Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022
Die Geschichte eines Aufbruchs: In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben in einer Kommunalka auf engstem Raum Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin unter dem bröckelnden Putz einer vergangenen Zeit. Es ist der 11. März 1985, Beginn einer Zeitenwende, von der noch niemand etwas ahnt. Alle gehen ihrem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen.
»Zukunftsmusik« ist ein großer Roman über vier Leben am Wendepunkt, über eine untergegangene Welt, die bis heute nachwirkt, über die Absurdität des Daseins und die große Frage des Hier und Jetzt: Was tun?
Die Geschichte eines Aufbruchs: In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben in einer Kommunalka auf engstem Raum Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin unter dem bröckelnden Putz einer vergangenen Zeit. Es ist der 11. März 1985, Beginn einer Zeitenwende, von der noch niemand etwas ahnt. Alle gehen ihrem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen.
»Zukunftsmusik« ist ein großer Roman über vier Leben am Wendepunkt, über eine untergegangene Welt, die bis heute nachwirkt, über die Absurdität des Daseins und die große Frage des Hier und Jetzt: Was tun?
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Maike Albath ist hocherfreut über Katerina Poladjans Roman über eine russische "Kommunalka" und ihre Bewohner an einem einzigen Tag zu Beginn der Ära Gorbatschow. Wie die Autorin Zeit und Raum durchdringt, in "eindrücklichen Szenen" die Ahnung des Umbruchs vermittelt, ihre Figuren "wie auf einer Drehbühne" präsentiert und sie elegant wie bei Tschechow miteinander parlieren lässt, zieht Abath in Bann. Fantastisch wie bei Bulgakow wird es auch mal, erläutert die Rezensentin, die vermittelt durch Poladjans Innenschau der Figuren ein Stück der späten Sowjetunion miterlebt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Unheilvoller Chopin: Katerina Poladjan fragt in "Zukunftsmusik" nach dem Verhältnis von Stagnation und Aufbruch in Russland.
Seit Jahren wohnen sie schon im selben Haus, die gemieteten Zimmer von Matwej und Maria liegen einander gegenüber auf dem langen Flur. Sie teilen sich mit vier anderen Parteien die große Küche und das Bad. Der alleinstehende, 54 Jahre alte Matwej schwärmt schon sehr lange für seine Nachbarin, die sich ihr Zimmer mit ihrer Mutter Warwara, ihrer Tochter Janka und deren Tochter Kroschka teilt. Nun endlich kommt es zu einer Art Rendezvous in Matwejs Raum, man trinkt armenischen Cognac und kommt sich näher. Bis plötzlich die Tür aufgeht, "ein völlig fremder Mensch" ins Zimmer schaut und sich dann für die Störung entschuldigt, "er müsse sich verirrt haben, offenbar seien einige Wände umgestellt".
Wenn man sich fragt, wie es kam, dass Russland heute der Staat ist, der er ist, dann scheint der Blick auf den Moment vielversprechend, in dem der spätere Reformer Michail Gorbatschow antrat, um sein Werk der "Umgestaltung" zu beginnen. Am Tag seiner Wahl zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, am 11. März 1985, spielt Katerina Poladjans Roman "Zukunftsmusik". Er setzt in den frühen Morgenstunden ein und endet in der darauffolgenden Abenddämmerung.
Die Autorin, die 1971 in Moskau geboren wurde und seit 1979 in Deutschland lebt, nennt den Schauplatz nicht, er trägt Züge der Stadt Wladiwostok aus "Hinter Sibirien", der Reiseerzählung, die sie 2016 gemeinsam mit Henning Fritsch publizierte, erscheint aber mit seinen Industrieanlagen, den bröckelnden Häusern, der rauen Witterung und der nahen Wildnis als ein Ort, der überall im Norden Russlands und jedenfalls weit entfernt von der Machtzentrale in Moskau liegen könnte.
So kommen Nachrichten wie die vom Tod Konstantin Tschernenkos, Gorbatschows unmittelbarem Vorgänger, mit Verspätung und zunächst eigenartig vermittelt hier an: Vor der offiziellen Bekanntgabe spielt das Radio den in solchen Fällen üblichen Klaviersonatensatz von Chopin, und der kommunistische Funktionär Matwej, den es aus Schlaflosigkeit in die Gemeinschaftsküche treibt, stimmt dort das Lied "Unsterbliche Opfer" an, den Trauermarsch für die toten Aufständischen von 1905, der in den Achtzigern bei den öffentlichen Totenfeiern der kurz hintereinander verstorbenen ZK-Generalsekretäre Breschnew, Andropow und Tschernenko gespielt wurde.
