter und, weil's so schön war, seit einer Weile mit "Verstehen Sie das, Herr Schmidt?". Ein unerwarteter Höhepunkt war im vergangenen Jahr das Buch "Unser Jahrhundert" mit dem Historiker Fritz Stern. Jetzt ist Steinbrück dran - von den vielen Selbstgesprächen, die Helmut Schmidt zwischendurch im Alleingang publiziert hat, einmal abgesehen.
Schmidt-Gespräche gehen so: Entweder befragen die Jüngeren den altersweisen und erfahrenen Staatsmann. Sie fragen ihn bewundernd, immer freundlich, nie wirklich kritisch - was komisch zumindest dann wirkt, wenn Schmidt emphatisch betont, wie sehr er jeden Widerspruch schätzt. Oder es geht um eine Art intellektuellen Schlagabtausch, der durch die Jahrhunderte rauscht und den ganzen Globus abtastet, und zwar in der notorischen Halbdistanz des Hamburger "Sie".
Peer Steinbrück allerdings kann sich zwischen beiden Varianten nicht entscheiden. Erst stellt er seine Fragen so, als wäre Schmidt sein Patenonkel oder er selbst immer noch der "kleine Mitarbeiter im Kanzleramt", der er war, als beide sich im September 1979 das erste Mal begegneten:
"Mussten Sie in New York auf der Straße rauchen?"
"Stimmt es denn, dass Sie auch auf dem Capitol Hill geraucht haben?"
"Warum reisen Sie noch so viel in Ihrem Alter?"
Dann fährt er auf Augenhöhe mit großen Thesen auf: "Die Amerikaner müssen endlich von der Droge der Verschuldung entwöhnt werden." - "In der amerikanischen Finanzpolitik müsste ein Paradigmenwechsel vorgenommen werden." Er jongliert mit Fakten der Militärgeschichte, mit philosophischem Wissen, mit Heidegger, den er einen "Schuft" nennt, Popper, Habermas und empfiehlt dem Freund eine kunsthistorische Ausstellung. Er widerspricht auch. Aber immer verhalten, nie vehement. Und das ist dann auch das eigentlich Enttäuschende an diesem Buch. Als im vergangenen Jahr Fritz Stern mit dem Altkanzler in Berlin auftrat, um den gemeinsamen Gesprächsband "Unser Jahrhundert" vorzustellen, dankte das begeisterte Publikum Helmut Schmidt jede noch so kurze Wortintervention mit Gelächter und Zwischenapplaus.
Irgendwann verkündete Schmidt, er weigere sich, die Deutschen zwischen 1933 und 1945 über einen Kamm zu scheren und zu behaupten, sie seien alle Nazis gewesen. Es brandete ein so lang anhaltender Beifall auf, dass man sich einfach nur wundern konnte und froh war, dass Stern auch noch auf der Bühne saß. Neben dem wie zum Denkmal seiner selbst gewordenen "Helmut" wirkte der 84-jährige Stern beinahe jungenhaft, wie er da klein und agil auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Wenn auch immer noch allzu vornehm, unterbrach er jene Verehrungssehnsüchte, die dem ehemaligen Kanzler entgegenschlugen.
Genau das hat Stern Peer Steinbrück voraus. Steinbrück nämlich, das zeigt die Lektüre des Buchs, das zeigte aber auch der Auftritt bei "Günther Jauch", unterbricht die Schmidt-Show nicht. Er ist ein Teil von ihr. Das ist das Dilemma, in das er sich begibt, wenn er sich von Schmidt als Kanzlerkandidaten ausrufen lässt, was ja ein verabredeter Coup ist. Jederzeit hätte er darauf bestehen können, diese Passage wieder aus dem Buch herauszunehmen. Die Darbietung dessen, der ihm den Kanzler zutraut und ihn damit gewissermaßen als Erben einsetzt, kann er schlecht stoppen, ohne sich dabei selbst in Frage zu stellen.
So lässt er Helmut Schmidt im Gespräch alles Mögliche durchgehen: Wenn dieser ein Gespräch über Israel allen Ernstes mit den Worten abkürzt: "Ich würde uns empfehlen, das Gespräch über Israel nicht auszuweiten. Was immer wir dazu sagen, wir machen uns damit keine Freunde", dann sagt Steinbrück nicht mehr als: "Jeder kritische Satz über Israel ist in der Tat einem enormen Risiko der Missinterpretation ausgesetzt." Wenn Schmidt, als es um China geht, sagt: "Man darf die Bedeutung der Demokratie für die Weltbevölkerung nicht überschätzen. Man darf die Demokratie auch nicht übermäßig idealisieren. Demokratie ist eine sehr menschliche Einrichtung mit einer Reihe von Schwächen", will Steinbrück dies zwar nicht so stehen lassen: "Helmut, dem würde ich widersprechen." Doch kommt es zu keinem "Streit", auf den Schmidt sich gleich freut. Es bleibt bei einem höflichen Hin und Her.
