Produktdetails
- Verlag: Berlin Verlag
- Originaltitel: This Place You Return to is Home
- Seitenzahl: 214
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 328g
- ISBN-13: 9783827001085
- Artikelnr.: 24868370
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.1999Im Wickeltuchhimmel
Knittrig wie ein alter Teppich: Kirsty Gunns Erzählungen
"This Place You Return To Is Home." Aber ein Zuhause, das erst als eines ausgeschildert werden muss, ist keins. Hinter diesem netten kleinen Paradox - das im missverständlichen deutschen Titel "Zuhause ist, wohin du zurückkehrst" untergeht - sind die elf neuen Geschichten Kirsty Gunns zu Hause. Oder eben nicht zu Hause: Sie schleichen auf Zehenspitzen zwischen den Erinnerungen herum, stoßen sacht ächzende Türen auf, streichen mit bleichem Finger durch den Staub von Jahrzehnten. Sie heißen "Wie soll es weitergehen", "Mein Gott, den kenn ich doch" oder "Flitterglanz", und ihre Orte sind vertraut und fremd zugleich. Muffige alte Häuser irgendwo auf dem Land, die in Vergangenheiten gehören, zu denen es keinen Schlüssel gibt. Muffige alte Bars, in denen Vergangenheiten gelallt werden, die keiner hören und keiner haben will. Muffige alte Körper, in denen Gefühle aus verlorenen Vergangenheiten so frisch blühen wie sinnlose Vergissmeinnicht auf einem Grab. Egal, wohin du zurückkehrst, sie werden dir immer hallo sagen, deine ewig gleichen Fehler, deine bloß halb verkrusteten Wunden - so meinen es die Erzählungen der in Neuseeland aufgewachsenen Schriftstellerin, die in Oxford studiert hat und in London lebt.
Schon in Kirsty Gunns Debütroman "Regentage" ("Rain", 1995) verläuft sich die Heldin in einem Sommer, der im Dunst von zwanzig Jahren versunken ist, an Neuseelands Seen. Schwüle Hitze hüllt die Körper ein, kriecht zwischen Schenkel, treibt Schweißtropfen auf die Stirn: Auf den Partys der Eltern behält keiner einen kühlen Kopf, und bald glühen nicht nur die Wangen des pubertierenden Mädchens. Am Schluss tanzt der Tod eine Runde mit. Schwül geht es auch in Gunns zweitem Roman, "Eine Geschichte mit blassen Augen", zu, der 1998 für die neuseeländische Ausgabe des Booker Prize, den Montana Prize, nominiert wurde: Das Original titelt beziehungsvoll "The Keepsake" (1997), und wieder erinnert sich eine junge Frau an das kranke Begehren ihrer Mutter - und versteht dadurch ihr eigenes. "Mother, daughter. Father, lover. It's the same no matter who they are."
Aber nicht allein die Identitäten lösen sich auf, sondern auch die Farben in Gerüche, die Gerüche in Klänge, die Klänge in Farben. Kirsty Gunns ödipale Geisterbahnfahrten führen durch poetischen Metaphernzauber und sinnentrunkene Poesie: auf zweihundert Seiten ein literarischer Horrortrip, auf zwanzig Seiten fast schon ein verträumter Gang durchs Märchenwunderland der Kurzprosa. Der Gunn'schen Kurzprosa: immer wieder gelbe Berge, "knittrig wie ein alter Teppich", verschlissene Berghänge, verwilderte Gärten und in all diesen Ewigkeiten ein kleines Stück Mensch, das seine eigenen furchtbaren Ewigkeiten kaum loswerden kann.
Richtig gut sind die Geschichten dann, wenn die Enddreißigerin auf die unvertraut-altbekannte Landschaft schaut, durch die ihre Gestalten mit den unmerklichen Gesten tausendmal gegangen sind, ohne eine Spur zu hinterlassen; auf das hohe Gras "wie gesträhltes Haar", den zartblauen Himmel "wie ein Wickeltuch für ein Baby" und die wilden Schneestürme, die über die ockerfarbene Erde fegen. Wenn sie hinhört auf die hingeworfenen Sätze, die beredten Sprachlosigkeiten. "In Ballards Obstgeschäft waren die Rollläden heruntergelassen, und die Malbücher und Spielzeugschachteln im Schaufenster von Jim Reed waren verschossen und staubig. Eine Hummel döste auf einem Stoß Spielkarten, eine tote Fliege ruhte im rosa Spitzenschoß einer Plastikbabypuppe. Alles war haargenau so, wie sie es in Erinnerung hatte." Ein kleiner Nachsatz, böse und trotzdem schwer nostalgieschwanger.
