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"Zur elften Stunde", so heißt eine Gemarkung im Schloßpark von Greiz. Eine Zeitangabe als Ortsbezeichnung: Wo die Entscheidung fällt? Wenn es schon fast zu spät ist? Greiz liegt auf der Grenze zum Vogtland, Kindheitsland, in das der Dichter mit einigen Texten des neuen Bandes zurückkehrt.
Dort schrieb und sang der junge Mann 1968 seine ersten Lieder - gegen die Entartungen des Sozialismus und den Einmarsch der Brudervölker in die Tschechoslowakei. (Ein paar finden sich in der Neuauflage des Bandes Glaubt bloß nicht, daß ich traurig bin.) Er wanderte ins Gefängnis, zweimal - "Und einmal, das…mehr

Produktbeschreibung
"Zur elften Stunde", so heißt eine Gemarkung im Schloßpark von Greiz. Eine Zeitangabe als Ortsbezeichnung: Wo die Entscheidung fällt? Wenn es schon fast zu spät ist? Greiz liegt auf der Grenze zum Vogtland, Kindheitsland, in das der Dichter mit einigen Texten des neuen Bandes zurückkehrt.

Dort schrieb und sang der junge Mann 1968 seine ersten Lieder - gegen die Entartungen des Sozialismus und den Einmarsch der Brudervölker in die Tschechoslowakei. (Ein paar finden sich in der Neuauflage des Bandes Glaubt bloß nicht, daß ich traurig bin.) Er wanderte ins Gefängnis, zweimal - "Und einmal, das Gesicht / im Spiegel: / der war, poliert, / ein Zellenriegel" -, und aus dem Gefängnis Ost per Freikauf ins Notaufnahmelager West."Am 24. Dezember 1974, als ich um 12 Uhr durch das Lagertor trat, wollte ich nicht sterben." Gerald Zschorsch wird von einem Auto angefahren. Das Leben in Freiheit beginnt mit einem Unfall. Er hat Glück, denn er kommt mit dem Schrecken davon. Am Anfang seines neuen Gedichtbandes berichtet er davon in einem kurzen Text.
Autorenporträt
Gerald Zschorsch, geboren am 25. Dezember 1951 in Elsterberg im Vogtland, lebt in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.03.2010

Wer Wehweh sagt und hat
Bis ans Ende der Welt: Neue Gedichte von Gerald Zschorsch
„Schönheit ohne Sinnlichkeit gleicht einer Brust, der die Brustwarze fehlt” – so lautet das Motto, welches Gerald Zschorsch für seinen neuen Gedichtband gewählt hat. Es stammt von Ernst Jünger. Ludwig Reiners in seiner wohlanständigen Stilfibel fand diesen Vergleich „hart an der Grenze des Erträglichen”, aber gerade das mag Zschorsch bewogen haben, den Aphorismus für sich zu beanspruchen. Am Schluss kommt Ernst Jünger wieder zu Wort: „Schönheit, die Folge einer Verletzung. Im Absoluten gibt es sie nicht. Man würde in die Metaphysik des Schmerzes eintreten.” Mit seinen neuen Gedichten bewegt sich der Dichter oft ganz hart an der Grenze dazu.
Eine Prosaskizze von nur gut drei Seiten bildet den Anfang. Sie erzählt jenes Ereignis, welches die Lebenszeit des Gerald Zschorsch wie kein anderes strukturiert hat: Seine Ausweisung aus der DDR und seine Ankunft im Westen, am 24. Dezember 1974, einen Tag vor seinem 23. Geburtstag: „Ich trat Punkt 12 Uhr mittags alleine und als letzter durch das Tor.” Als ob eine höhere Gewalt diesen Schritt aus dem Tor des Notaufnahmelagers Gießen dramatisch akzentuieren wollte, wird der junge Mann von einem Auto erfasst und verliert das Bewusstsein. Inzwischen sind 35 Jahre verstrichen. Gerald Zschorsch hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht, die 2004 von Lorenz Jäger unter dem Titel „Torhäuser des Glücks” zusammengestellt, in einem schönen Band als Suhrkamp-Taschenbuch erschienen sind, und er hat sich überdies mit künstlerischer Graphik hervorgetan. Der poetisch-programmatische Rückblick auf den Sturz in eine bis heute dauernde Zeit ist die Bühne, auf der die Gedichte spielen. Etwas an ihnen ist neu: eine Reife, welche auch die vorangehenden Bände, bis in die fuchtelnden Anfänge, in ein milderes Licht rückt.