Bei "Günther Jauch" wiederholte Schmidt seine China-Thesen aus dem Buch noch einmal. Die Chinesen hätten keine Meinungsfreiheit und keinen Rechtsstaat, aber (erst meint man, man habe nicht richtig gehört): "Es soll jeder nach seiner Fasson glücklich werden". Der Applaus war, wie immer bei Schmidt, groß. Es scheint ganz egal zu sein, was er sagt. Steinbrück verteidigte kurz Demokratie und Meinungsfreiheit. Die Ungeheuerlichkeit des vom Publikum gefeierten Schmidt-Schnauze-Satzes allerdings verpuffte, als wäre nichts gewesen. Man fasst das gar nicht. War Peer Steinbrück nicht eigentlich ein Mann der Widerworte? Einer, der kein Problem damit hat, sich unbeliebt zu machen?
Es gibt eine Passage in "Zug um Zug", die, wenn man den Auftritt der beiden Männer bei "Günther Jauch" gesehen hat, ziemlich komisch anmutet. Es geht dabei um die "ewigen Talkshows" im Fernsehen: Eine "Quelle der Desinformation" seien die, sagt Schmidt, und führten zur "vollkommenen Entpolitisierung des Publikums".
"Merkwürdigerweise treffe ich sehr viele Menschen, die das genauso sehen wie wir", sagt daraufhin Steinbrück, der Schmidts Auffassung teilt, Talkshows seien zu einer Art Politikersatz geworden. "Aber trotzdem gibt es diese Laberrunden, und trotzdem schalten Leute ein."
Wenn Helmut Schmidt auftritt, Bücher schreibt, Gespräche führt oder Interviews gibt, schalten auch immer alle ein und sind dabei. Es sind Laberrunden der ganz besonderen Art. Als Kettenraucher, als Hanseat, der berühmt ist für seinen Kasernenhofton, störrisch, schnoddrig, staatstragend, arrogant, hebt Schmidt sich ab. Er ist die Gegenfigur zu den linientreuen, "rundgefeilten Karrieristen" der Parteipolitik, wie Peer Steinbrück sie in seinem Buch "Unterm Strich" nennt. Die Gegenfigur zum Büroleiter als dominierendem Typus der politischen Klasse.
Steinbrück gefällt das. Und dem applaudierenden Publikum gefällt das auch. So kommt es, dass Helmut Schmidt im hohen Alter eine Sehnsucht erfüllt. Er erfüllt die Sehnsucht nach mehr Charisma in der Politik. Die Menschen verehren und bewundern ihn. Da er an der Politik allerdings längst nicht mehr aktiv teilnimmt, ohne Entscheidungs- und Machtbefugnis allein aus der Distanz des Großkommentators interveniert, erfüllt Schmidt diese Sehnsucht eher symbolisch. Es geht gar nicht so sehr darum, was er sagt. Es geht um die Performance, mit all den theaterhaften Requisiten, von den Menthol-Zigaretten bis zum Gletscherprise-Schnupftabak.
Helmut Schmidt, der Mann, der, als er Kanzler war, charismatisch nicht genannt wurde, ist gewissermaßen der Ersatz-Charismatiker, den sich die Deutschen mit gutem Gewissen leisten können.
Natürlich kann man versuchen, mit Büchern Politik zu machen, und sich von dieser Stelle aus ins Kanzleramt empfehlen lassen. Man nimmt dabei allerdings in Kauf, nur das Vehikel der Bühnenshow eines anderen zu sein. Wenn Angela Merkel "Kohls Mädchen" war, dann hat sich Peer Steinbrück, 64, in dieser Woche als "Schmidts Junge" beworben.