Die neuseeländische Exilantin schreibt übers Exil, über kleine Distanzen mit großen Folgen, über die Heimkehr in ein verflüchtigtes Zuhause: Sie schreibt über Neuseelands zwei Welten - Stadt und Land. Die junge Frau in "Wie soll es weitergehen" - auf Englisch spöttischer: "Not that much to go on" - verfrachtet die Kinder ins Auto und lässt alles andere zurück, die Cremes, die Pumps, die Miniröcke; die schicken Restaurants und die schicken Männer. Die dreifache Mutter berauscht sich an den ausgestorbenen Räumen, dem einsamen Nest, den grünen Feldern ihrer Kindheit - und vergisst dabei ihre eigenen Kinder, die von der Dorfbibliothek in die Milchbar stolpern und wieder zurück und die von der Zeit träumen, als sie noch eine richtige Familie waren in einem richtigen Haus und in eine richtige Schule gingen. "Mary Susan wusste, von jetzt an hieß es für immer schmutzige Füße vom alleine Herumlaufen im Freien. Genau wie die Füße ihrer Mutter an diesem Morgen gewesen waren, nicht sauber, ohne Schutz." Das feine Detail und die grobe (Psychologismen vorkauende) Gebärde - Gunns Stärke und ihre Schwäche - machen die Schlusssätze dieses Textes aus, der einer der besten des Bandes ist.
Die junge Frau in "Der Besuch" dagegen nimmt all ihren Glitzerkram mit ins finstere, nach Kutteln stinkende Haus, um sich zu schützen vor der Vergangenheit. Es wird ihr nichts nützen. Die Erzählung "Alles schläft" wiederum zeigt das angestrengte Gesicht einer jungen Frau hinter einer Windschutzscheibe: "All die Jahre sind vergangen, und sie sitzt jetzt hier mit Carter, nicht mit ihren Eltern, es ist sein Wagen, sein hässlicher Volvo, der langsam in der Dunkelheit über die Landstraße zockelt." Nichts ist in Ordnung. Der Himmel ist aufgerissen, im Gras kauert ein Kalb, wilde Kornblumen blühen, aber das Haus weint - wie eine alte Kinderzeichnung von einem traurigen kleinen Mädchen.
Da gibt es allerdings nicht nur die jungen Frauen mit den fernen Vätern ("Flitterglanz"), den Furcht einflößenden Müttern ("Gras, Blätter"), den verständnislosen Männern ("Was er ihr erzählte") und den gutmütigen Großmüttern wie in der Titelgeschichte. Sondern auch Kindergeschichten wie "Das Schwimmbad": Gerade dort ziseliert die Erzählerin mit unwiderstehlicher Geschmeidigkeit an der Perspektive und übt sich in enormer Diskretion. Die tote Mutter der Kinder schillert im Hintergrund ungleich berückender als in "Der Schlachthof", jener etwas lautstarken Studie aus der Perspektive eines jungen Mannes.
Kirsty Gunn versteht sich auf die Minimal Art des geknickten Grashälmchens. Sie versteht sich auf den Maximal Effect von wüsten Wildsauen und anderen Albtraumbestien. Lediglich auf die strenge Zügelung ihrer Deutungslust versteht sie sich nicht. Immerhin: Man liest über die "scharfen Kanten in ihrem Herzen" hinweg, hypnotisiert von den tropfenden roten Kerzen beim Italiener, der Gedankenverlorenheit in der Strumpfabteilung, den kindlichen Refrains im Kopf, den Märchen aus uralten Zeiten und dem stechenden Blutgeruch, der erstickend über der Gegenwart hängt. Ein Zuhause, das erst ausgeschildert werden muss, ist keins. Und ist doch das einzige, das übrig bleibt. "Can anyone avoid a homecoming?", fragt eine der jungen Frauen - und mal eiskalt, mal schwelgerisch, jedenfalls aber unvergesslich hallt es zurück: "Nein!"
ALEXANDRA M. KEDVES.
