Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« war der erste Versuch in der Geschichte der Philosophie und des Völkerrechts, der Ächtung des Krieges ein prinzipielles, zwingendes und zeitloses Fundament zu geben: nicht einfach über die Gefühle des Grauens und der Furcht, sondern im Modus einer kategorischen Forderung des Rechts der Menschheit. Nicht alle Einzelheiten dieses grandiosen »philosophischen Entwurfs« können heute noch überzeugen. Aber die politische Philosophie des 20. Jahrhunderts ist bist weit über dessen Mitte hinaus Antworten auf Kants unerledigte Fragen, ja, selbst den Versuch einer Wiederaufnahme seines Programms schuldig geblieben. Erst in jüngster Zeit, unter den Prämissen einer gänzlich veränderten politischen Welt und im Zuge einer Renaissance der politischen Philosophie hat diese die Aufgabe angenommen, die Kant ihr hinterlassen hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.1997Das heimliche Verlangen nach dem ewigen Frieden
Kants Schrift über die friedliche Koexistenz aller Staaten ist so populär wie je - jeder ist dafür, nur mit der Praxis hapert es
Als Immanuel Kant vor etwas mehr als zweihundert Jahren seinen kurzen Entwurf "Zum ewigen Frieden" veröffentlichte, mußte er den Zeitgenossen als Phantast erscheinen. Zwar hatte Kants Heimatstaat Preußen erst im April 1795 einen hastigen Friedensvertrag mit der jungen französischen Republik abgeschlossen, doch der Rest der konterrevolutionären Koalition - England, Österreich, die meisten anderen deutschen Länder, Portugal und die italienischen Staaten - führten den Kampf fort.
Das Programm des Königsberger Philosophen, das einen von der Vernunft unfehlbar gesteuerten Kurs hin zum globalen Ausgleich zwischen den Völkern behauptete, wurde aber dennoch zur bekanntesten Schrift des Verfassers, was neben dem hoffnungsfrohen Inhalt nicht zuletzt an der populären Darstellung des Traktats lag.
Dennoch ist dieser Aufsatz alles andere als eine auf raschen Erfolg zielende Gelegenheitsarbeit Kants. Sie bettet sich vielmehr in sein philosophisches System ein. In einem jüngst erschienenen Sammelband, der leicht verspätet das Jubiläum der Schrift feiert, widmen sich gleich drei Autoren (Günther Patzig, Reinhard Brandt und Allen W. Wood) deren systematischem Ort und kommen weitgehend übereinstimmend zu dem Fazit, daß "Zum ewigen Frieden" als wichtige Ergänzung zu dem rationalen Denksystem geschrieben wurde, das Kant in den drei Kritiken entworfen hatte. Die von Kant gestellte historische Aufgabe der Aufklärung mußte den Weltfrieden als Bedingung der Möglichkeit der weiteren menschlichen Entwicklung ja überhaupt erst hervorbringen. Allen W. Wood stellt denn auch lapidar fest: "Kants Entwurf ist rein philosophisch."
Das war und ist seinem Erfolg keineswegs abträglich, denn "Zum ewigen Frieden" proklamiert eine Philosophie der Praxis. Die Politik wird in die Pflicht genommen und dem Ratschlag der Philosophie unterworfen. Kant formuliert sechs Präliminarartikel, die den Staaten konkrete Verbote auferlegen, um die zukünftige Kriegsgefahr zu verhindern, und drei Definitivartikel, die den endgültigen Frieden stiften sollen. Die unbezweifelbare Modernität der Forderungen macht Kants Entwurf heute noch zu einem Hoffnungsträger, vor allem nachdem die Blöcke des Kalten Krieges auseinandergebrochen sind und somit der erste und der zweite Definitivartikel umsetzbar erscheinen: Es sollen nur noch Republiken existieren (wobei Kant darunter explizit keine Demokratie versteht, sondern eine auf Gewaltenteilung gegründete Staatsform), und die verschiedenen Staaten sollen sich zu einer Föderation zusammenschließen.
Allerdings war Kants Schrift bislang immer mehr ein Rettungsanker als ein wirklich sicherer Hafen für die verloren im Zeitensturm treibenden Staatsschiffe. Im Ersten Weltkrieg und vor allem zur Zeit des Völkerbundes wurden Friede und Freundschaft, jetzt und immerdar, nicht weniger beschworen als direkt nach 1945 oder eben 1989. Das spricht nicht gegen die Aktualität des Entwurfs, läßt aber auch Einschätzungen wie die von Roland Wittmann zweifelhaft erscheinen, der Kants Aufsatz als Gegenpol der gescheiterten marxistischen Utopie versteht und zur hellsichtigen Antizipation unserer derzeitigen Entwicklung verklärt. Da scheint Julian Nida-Rümelins Warnung plausibler, daß Kant jetzt erst richtig auf dem Prüfstand steht, weil Kriege als politisches Mittel mit dem Ende der Systemkonkurrenz auch in Europa wieder möglich geworden sind. Demnach wäre "Zum ewigen Frieden" kein Programm, dessen Erfüllung unmittelbar bevorsteht, sondern eines, an dessen Verwirklichung nun härter als zuvor gearbeitet werden muß.
