Der Band enthält zwölf Beiträge zur aktuellen Diskussion über den politischen Liberalismus. Er geht aus einer Arbeitstagung mit John Rawls hervor, deren Ziel es war, die philosophische und politische Tragfähigkeit einer nur auf den Bereich des Politischen beschränkten Theorie der Gerechtigkeit zu prüfen, wie sie Rawls in seinen jüngsten Aufsätzen vorgestellt hatte.
Vom traditionellen Liberalismus unterscheidet sich John Rawls politischer Liberalismus durch seine philosophische Bescheidenheit. Der für moderne demokratische Gesellschaften charakteristische Pluralismus schließt es aus, die obersten Grundsätze einer das menschliche Leben insgesamt umfassenden moralischen Lehre zu rechtfertigen, wie Kant und John Stuart Mill dies versucht hatten. Dieser Einwand gilt nach Rawls auch für Habermas Versuch einer diskursethischen Rekonstruktion der normativen Voraussetzungen pluralistischer Demokratie.
Vom traditionellen Liberalismus unterscheidet sich John Rawls politischer Liberalismus durch seine philosophische Bescheidenheit. Der für moderne demokratische Gesellschaften charakteristische Pluralismus schließt es aus, die obersten Grundsätze einer das menschliche Leben insgesamt umfassenden moralischen Lehre zu rechtfertigen, wie Kant und John Stuart Mill dies versucht hatten. Dieser Einwand gilt nach Rawls auch für Habermas Versuch einer diskursethischen Rekonstruktion der normativen Voraussetzungen pluralistischer Demokratie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1997Im Hause des Liberalismus sind viele Wohnungen
Boxkampf unter Nachbarn: John Rawls wird von Habermas zwar angezählt, geht aber nicht zu Boden
Mit seiner "Theorie der Gerechtigkeit" setzte John Rawls 1971 die politische Ethik neu in Bewegung. Auch er selbst hat sich in der Folge bewegt, seine Position beständig erweitert und verändert. Auf einer Tagung der Philosophischen Gesellschaft Bad Homburg wurden 1992 die neuen Akzentuierungen, die einem politischen Liberalismus philosophische Kontur verleihen sollen, diskutiert. Inmitten der nun veröffentlichten Tagungsbeiträge findet der Leser jedoch auch die Übersetzung zweier im "American Journal of Philosophy" publizierter Aufsätze von John Rawls und Jürgen Habermas: ein argumentativer Schwergewichtskampf unter Altmeistern, bei dem der Vertreter der Alten Welt in die Rolle des Herausforderers schlüpfte.
Diese Rolle behagt Habermas nicht: Er bewundere das Rawlssche Projekt, teile seine Intention und halte die wesentlichen Ergebnisse für richtig. In dem so marginalisierten "Familienstreit" stehen sich jedoch zwei grundverschiedene Brüder gegenüber. Der Diskurstheoretiker gewinnt dem Rawlsschen Modell des Urzustandes nicht viel ab. Abgesehen davon, daß hier der Unterschied zwischen Grundrechten (die man hat oder nicht) und Grundgütern (die man mehr oder weniger begehrt) zu verschwinden drohe, konstruiere der Theoretiker mit dem Urzustand einen Standpunkt zur Beurteilung von Gerechtigkeitsfragen, über den sich doch erst alle Beteiligten im Diskurs verständigen müßten.
In ungewohnt bildhafter Sprache kritisiert Habermas, die politische Autonomie könne sich so "im Herzen der rechtlich konstituierten Gesellschaft nicht verstetigen"; statt dessen müsse der "radikaldemokratische Glutkern" im Prozeß vernünftiger Meinungs- und Willensbildung ständig neu entfacht werden. Aufgabe des Philosophen bleibe es, die Bedingungen rationaler Diskurse zu rekonstruieren, in denen - so das Credo der Diskursethik - der moralische Gesichtspunkt bereits enthalten ist.