JULIA ENCKE
Helmut Schmidt / Peer Steinbrück: "Zug um Zug". Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 24,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kanzlerkandidatenkandidat bringt jetzt immer seinen Patenonkel mit: Peer Steinbrück hat ein Buch mit Helmut Schmidt gemacht - und wagt, in besonders kühnen Momenten, manchmal sogar Widerspruch
In dem Gesprächsbuch der beiden Schachspieler Helmut Schmidt und Peer Steinbrück, das nach ihrer medialen Großoffensive bei "Günther Jauch", im "Spiegel" und in der "Zeit" am Donnerstag endlich erschienen ist, gibt es eine interessante Passage über Bücher und Politik. Da erzählt Peer Steinbrück, der mit seinem Bestseller "Unterm Strich" im vergangenen Jahr auf Lesereise war, dass, wenn er von einem Literaturhaus, einer Buchhandlung oder von einer Universität zur Buchvorstellung eingeladen worden war, die Säle immer voll waren. Hatte ihn die SPD eingeladen, war höchstens ein Zehntel an Besuchern da.
Steinbrück hat darüber lange mit Sigmar Gabriel, dem Parteivorsitzenden, geredet: "Wir müssen unsere Veranstaltungsformate ändern", hat er ihm gesagt: "Klatschmarsch, Einzug, irgendein Musikstück, eine sechzigminütige agitatorische Rede, nach der die anderen immer die Vollidioten und die eigenen Leute immer die Schlaumeier sind, obwohl jeder im Publikum weiß, dass die Verteilung von Schlaumeiern und Idioten der Normalverteilung der Bevölkerung entspricht . . ."
"Das ist druckreif!", lobt Helmut Schmidt.
Welche Konsequenzen die Unterhaltung mit Gabriel für die zukünftigen SPD-Parteiveranstaltungen hat, ob man sie sich demnächst als Buchpräsentationen oder literarische Events vorstellen darf, erfährt man leider nicht. Man ahnt aber, was Peer Steinbrück auf seiner Lesereise schlagartig klargeworden sein muss. Mit Büchern lässt sich vermitteln, was die deutsche Politik braucht: Persönlichkeit und Substanz, "face and substance", wie er das amerikanisch nennt. Beides kommt selten zusammen. Meistens dann, wenn Politiker bereits außer Dienst sind. Das sei ja gerade einer der Gründe, warum Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und übrigens auch Joschka Fischer im Ansehen der Bevölkerung einen so hohen Stellenwert haben - stellt Peer Steinbrück fest. Und macht ein Buch mit Helmut Schmidt.
Die Frage ist nur, ob er sich damit einen Gefallen getan hat.
"Zug um Zug" heißt das Buch, eine Anspielung auf die Zigarettenrauch- und Schachleidenschaft der beiden Männer. Es wird wohl als das Buch in die Geschichte der SPD eingehen, in dem der Altkanzler Helmut Schmidt seinen Parteifreund Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten empfohlen hat: "Ob Ihnen das nun sonderlich in den Kram passt oder nicht, Peer. Die SPD wäre gut beraten, Sie als den Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu nominieren."
Aber das ist es dann auch schon. Darüber hinaus nämlich liest es sich wie eine weitere Staffel jener Schmidt-Show, die als Dauergespräch mit wechselnden Partnern immerzu weiterläuft, obwohl wir sie alle längst auswendig kennen. Angefangen hat das mit den "Hand aufs Herz"-Interviews, mit denen sich Sandra Maischberger als Helmut Schmidts Enkelin erfand. Mit Giovanni di Lorenzos "Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt"-Gesprächen ging es weiter und, weil's so schön war, seit einer Weile mit "Verstehen Sie das, Herr Schmidt?". Ein unerwarteter Höhepunkt war im vergangenen Jahr das Buch "Unser Jahrhundert" mit dem Historiker Fritz Stern. Jetzt ist Steinbrück dran - von den vielen Selbstgesprächen, die Helmut Schmidt zwischendurch im Alleingang publiziert hat, einmal abgesehen.
Schmidt-Gespräche gehen so: Entweder befragen die Jüngeren den altersweisen und erfahrenen Staatsmann. Sie fragen ihn bewundernd, immer freundlich, nie wirklich kritisch - was komisch zumindest dann wirkt, wenn Schmidt emphatisch betont, wie sehr er jeden Widerspruch schätzt. Oder es geht um eine Art intellektuellen Schlagabtausch, der durch die Jahrhunderte rauscht und den ganzen Globus abtastet, und zwar in der notorischen Halbdistanz des Hamburger "Sie".
Peer Steinbrück allerdings kann sich zwischen beiden Varianten nicht entscheiden. Erst stellt er seine Fragen so, als wäre Schmidt sein Patenonkel oder er selbst immer noch der "kleine Mitarbeiter im Kanzleramt", der er war, als beide sich im September 1979 das erste Mal begegneten:
"Mussten Sie in New York auf der Straße rauchen?"