Kirsty Gunn: "Zuhause ist, wohin du zurückkehrst". Erzählungen. Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries. Berlin Verlag, Berlin 1999. 216 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Knittrig wie ein alter Teppich: Kirsty Gunns Erzählungen
"This Place You Return To Is Home." Aber ein Zuhause, das erst als eines ausgeschildert werden muss, ist keins. Hinter diesem netten kleinen Paradox - das im missverständlichen deutschen Titel "Zuhause ist, wohin du zurückkehrst" untergeht - sind die elf neuen Geschichten Kirsty Gunns zu Hause. Oder eben nicht zu Hause: Sie schleichen auf Zehenspitzen zwischen den Erinnerungen herum, stoßen sacht ächzende Türen auf, streichen mit bleichem Finger durch den Staub von Jahrzehnten. Sie heißen "Wie soll es weitergehen", "Mein Gott, den kenn ich doch" oder "Flitterglanz", und ihre Orte sind vertraut und fremd zugleich. Muffige alte Häuser irgendwo auf dem Land, die in Vergangenheiten gehören, zu denen es keinen Schlüssel gibt. Muffige alte Bars, in denen Vergangenheiten gelallt werden, die keiner hören und keiner haben will. Muffige alte Körper, in denen Gefühle aus verlorenen Vergangenheiten so frisch blühen wie sinnlose Vergissmeinnicht auf einem Grab. Egal, wohin du zurückkehrst, sie werden dir immer hallo sagen, deine ewig gleichen Fehler, deine bloß halb verkrusteten Wunden - so meinen es die Erzählungen der in Neuseeland aufgewachsenen Schriftstellerin, die in Oxford studiert hat und in London lebt.
Schon in Kirsty Gunns Debütroman "Regentage" ("Rain", 1995) verläuft sich die Heldin in einem Sommer, der im Dunst von zwanzig Jahren versunken ist, an Neuseelands Seen. Schwüle Hitze hüllt die Körper ein, kriecht zwischen Schenkel, treibt Schweißtropfen auf die Stirn: Auf den Partys der Eltern behält keiner einen kühlen Kopf, und bald glühen nicht nur die Wangen des pubertierenden Mädchens. Am Schluss tanzt der Tod eine Runde mit. Schwül geht es auch in Gunns zweitem Roman, "Eine Geschichte mit blassen Augen", zu, der 1998 für die neuseeländische Ausgabe des Booker Prize, den Montana Prize, nominiert wurde: Das Original titelt beziehungsvoll "The Keepsake" (1997), und wieder erinnert sich eine junge Frau an das kranke Begehren ihrer Mutter - und versteht dadurch ihr eigenes. "Mother, daughter. Father, lover. It's the same no matter who they are."
Aber nicht allein die Identitäten lösen sich auf, sondern auch die Farben in Gerüche, die Gerüche in Klänge, die Klänge in Farben. Kirsty Gunns ödipale Geisterbahnfahrten führen durch poetischen Metaphernzauber und sinnentrunkene Poesie: auf zweihundert Seiten ein literarischer Horrortrip, auf zwanzig Seiten fast schon ein verträumter Gang durchs Märchenwunderland der Kurzprosa. Der Gunn'schen Kurzprosa: immer wieder gelbe Berge, "knittrig wie ein alter Teppich", verschlissene Berghänge, verwilderte Gärten und in all diesen Ewigkeiten ein kleines Stück Mensch, das seine eigenen furchtbaren Ewigkeiten kaum loswerden kann.
Richtig gut sind die Geschichten dann, wenn die Enddreißigerin auf die unvertraut-altbekannte Landschaft schaut, durch die ihre Gestalten mit den unmerklichen Gesten tausendmal gegangen sind, ohne eine Spur zu hinterlassen; auf das hohe Gras "wie gesträhltes Haar", den zartblauen Himmel "wie ein Wickeltuch für ein Baby" und die wilden Schneestürme, die über die ockerfarbene Erde fegen. Wenn sie hinhört auf die hingeworfenen Sätze, die beredten Sprachlosigkeiten. "In Ballards Obstgeschäft waren die Rollläden heruntergelassen, und die Malbücher und Spielzeugschachteln im Schaufenster von Jim Reed waren verschossen und staubig. Eine Hummel döste auf einem Stoß Spielkarten, eine tote Fliege ruhte im rosa Spitzenschoß einer Plastikbabypuppe. Alles war haargenau so, wie sie es in Erinnerung hatte." Ein kleiner Nachsatz, böse und trotzdem schwer nostalgieschwanger.