Zur elften Stunde heißt der Titel und erinnert zuerst an das Gleichnis, das Jesus von den Arbeitern im Weinberg erzählt – aber eine lakonische Anmerkung des Dichters schickt uns auf eine andere Spur, denn es soll sich um den Namen einer „Gemarkung im Greizer Schlosspark” handeln. So verliert die biblische Zeitangabe zwar nicht ganz ihren Sinn: die Letzten werden die Ersten sein, aber sie bekommt eine neue Bedeutung, nämlich als Ort einer Kindheitserinnerung. Gleich das erste Gedicht, eins der schönsten in diesem Band, spielt kunstvoll und wie selbstverständlich hin und her zwischen Namen und Metaphern, zwischen Zeit und Raum. Der Titel lautet „Elster” – benannt nach dem Fluss, der durch den Schlosspark fließt.
Seine plötzliche Bekanntheit verdankte der in Elsterberg im Vogtland, wenige Kilometer südlich von Greiz geborene junge Krauskopf einem Büchlein, zu dem Rudi Dutschke 1977 ein Vorwort geschrieben hatte. „Glaubt bloß nicht, daß ich traurig bin”, so hieß der Titel, und so spricht wohl trotzig ein Kind, das nicht zugeben will, wie weh man ihm getan hat.
In den folgenden Jahren wird er ein Dichter, der sein Innerstes immer wild entschlossen preisgeben – und es gleichzeitig doch streng verbergen will. Diese Spannung ist produktiv: „Rotblau / Rot ist mir zu rot. / Blau zu blau. / Die Vollkommenheit an sich. Ist es. Der ich nicht trau” (aus Klappmesser 1983). Oft setzt er darum Punkte, wo gerade kein Satz beendet ist, denn was könnte vollkommener sein als ein ganzer Satz?
Das Misstrauen macht nicht halt vor der eigenen Stimme: „Den Schritt zuviel machen. Das Gedicht umbringen”, heißt es in derselben Sammlung. Das klingt wie ein poetologisches Rezept für eines der neuen Gedichte, das einen Ort in einer fernen Zeit auferweckt, das Gefängnis: „Im Geviert / In meiner Hand ist Sand, / der rinnt daraus nach unten. / Vor mir ist eine Wand, / ich bin daran gebunden. / Gesichter gegen Stein; Gemisch aus Sand / Zement. / Da wirst du, Daumengroß, klein / und machst ins Hemd.” Es ist der Schritt zu viel, der Schlag gegen das eigene Gedicht, durch den es erst zu sich selber kommt.
Aber auch ein Gedicht lässt sich nur umbringen, wenn es lebendig ist! Und so wie es im ersten Satz der Prosaskizze heißt: „Wegen etwas sterben. Das hieße doch, mit etwas gehen”: So hieße das „Umbringen” des Gedichts doch auch, ihm etwas mitgeben, etwas Unausweichliches, etwas das man mit den Worten des Katechismus fürchten und lieben muss: den Raum, die Zeit, den Schmerz, die Lust.