"Stimmt es denn, dass Sie auch auf dem Capitol Hill geraucht haben?"
"Warum reisen Sie noch so viel in Ihrem Alter?"
Dann fährt er auf Augenhöhe mit großen Thesen auf: "Die Amerikaner müssen endlich von der Droge der Verschuldung entwöhnt werden." - "In der amerikanischen Finanzpolitik müsste ein Paradigmenwechsel vorgenommen werden." Er jongliert mit Fakten der Militärgeschichte, mit philosophischem Wissen, mit Heidegger, den er einen "Schuft" nennt, Popper, Habermas und empfiehlt dem Freund eine kunsthistorische Ausstellung. Er widerspricht auch. Aber immer verhalten, nie vehement. Und das ist dann auch das eigentlich Enttäuschende an diesem Buch. Als im vergangenen Jahr Fritz Stern mit dem Altkanzler in Berlin auftrat, um den gemeinsamen Gesprächsband "Unser Jahrhundert" vorzustellen, dankte das begeisterte Publikum Helmut Schmidt jede noch so kurze Wortintervention mit Gelächter und Zwischenapplaus.
Irgendwann verkündete Schmidt, er weigere sich, die Deutschen zwischen 1933 und 1945 über einen Kamm zu scheren und zu behaupten, sie seien alle Nazis gewesen. Es brandete ein so lang anhaltender Beifall auf, dass man sich einfach nur wundern konnte und froh war, dass Stern auch noch auf der Bühne saß. Neben dem wie zum Denkmal seiner selbst gewordenen "Helmut" wirkte der 84-jährige Stern beinahe jungenhaft, wie er da klein und agil auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Wenn auch immer noch allzu vornehm, unterbrach er jene Verehrungssehnsüchte, die dem ehemaligen Kanzler entgegenschlugen.
Genau das hat Stern Peer Steinbrück voraus. Steinbrück nämlich, das zeigt die Lektüre des Buchs, das zeigte aber auch der Auftritt bei "Günther Jauch", unterbricht die Schmidt-Show nicht. Er ist ein Teil von ihr. Das ist das Dilemma, in das er sich begibt, wenn er sich von Schmidt als Kanzlerkandidaten ausrufen lässt, was ja ein verabredeter Coup ist. Jederzeit hätte er darauf bestehen können, diese Passage wieder aus dem Buch herauszunehmen. Die Darbietung dessen, der ihm den Kanzler zutraut und ihn damit gewissermaßen als Erben einsetzt, kann er schlecht stoppen, ohne sich dabei selbst in Frage zu stellen.
So lässt er Helmut Schmidt im Gespräch alles Mögliche durchgehen: Wenn dieser ein Gespräch über Israel allen Ernstes mit den Worten abkürzt: "Ich würde uns empfehlen, das Gespräch über Israel nicht auszuweiten. Was immer wir dazu sagen, wir machen uns damit keine Freunde", dann sagt Steinbrück nicht mehr als: "Jeder kritische Satz über Israel ist in der Tat einem enormen Risiko der Missinterpretation ausgesetzt." Wenn Schmidt, als es um China geht, sagt: "Man darf die Bedeutung der Demokratie für die Weltbevölkerung nicht überschätzen. Man darf die Demokratie auch nicht übermäßig idealisieren. Demokratie ist eine sehr menschliche Einrichtung mit einer Reihe von Schwächen", will Steinbrück dies zwar nicht so stehen lassen: "Helmut, dem würde ich widersprechen." Doch kommt es zu keinem "Streit", auf den Schmidt sich gleich freut. Es bleibt bei einem höflichen Hin und Her.
Bei "Günther Jauch" wiederholte Schmidt seine China-Thesen aus dem Buch noch einmal. Die Chinesen hätten keine Meinungsfreiheit und keinen Rechtsstaat, aber (erst meint man, man habe nicht richtig gehört): "Es soll jeder nach seiner Fasson glücklich werden". Der Applaus war, wie immer bei Schmidt, groß. Es scheint ganz egal zu sein, was er sagt. Steinbrück verteidigte kurz Demokratie und Meinungsfreiheit. Die Ungeheuerlichkeit des vom Publikum gefeierten Schmidt-Schnauze-Satzes allerdings verpuffte, als wäre nichts gewesen. Man fasst das gar nicht. War Peer Steinbrück nicht eigentlich ein Mann der Widerworte? Einer, der kein Problem damit hat, sich unbeliebt zu machen?