Die neuseeländische Exilantin schreibt übers Exil, über kleine Distanzen mit großen Folgen, über die Heimkehr in ein verflüchtigtes Zuhause: Sie schreibt über Neuseelands zwei Welten - Stadt und Land. Die junge Frau in "Wie soll es weitergehen" - auf Englisch spöttischer: "Not that much to go on" - verfrachtet die Kinder ins Auto und lässt alles andere zurück, die Cremes, die Pumps, die Miniröcke; die schicken Restaurants und die schicken Männer. Die dreifache Mutter berauscht sich an den ausgestorbenen Räumen, dem einsamen Nest, den grünen Feldern ihrer Kindheit - und vergisst dabei ihre eigenen Kinder, die von der Dorfbibliothek in die Milchbar stolpern und wieder zurück und die von der Zeit träumen, als sie noch eine richtige Familie waren in einem richtigen Haus und in eine richtige Schule gingen. "Mary Susan wusste, von jetzt an hieß es für immer schmutzige Füße vom alleine Herumlaufen im Freien. Genau wie die Füße ihrer Mutter an diesem Morgen gewesen waren, nicht sauber, ohne Schutz." Das feine Detail und die grobe (Psychologismen vorkauende) Gebärde - Gunns Stärke und ihre Schwäche - machen die Schlusssätze dieses Textes aus, der einer der besten des Bandes ist.
Die junge Frau in "Der Besuch" dagegen nimmt all ihren Glitzerkram mit ins finstere, nach Kutteln stinkende Haus, um sich zu schützen vor der Vergangenheit. Es wird ihr nichts nützen. Die Erzählung "Alles schläft" wiederum zeigt das angestrengte Gesicht einer jungen Frau hinter einer Windschutzscheibe: "All die Jahre sind vergangen, und sie sitzt jetzt hier mit Carter, nicht mit ihren Eltern, es ist sein Wagen, sein hässlicher Volvo, der langsam in der Dunkelheit über die Landstraße zockelt." Nichts ist in Ordnung. Der Himmel ist aufgerissen, im Gras kauert ein Kalb, wilde Kornblumen blühen, aber das Haus weint - wie eine alte Kinderzeichnung von einem traurigen kleinen Mädchen.
Da gibt es allerdings nicht nur die jungen Frauen mit den fernen Vätern ("Flitterglanz"), den Furcht einflößenden Müttern ("Gras, Blätter"), den verständnislosen Männern ("Was er ihr erzählte") und den gutmütigen Großmüttern wie in der Titelgeschichte. Sondern auch Kindergeschichten wie "Das Schwimmbad": Gerade dort ziseliert die Erzählerin mit unwiderstehlicher Geschmeidigkeit an der Perspektive und übt sich in enormer Diskretion. Die tote Mutter der Kinder schillert im Hintergrund ungleich berückender als in "Der Schlachthof", jener etwas lautstarken Studie aus der Perspektive eines jungen Mannes.
Kirsty Gunn versteht sich auf die Minimal Art des geknickten Grashälmchens. Sie versteht sich auf den Maximal Effect von wüsten Wildsauen und anderen Albtraumbestien. Lediglich auf die strenge Zügelung ihrer Deutungslust versteht sie sich nicht. Immerhin: Man liest über die "scharfen Kanten in ihrem Herzen" hinweg, hypnotisiert von den tropfenden roten Kerzen beim Italiener, der Gedankenverlorenheit in der Strumpfabteilung, den kindlichen Refrains im Kopf, den Märchen aus uralten Zeiten und dem stechenden Blutgeruch, der erstickend über der Gegenwart hängt. Ein Zuhause, das erst ausgeschildert werden muss, ist keins. Und ist doch das einzige, das übrig bleibt. "Can anyone avoid a homecoming?", fragt eine der jungen Frauen - und mal eiskalt, mal schwelgerisch, jedenfalls aber unvergesslich hallt es zurück: "Nein!"
ALEXANDRA M. KEDVES.
Kirsty Gunn: "Zuhause ist, wohin du zurückkehrst". Erzählungen. Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries. Berlin Verlag, Berlin 1999. 216 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main