Diese Zusammenhänge lässt Poladjan gekonnt im Unklaren, manche für einige Kapitel, andere den kompletten Roman über. Dass es dem Leser überlassen bleibt, ihnen nachzugehen, wird indessen rasch deutlich. "Zukunftsmusik", in diesem Frühjahr erschienen und für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, ist auch über solche Anspielungen hinaus ein auffällig akustisch strukturierter Roman, dessen Protagonisten singen und summen, schreien, seufzen und wispern, als hinge in einer Atmosphäre, in der vieles ungesagt bleibt, umso mehr von solchen Äußerungen ab. Oder, wie im Fall der noch nicht ganz volljährigen Mutter Janka, die am Abend jenes Tages ein Konzert in der Küche des Mietshauses geben will, als sei der Gesang das Rettungsmittel in einer verkrusteten Gesellschaft. Am Ende wird ein anderer das Konzert an Jankas Stelle geben, mit ihrer Gitarre und ihren Liedern, während die Sängerin selbst das Vertrauen verloren hat, auf diese Weise etwas zu bewegen.
Der Roman fängt, wie es scheint, einen historischen Moment zwischen gesellschaftlicher Resignation und einem Aufbruch ein, von dem die Protagonisten noch nichts wissen können, die bereits in kurzer Zeit zwei Wechsel an der Spitze der politischen Machtpyramide miterlebt haben, ohne dass sich etwas spürbar geändert hätte. Poladjan stattet jeden von ihnen mit einer Grundunruhe aus, die sich an die Gegenwart knüpft oder an einen längst vergangenen Lebensmoment ("alles schien möglich, die Zukunft hatte Zeit"), mit dem von leiser Angst oder Hoffnung begleiteten Gefühl, dass sich vielleicht doch etwas ändern könnte. Und sei es die Erlösung aus den beengten Wohnverhältnissen im Mietshaus.
Der Roman holt dafür weit aus. Nicht räumlich oder zeitlich, da ist die Handlung einheitlich genug. Aber er verwandelt das Geschehen mit seiner Sprache in einen Hallraum, in dem sich das Echo von ähnlich gelagerten Stimmungen in unterschiedlichen Phasen der russischen Gesellschaft verfängt. Immer wieder finden sich Anspielungen auf Literatur, auf Bulgakows "Meister und Margarita", auf Turgenjew oder Gogol und vor allem auf Tschechows "Möwe" und seinen "Kirschgarten", deren Dialoge den Protagonisten in den Mund gelegt werden, markiert oder unmarkiert.
Erhellend wird das, wenn sich Janka und einer ihrer Freunde, die sich von dieser Sowjetunion nichts mehr erhoffen, mit denselben, auf Paris gerichteten Sehnsuchtsfloskeln traktieren wie einst Tschechows Protagonisten und wenn das Ergebnis - die Kirschbäume, die das Alte symbolisieren, werden weichen müssen - sich auch hier abzeichnet, allerdings mit der hübschen Pointe, dass in Poladjans Roman die tragbaren Bäumchen unkommentiert durchs Bild bewegt werden, als es tatsächlich an den Umbau geht.
Hier heißt das: Es bleibt nicht bei der Äußerung des "völlig fremden Menschen" über das Umstellen der Wände. Die Irritation über die bröckelnden Verhältnisse geht viel weiter. Kaum zufällig arbeitet Matwej in einem "Strugatzky-Institut", das an der Aufhebung der Schwerkraft forscht und nicht die einzige Anspielung Poladjans auf das Schaffen der schreibenden Brüder ist. Der surrealistische Zug, der sich im Verlauf der Romanhandlung immer deutlicher zeigt, sorgt dafür, dass Menschen aus dem Fenster steigen und davonfliegen oder sich völlig unvermittelt das Ende des Korridors ins Freie hin öffnet, ohne dass die Protagonisten davon großartig überrascht würden. So wie ihnen erst in diesem Moment auffällt, wie grau eigentlich die Wände ihres Hauses waren, so nehmen sie auch den großen Umbau hin.
Wie soll man aber vor einem solchen Hintergrund überhaupt Entscheidungen treffen? Einmal an diesem Tag stellt sich Maria spontan in der Schlange an, die vor einem Laden auf die Straße hinaus führt. "Was glauben Sie, erwartet uns?", fragt sie den Mann, der vor ihr steht. "Am Anfang dieser Schlange", antwortet der Mann, "erwarten uns feine, rosa glänzende Krakauer Würstchen, und wenn wir Pech haben, erwartet uns das Nichts. Und bis wir an der Reihe sind, ist uns die Möglichkeit gegeben zu überlegen, ob wir das, wofür wir anstehen, überhaupt brauchen." TILMAN SPRECKELSEN
Katerina Poladjan: "Zukunftsmusik". Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022. 192 S., geb.,
22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Listig mixt die Autorin surreale und phantastische Elemente in den Text Heilbronner Stimme 20221231
Katerina Poladjan hat mit 'Zukunftsmusik' einen der ganz großen deutschen Gegenwartsromane geschrieben, den man jetzt in Zeiten des Krieges anders liest als noch in der Zeit des Friedens. Denis Scheck WDR 2 20220529