Rawls zeigt sich dieser Version einer prozeduralistisch angelegten Moral- und Rechtstheorie gegenüber nicht gerade kompromißbereit. Gleich zu Beginn seiner Antwort erteilt er dem Vertreter nachmetaphysischen Denkens Redeverbot für die politische Philosophie. Habermas stütze sich nämlich auf eine "umfassende Lehre": eine Theorie kommunikativ handelnder Wesen, die nichts anderes als metaphysisch sei. Angesichts des Pluralismus moralischer und religiöser Überzeugungen in modernen Gesellschaften soll aber eine konsensfähige Gerechtigkeitskonzeption nach Rawls frei von derartigen Einstellungen sein. Weder darf sie die unterschiedlichen Moralvorstellungen kritisieren, noch sich zur Begründung auf sie berufen. Mit dem Schlagwort "politisch, nicht metaphysisch" will Rawls den Anspruch der Theorie beschränken, um so einen "überlappenden Konsens" für die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft zu gewinnen. Statt universeller Diskurstheorie also ein Weltethos der Gerechtigkeit, das dem Streit der Theorien und Weltanschauungen entzogen ist.
Diesen Versuch, "die Theorie zu stärken, indem sie abgeschwächt wird" (Rainer Forst), hält nicht nur Habermas für verfehlt. Ursula Wolf kommt zu dem Schluß, daß Rawls nach beiden Seiten vom angezeigten Weg abweiche. Zum einen mache er selbst "massive Voraussetzungen" zu Person und Gesellschaft, die beileibe nicht von allen geteilt würden; andererseits nehme er die Geltungsansprüche umfassender ethischer Sichtweisen nicht ernst genug, so daß die Strategie der Problemvermeidung entweder unaufrichtig oder inkonsistent sei. Die Hoffnung, in den notwendig zu lösenden Fragen könne auf diese Weise tatsächlich Konsens erzielt werden, bleibe reines Wunschdenken. Christoph Fehige setzt sogar zum philosophischen Knock-out an, wenn er Rawls vorwirft, er habe "gepredigt, nicht begründet", und ihm dann gnadenhalber "menschliche Größe" attestiert.
Ohne Polemik unterzieht Rainer Forst die dreifache Bedeutung von "politisch" bei Rawls einer sorgfältigen Analyse und arbeitet als Grundproblem die mangelnde Unterscheidung von allgemeingültiger Moral und kontextbezogener Ethik heraus. Forst zeigt, wie diese Unterscheidung, die der Grundintuition von Rawls sogar entgegenkomme, in die Theorie integriert werden könnte. Als Maßstab dient ihm dabei, frei nach Habermas, die Art der Rechtfertigung moralischer beziehungsweise ethischer Normen. Dieses Vorgehen kollidiert jedoch, wie Forst einräumt, mit den von Rawls für den Urzustand gemachten substantiellen Annahmen.
Auch Forst kann also den Familienstreit nicht schlichten. Sein Beitrag zählt jedoch - ebenso wie die knappe, aber äußerst hilfreiche Einführung von Wilfried Hinsch - zu denen, die dem Leser die Lektüre von Rawls' zweitem Hauptwerk, "Political Liberalism", erleichtern werden, das in diesen Tagen - endlich - auf deutsch erscheint. ACHIM BAHNEN
Philosophische Gesellschaft Bad Homburg, Wilfried Hinsch (Hrsg.): "Zur Idee des politischen Liberalismus". John Rawls in der Diskussion. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 452 S., br., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Boxkampf unter Nachbarn: John Rawls wird von Habermas zwar angezählt, geht aber nicht zu Boden
Mit seiner "Theorie der Gerechtigkeit" setzte John Rawls 1971 die politische Ethik neu in Bewegung. Auch er selbst hat sich in der Folge bewegt, seine Position beständig erweitert und verändert. Auf einer Tagung der Philosophischen Gesellschaft Bad Homburg wurden 1992 die neuen Akzentuierungen, die einem politischen Liberalismus philosophische Kontur verleihen sollen, diskutiert. Inmitten der nun veröffentlichten Tagungsbeiträge findet der Leser jedoch auch die Übersetzung zweier im "American Journal of Philosophy" publizierter Aufsätze von John Rawls und Jürgen Habermas: ein argumentativer Schwergewichtskampf unter Altmeistern, bei dem der Vertreter der Alten Welt in die Rolle des Herausforderers schlüpfte.
Diese Rolle behagt Habermas nicht: Er bewundere das Rawlssche Projekt, teile seine Intention und halte die wesentlichen Ergebnisse für richtig. In dem so marginalisierten "Familienstreit" stehen sich jedoch zwei grundverschiedene Brüder gegenüber. Der Diskurstheoretiker gewinnt dem Rawlsschen Modell des Urzustandes nicht viel ab. Abgesehen davon, daß hier der Unterschied zwischen Grundrechten (die man hat oder nicht) und Grundgütern (die man mehr oder weniger begehrt) zu verschwinden drohe, konstruiere der Theoretiker mit dem Urzustand einen Standpunkt zur Beurteilung von Gerechtigkeitsfragen, über den sich doch erst alle Beteiligten im Diskurs verständigen müßten.