Kritische Stimmen wie die Nida-Rümelins sind in dem vorliegenden Band leider die Ausnahme. Karl-Otto Apel etwa klagt zwar eine "grundlegende Revision der Voraussetzungen des Kantschen Denksystems" ein, die die Dichotomie zwischen intelligibler Freiheit und äußerlicher Kausalität beseitigen soll, doch letztlich gerinnt dieses Projekt zu einer bloßen Apologie der eigenen Diskurstheorie, die auch hier den Beweis ihrer praktischen Funktionalität schuldig bleibt. Es ist immer wieder amüsant zu beobachten, wie die Anbindung des Kantschen Programms an die unbewußt den Plänen der "Vorsehung" folgende praktische Vernunft denjenigen seiner Nachfolger Schwierigkeiten bereitet, die selber eine Ethik proklamieren, die zwar nicht explizit auf einem höheren Willen der Natur gegründet ist, aber just von dem Naturrecht ihren Gleichheitsgrundsatz entlehnt.
Dem praktischen Gehalt von Kants Entwurf für eine heutige Friedensordnung und das Völkerrecht widmet sich das Gros der dreizehn Buchbeiträge. Dabei überrascht, daß der dritte Definitivartikel, der das Weltbürgerrecht auf eine bloße Duldung von Fremden beschränkt, so wenig Beachtung findet. Natürlich hat der unmittelbar aus den Erfahrungen des Kolonialismus im achtzehnten Jahrhundert (der das Gastrecht vielfach mißbrauchte) entstandene Artikel heute im Zeitalter globaler Migrationsbewegungen einen reaktionären Anstrich; aber Jacques Derrida etwa hat jüngst in seiner Theorie zu den "Gesetzen der Gastfreundschaft" genau diese Passage fruchtbar gemacht für einen Ansatz, der Toleranz einklagt und trotzdem die Wichtigkeit einer Wahrung des "Selbstseins bei sich zu Hause" betont. Die größte Schwäche des ansonsten sehr anregenden Buches ist diese Vernachlässigung der aktuellen außerdeutschen Kant-Debatte (mit Ausnahme Woods), in der gerade "Zum ewigen Frieden" ein zentraler Text ist. ANDREAS PLATTHAUS
Reinhard Merkel / Roland Wittmann (Hrsg.): "Zum ewigen Frieden". Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 355 S., br., 24,80 DM.
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Kants Schrift über die friedliche Koexistenz aller Staaten ist so populär wie je - jeder ist dafür, nur mit der Praxis hapert es
Als Immanuel Kant vor etwas mehr als zweihundert Jahren seinen kurzen Entwurf "Zum ewigen Frieden" veröffentlichte, mußte er den Zeitgenossen als Phantast erscheinen. Zwar hatte Kants Heimatstaat Preußen erst im April 1795 einen hastigen Friedensvertrag mit der jungen französischen Republik abgeschlossen, doch der Rest der konterrevolutionären Koalition - England, Österreich, die meisten anderen deutschen Länder, Portugal und die italienischen Staaten - führten den Kampf fort.
Das Programm des Königsberger Philosophen, das einen von der Vernunft unfehlbar gesteuerten Kurs hin zum globalen Ausgleich zwischen den Völkern behauptete, wurde aber dennoch zur bekanntesten Schrift des Verfassers, was neben dem hoffnungsfrohen Inhalt nicht zuletzt an der populären Darstellung des Traktats lag.
Dennoch ist dieser Aufsatz alles andere als eine auf raschen Erfolg zielende Gelegenheitsarbeit Kants. Sie bettet sich vielmehr in sein philosophisches System ein. In einem jüngst erschienenen Sammelband, der leicht verspätet das Jubiläum der Schrift feiert, widmen sich gleich drei Autoren (Günther Patzig, Reinhard Brandt und Allen W. Wood) deren systematischem Ort und kommen weitgehend übereinstimmend zu dem Fazit, daß "Zum ewigen Frieden" als wichtige Ergänzung zu dem rationalen Denksystem geschrieben wurde, das Kant in den drei Kritiken entworfen hatte. Die von Kant gestellte historische Aufgabe der Aufklärung mußte den Weltfrieden als Bedingung der Möglichkeit der weiteren menschlichen Entwicklung ja überhaupt erst hervorbringen. Allen W. Wood stellt denn auch lapidar fest: "Kants Entwurf ist rein philosophisch."