Es gibt eine Passage in "Zug um Zug", die, wenn man den Auftritt der beiden Männer bei "Günther Jauch" gesehen hat, ziemlich komisch anmutet. Es geht dabei um die "ewigen Talkshows" im Fernsehen: Eine "Quelle der Desinformation" seien die, sagt Schmidt, und führten zur "vollkommenen Entpolitisierung des Publikums".
"Merkwürdigerweise treffe ich sehr viele Menschen, die das genauso sehen wie wir", sagt daraufhin Steinbrück, der Schmidts Auffassung teilt, Talkshows seien zu einer Art Politikersatz geworden. "Aber trotzdem gibt es diese Laberrunden, und trotzdem schalten Leute ein."
Wenn Helmut Schmidt auftritt, Bücher schreibt, Gespräche führt oder Interviews gibt, schalten auch immer alle ein und sind dabei. Es sind Laberrunden der ganz besonderen Art. Als Kettenraucher, als Hanseat, der berühmt ist für seinen Kasernenhofton, störrisch, schnoddrig, staatstragend, arrogant, hebt Schmidt sich ab. Er ist die Gegenfigur zu den linientreuen, "rundgefeilten Karrieristen" der Parteipolitik, wie Peer Steinbrück sie in seinem Buch "Unterm Strich" nennt. Die Gegenfigur zum Büroleiter als dominierendem Typus der politischen Klasse.
Steinbrück gefällt das. Und dem applaudierenden Publikum gefällt das auch. So kommt es, dass Helmut Schmidt im hohen Alter eine Sehnsucht erfüllt. Er erfüllt die Sehnsucht nach mehr Charisma in der Politik. Die Menschen verehren und bewundern ihn. Da er an der Politik allerdings längst nicht mehr aktiv teilnimmt, ohne Entscheidungs- und Machtbefugnis allein aus der Distanz des Großkommentators interveniert, erfüllt Schmidt diese Sehnsucht eher symbolisch. Es geht gar nicht so sehr darum, was er sagt. Es geht um die Performance, mit all den theaterhaften Requisiten, von den Menthol-Zigaretten bis zum Gletscherprise-Schnupftabak.
Helmut Schmidt, der Mann, der, als er Kanzler war, charismatisch nicht genannt wurde, ist gewissermaßen der Ersatz-Charismatiker, den sich die Deutschen mit gutem Gewissen leisten können.
Natürlich kann man versuchen, mit Büchern Politik zu machen, und sich von dieser Stelle aus ins Kanzleramt empfehlen lassen. Man nimmt dabei allerdings in Kauf, nur das Vehikel der Bühnenshow eines anderen zu sein. Wenn Angela Merkel "Kohls Mädchen" war, dann hat sich Peer Steinbrück, 64, in dieser Woche als "Schmidts Junge" beworben.
JULIA ENCKE
Helmut Schmidt / Peer Steinbrück: "Zug um Zug". Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 24,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christian Geyers Rezension dieses "windungsreichen" Gesprächs zwischen Helmut Schmidt und Peer Steinbrück wird von der Vermutung getragen, hier solle ein Kandidat für das Kanzleramt aufgebaut werden. Und zwar "mit quasi geschichtsphilosophischer Notwendigkeit". Mit offenkundiger Lust an der Demaskierung subtiler Dialogstrategien zeichnet Geyer nach, wie Steinbrück von Schmidt in zahlreichen Wissensgebieten geprüft, benotet und ausgezeichnet werde. Dabei gelingt den beiden nach Meinung des Rezensenten ein vortreffliches Kunststück: Einerseits vermittelten sie den Eindruck von Ebenbürtigkeit, andererseits aber erscheine Schmidt als "oberster Preisrichter der Partei", was ihn wiederum zur unanfechtbaren Beurteilung seines politischen Ziehkindes ermächtige. Den Gipfel sieht der Rezensent erreicht, als Schmidt und Steinbrück einvernehmlich zu Protokoll geben, mehr oder weniger aus Versehen zu Amt und Würden gelangt zu sein. So gehöre sich das auch für einen "guten Mann" - er strebe nicht von sich aus nach Macht; wisse aber, wann er gebraucht werde, wie Schmidt von Geyer paraphrasiert wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Wer [...] selbst liest, der wird mit Substanz belohnt.« Ärzte Zeitung, 16.12.2011