In ungewohnt bildhafter Sprache kritisiert Habermas, die politische Autonomie könne sich so "im Herzen der rechtlich konstituierten Gesellschaft nicht verstetigen"; statt dessen müsse der "radikaldemokratische Glutkern" im Prozeß vernünftiger Meinungs- und Willensbildung ständig neu entfacht werden. Aufgabe des Philosophen bleibe es, die Bedingungen rationaler Diskurse zu rekonstruieren, in denen - so das Credo der Diskursethik - der moralische Gesichtspunkt bereits enthalten ist.
Rawls zeigt sich dieser Version einer prozeduralistisch angelegten Moral- und Rechtstheorie gegenüber nicht gerade kompromißbereit. Gleich zu Beginn seiner Antwort erteilt er dem Vertreter nachmetaphysischen Denkens Redeverbot für die politische Philosophie. Habermas stütze sich nämlich auf eine "umfassende Lehre": eine Theorie kommunikativ handelnder Wesen, die nichts anderes als metaphysisch sei. Angesichts des Pluralismus moralischer und religiöser Überzeugungen in modernen Gesellschaften soll aber eine konsensfähige Gerechtigkeitskonzeption nach Rawls frei von derartigen Einstellungen sein. Weder darf sie die unterschiedlichen Moralvorstellungen kritisieren, noch sich zur Begründung auf sie berufen. Mit dem Schlagwort "politisch, nicht metaphysisch" will Rawls den Anspruch der Theorie beschränken, um so einen "überlappenden Konsens" für die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft zu gewinnen. Statt universeller Diskurstheorie also ein Weltethos der Gerechtigkeit, das dem Streit der Theorien und Weltanschauungen entzogen ist.
Diesen Versuch, "die Theorie zu stärken, indem sie abgeschwächt wird" (Rainer Forst), hält nicht nur Habermas für verfehlt. Ursula Wolf kommt zu dem Schluß, daß Rawls nach beiden Seiten vom angezeigten Weg abweiche. Zum einen mache er selbst "massive Voraussetzungen" zu Person und Gesellschaft, die beileibe nicht von allen geteilt würden; andererseits nehme er die Geltungsansprüche umfassender ethischer Sichtweisen nicht ernst genug, so daß die Strategie der Problemvermeidung entweder unaufrichtig oder inkonsistent sei. Die Hoffnung, in den notwendig zu lösenden Fragen könne auf diese Weise tatsächlich Konsens erzielt werden, bleibe reines Wunschdenken. Christoph Fehige setzt sogar zum philosophischen Knock-out an, wenn er Rawls vorwirft, er habe "gepredigt, nicht begründet", und ihm dann gnadenhalber "menschliche Größe" attestiert.
Ohne Polemik unterzieht Rainer Forst die dreifache Bedeutung von "politisch" bei Rawls einer sorgfältigen Analyse und arbeitet als Grundproblem die mangelnde Unterscheidung von allgemeingültiger Moral und kontextbezogener Ethik heraus. Forst zeigt, wie diese Unterscheidung, die der Grundintuition von Rawls sogar entgegenkomme, in die Theorie integriert werden könnte. Als Maßstab dient ihm dabei, frei nach Habermas, die Art der Rechtfertigung moralischer beziehungsweise ethischer Normen. Dieses Vorgehen kollidiert jedoch, wie Forst einräumt, mit den von Rawls für den Urzustand gemachten substantiellen Annahmen.
Auch Forst kann also den Familienstreit nicht schlichten. Sein Beitrag zählt jedoch - ebenso wie die knappe, aber äußerst hilfreiche Einführung von Wilfried Hinsch - zu denen, die dem Leser die Lektüre von Rawls' zweitem Hauptwerk, "Political Liberalism", erleichtern werden, das in diesen Tagen - endlich - auf deutsch erscheint. ACHIM BAHNEN
Philosophische Gesellschaft Bad Homburg, Wilfried Hinsch (Hrsg.): "Zur Idee des politischen Liberalismus". John Rawls in der Diskussion. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 452 S., br., 29,80 DM.
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