Das war und ist seinem Erfolg keineswegs abträglich, denn "Zum ewigen Frieden" proklamiert eine Philosophie der Praxis. Die Politik wird in die Pflicht genommen und dem Ratschlag der Philosophie unterworfen. Kant formuliert sechs Präliminarartikel, die den Staaten konkrete Verbote auferlegen, um die zukünftige Kriegsgefahr zu verhindern, und drei Definitivartikel, die den endgültigen Frieden stiften sollen. Die unbezweifelbare Modernität der Forderungen macht Kants Entwurf heute noch zu einem Hoffnungsträger, vor allem nachdem die Blöcke des Kalten Krieges auseinandergebrochen sind und somit der erste und der zweite Definitivartikel umsetzbar erscheinen: Es sollen nur noch Republiken existieren (wobei Kant darunter explizit keine Demokratie versteht, sondern eine auf Gewaltenteilung gegründete Staatsform), und die verschiedenen Staaten sollen sich zu einer Föderation zusammenschließen.
Allerdings war Kants Schrift bislang immer mehr ein Rettungsanker als ein wirklich sicherer Hafen für die verloren im Zeitensturm treibenden Staatsschiffe. Im Ersten Weltkrieg und vor allem zur Zeit des Völkerbundes wurden Friede und Freundschaft, jetzt und immerdar, nicht weniger beschworen als direkt nach 1945 oder eben 1989. Das spricht nicht gegen die Aktualität des Entwurfs, läßt aber auch Einschätzungen wie die von Roland Wittmann zweifelhaft erscheinen, der Kants Aufsatz als Gegenpol der gescheiterten marxistischen Utopie versteht und zur hellsichtigen Antizipation unserer derzeitigen Entwicklung verklärt. Da scheint Julian Nida-Rümelins Warnung plausibler, daß Kant jetzt erst richtig auf dem Prüfstand steht, weil Kriege als politisches Mittel mit dem Ende der Systemkonkurrenz auch in Europa wieder möglich geworden sind. Demnach wäre "Zum ewigen Frieden" kein Programm, dessen Erfüllung unmittelbar bevorsteht, sondern eines, an dessen Verwirklichung nun härter als zuvor gearbeitet werden muß.
Kritische Stimmen wie die Nida-Rümelins sind in dem vorliegenden Band leider die Ausnahme. Karl-Otto Apel etwa klagt zwar eine "grundlegende Revision der Voraussetzungen des Kantschen Denksystems" ein, die die Dichotomie zwischen intelligibler Freiheit und äußerlicher Kausalität beseitigen soll, doch letztlich gerinnt dieses Projekt zu einer bloßen Apologie der eigenen Diskurstheorie, die auch hier den Beweis ihrer praktischen Funktionalität schuldig bleibt. Es ist immer wieder amüsant zu beobachten, wie die Anbindung des Kantschen Programms an die unbewußt den Plänen der "Vorsehung" folgende praktische Vernunft denjenigen seiner Nachfolger Schwierigkeiten bereitet, die selber eine Ethik proklamieren, die zwar nicht explizit auf einem höheren Willen der Natur gegründet ist, aber just von dem Naturrecht ihren Gleichheitsgrundsatz entlehnt.
Dem praktischen Gehalt von Kants Entwurf für eine heutige Friedensordnung und das Völkerrecht widmet sich das Gros der dreizehn Buchbeiträge. Dabei überrascht, daß der dritte Definitivartikel, der das Weltbürgerrecht auf eine bloße Duldung von Fremden beschränkt, so wenig Beachtung findet. Natürlich hat der unmittelbar aus den Erfahrungen des Kolonialismus im achtzehnten Jahrhundert (der das Gastrecht vielfach mißbrauchte) entstandene Artikel heute im Zeitalter globaler Migrationsbewegungen einen reaktionären Anstrich; aber Jacques Derrida etwa hat jüngst in seiner Theorie zu den "Gesetzen der Gastfreundschaft" genau diese Passage fruchtbar gemacht für einen Ansatz, der Toleranz einklagt und trotzdem die Wichtigkeit einer Wahrung des "Selbstseins bei sich zu Hause" betont. Die größte Schwäche des ansonsten sehr anregenden Buches ist diese Vernachlässigung der aktuellen außerdeutschen Kant-Debatte (mit Ausnahme Woods), in der gerade "Zum ewigen Frieden" ein zentraler Text ist. ANDREAS PLATTHAUS
Reinhard Merkel / Roland Wittmann (Hrsg.): "Zum ewigen Frieden". Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 355 S., br., 24,80 DM.
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