Vor einigen Jahren hat Gerald Zschorsch ein wunderbares kleines Buch mit dem Titel „Czerwonka” veröffentlicht, welches von einer Reise durch Masuren, das Ermland und bis zur Kurischen Nehrung erzählt. Der Dichter erkennt die Landschaft wieder, obwohl er sie nie gesehen hatte, als „vergessene Wahrnehmung”. „Es ist ein Zurück zu den Dingen; ein Zurück zu der Ordnung der Welt. Da man noch klein war.” Czerwonka ist ein so dichterisches Buch geworden, weil es mit zwei Stimmen spricht und am Schluss die anrührende Erzählung der Kindheit von Artur Becker enthält, dem polnischen Schriftsteller deutscher Sprache, der Zschorsch durch seine Landschaft geführt und ihm für das poetische Erlebnis der Reise seine Kindheit geliehen hat.
Das vorletzte Gedicht in „Zur elften Stunde” heißt „Das Staunen” und zelebriert den Blick in den Himmel, vielleicht auf der Kurischen Nehrung: „fass dir ein Herz / und schau. / Das ist das Universum, / das Dach, das Himmelszelt. / Hab Traute in deine Anmut – / es gibt kein Ende der Welt.” In dieser Landschaft bewunderte auch Immanuel Kant den bestirnten Himmel. Aber der Dichter lässt sich noch weiter tragen als der Philosoph: „Denn dies ist der Sinn des Glücks, das den Menschen aus dem Aufenthalt in der Weite zuströmt: er berührt die reine Wesenheit des Raumes als einen der ersten Gedanken Gottes.”
Ein anderer Gedanke Gottes ist die Schönheit. Sie hat bei Zschorsch nicht nur mit Erotik zu tun, sondern viel elementarer mit Trieb und Schmerz. Seit seinen frühen Veröffentlichungen ist diese Thematik bei ihm virulent, manchmal krude und an der Grenze des Erträglichen: „Vor den Augen / Himmelsgeigen; / zwischen Brüsten / Peitschenstriemen. / Leg mich auf den Bock / und zieh – / mit dem Eichelstock / mir eins über” heißt es in einem mit „Hingabe / Feminines Gebet” betitelten Gedicht.
Schmerz ist aber nicht nur die andere Seite des Triebs. Es gibt ihn absolut, und er ist am schlimmsten, wenn er ein Kind trifft. Ein dreistrophiges „Au und Ei” betiteltes Gedicht erzählt, für diesen Autor untypisch, anrührend und etwas betulich den Verkehrsunfall eines Kindes. Es ist auch eine Variation auf die zu Anfang berichtete Urszene des Dichters, als er von einem Auto angefahren wurde, kein Kind mehr war, aber ebenso hilflos. Ganz trocken spricht hierüber dagegen ein kleines Gedicht, dem es gelingt, sich am Schluss mit einem platten Reim umzubringen – und damit zu sagen, worauf es dem Dichter ankam: „Wehweh / Ist eine Sprache von Kindern, / die noch nicht mündig sind. / Kleines Kind; großes Kind. / Wehweh ist auch ein Bild / von Versehrtheit. Ein Bild / kurz vorm Tod. / Wer wehweh sagt und hat, / ist in Not.”
HANS-HERBERT RÄKEL
GERALD ZSCHORSCH: Zur elften Stunde. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 69 Seiten, 20,40 Euro.
Ein Dichter, der sich preisgeben und zugleich verbergen will
Am schlimmsten der Schmerz, wenn er der eines Kindes ist
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In Gerald Zschorschs neuem Gedichtband entdeckt Hans-Herbert Räkel eine ganz neue "Reife", die seiner Ansicht nach auch mildernd auf das vorhergehende Werk ausstrahlt. Der Lyriker, der 1974 aus der DDR ausgewiesen wurde, enthüllt in seinen früheren Gedichten sein "Innerstes" und sucht es zugleich zu verstecken, was laut Rezensent eine sehr fruchtbare "Spannung" erzeugt. Misstrauisch zeigte sich Zschorsch schon immer gegenüber der Vollkommenheit, in den neuen Gedichten geht er nicht selten so weit, sie mit einer letzten Wendung, häufig mit einem "platten Reim", "umzubringen". Denn das Umbringen spricht, wie Räkel darlegt, für die Lebendigkeit der Texte.

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