Rosa Mayreder wirft in ihrem Werk zur Weiblichkeit zentrale Themen der Frauenbewegung auf. Sie betrachtet den Begriff der Weiblichkeit losgelöst von ihm anhaftenden Verallgemeinerungen. Rosa Mayreder (1858-1938) war eine österreichische Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, Kulturphilosophin, Librettistin, Musikerin und Malerin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2018Das Geschlecht als Frage der Form
Hellsichtige Diagnosen: Essays der österreichischen Frauenrechtlerin Rosa Mayreder in neuer Ausgabe
In einer neuen Ausgabe werden die Schriften der österreichischen Frauenrechtlerin Rosa Mayreder zum zweiten Male wiederentdeckt. War es zunächst die feministische Bewegung der späten siebziger Jahre, die erste Anstrengungen unternahm, das Werk der 1858 geborenen Autorin zu sichern, erscheinen ihre Texte nun im Horizont einer durch die Gender Studies nachhaltig veränderten Debatte. Unter dem Titel "Zur Kritik der Weiblichkeit" führt die Herausgeberin Eva Geber die gleichnamige Essaysammlung von 1905 mit der Schrift "Weiblichkeit und Kultur" von 1923 zusammen und dokumentiert das Denken einer Persönlichkeit aus dem bürgerlichen Lager der österreichischen Frauenbewegung für die Vorkriegs- wie für die Nachkriegszeit. Rosa Mayreder kämpfte für den Zugang der Frauen zu den Bildungsinstitutionen. Ihren Schriften ist zu entnehmen, warum sie als Autorin wie als Rednerin erfolgreich war.
In der Schrift "Kritik der Weiblichkeit" ergriff sie in einer von den Autoren Otto Weininger, Max Nordau oder Paul J. Möbius beherrschten Geschlechterdiskussion das Wort. Sie widersprach der Annahme, dass das Weib minderwertig und diese Minderwertigkeit in der Physiologie begründet sei, sie widersprach aber auch Auffassungen der weiblichen Seite, die wie Lou Andreas-Salomé das Weib ausschließlich als Gattungswesen bestimmt sehen wollten. Auch wenn sie zu viel Witz besitzt, um die Polemikerin ganz in sich zu verleugnen, begegnet "Kritik der Weiblichkeit" den Behauptungen ihrer Gegner mit wissenschaftlichen Argumenten. Mayreder geht es darum, die Gleichwertigkeit der Geschlechter im Evolutionsprozess darzulegen und die kulturelle Plastizität von Weiblichkeit in der Geschichte der menschlichen Kultur vorzuführen. Weiblichkeit, so liest man schon hier, ist kein biologisches Schicksal, sondern die Summe aller Rollen, die die Gesellschaft ihr aufnötigt, oder die zu spielen ihr selbst gefalle - begrenzt jedoch durch den Gattungsimperativ der Fortpflanzung, durch Schwangerschaft und Gebärauftrag. Während ihre Gegner den Wert einer Kultur daran ablasen, in welchem Maß sie die Geschlechter polarisierte und die Frauen von der Teilhabe an der Kultur ausschloss, betont Mayreder die Nachrangigkeit der Geschlechterdifferenz für die Evolution der Gattung. Am Anfang der Menschheit wie am Anfang des Individuums herrsche die Ungeschiedenheit der frühen Zellstufen. Erst die Moderne habe die reproduktiven Aufgaben der Frau ins Zentrum ihrer Geschlechtermodelle gerückt, um durch rigorose Funktionszuweisung eine längst überwundene, männliche Machtstruktur aufrechtzuerhalten.
Der Gewalt der Polarisierung begegnet Mayreder aber vor allem dadurch, dass sie die Geschichte weiblicher Individualisierung schreibt. Je weiter sich die Gesellschaft von ihren primitiven Anfängen entferne, desto größer würden die Gestaltungsspielräume auch der modernen Frau. Deren Geschichte beginne dort, wo sich diese "als Persönlichkeit" zu fühlen beginne und selbst entscheide, welche "Form" ihren Anlagen am ehesten entspreche. Diese Form sei das Resultat einer Wahl, je nachdem ob sie sich stärker den Aufgaben der Gattungsreproduktion verpflichtet fühle, ob sie die männlichen Anteile in sich kultivieren oder ihre geistigen Anlagen entwickeln wolle.
Dabei ist Mayreder Nietzscheanerin genug, um die Seltenheit solcher Individualisierungen vorauszusetzen. Im Unterschied zu ihren sozialistischen Mitstreiterinnen und geprägt durch den eigenen bürgerlichen Hintergrund, kämpft sie nicht für die Klasse, sondern für die großen Einzelnen, denen sie selbst sich zurechnet. Ihrer Auffassung nach werden neue Lebensformen auch auf weiblicher Seite nicht durch das kollektive Aufbegehren einer Mehrheit, sondern durch Ausnahmefiguren erkämpft, die weniger Frau als Mensch seien: "Ein Gesetz, das aus einem Mehrzahlphänomen hergeleitet ist, hat keine Gültigkeit gegenüber der Individualität." Im Fluchtpunkt ihrer Überlegungen steht nicht die soziale, sondern die private und die anthropologische Utopie. In der Liebe und im Frieden versöhnen sich die Geschlechter, hier führe weibliche Teilhabe endlich zum Ausgleich uralter Konflikte.
Der Zeitgebundenheit dieser Argumentation ungeachtet, überzeugt die intellektuelle und sprachliche Brillanz von Mayreders Analyse, die über Geschlechterfragen hinaus auch eine Soziologie der Macht vorlegt, die diese umgreift. Allein die Schilderung des Typus des "herrischen Erotikers", der sein Verhältnis zu den Frauen nach Maßgabe feudaler Vorbilder gestalte und somit in ein lächerliches Missverhältnis zur Realität der Moderne trete, wird wohl noch eine Zeitlang aktuell bleiben. Das Nachwort der Herausgeberin verabsäumt es jedoch, aktuelle Gesichtspunkte dieser zweiten Wiederentdeckung zu benennen und begnügt sich damit, in unspezifischer Weise die Radikalität Mayreders zu betonen. Eva Geber, selbst feministische Aktivistin, verzichtet auch auf eine historische Kommentierung der Texte. Mit einem nun durch Judith Butler geschärften Blick hätte man Mayreders Hellsichtigkeit gegenüber den performativen Dimensionen des sogenannten weiblichen "Geschlechtscharakters" stärker herausstellen können. Brisant erscheint aus heutiger Perspektive, mit welcher Eindeutigkeit das Geschlecht zuletzt zu einer ästhetischen Frage beziehungsweise zu einer Frage der Form erklärt wird.
Klarer äußert sich die Herausgeberin zum zweiten Teil der Edition, "Kultur und Geschlecht" von 1923, die die Kritik der Weiblichkeit nach dem ersten Weltkrieg unter veränderten Vorzeichen fortsetzte. Der Argumentationsrahmen Mayreders hat sich in dieser späteren Schrift gänzlich verschoben. Die Geschlechterfrage behandelt sie nun im Spannungsfeld von Kultur und Zivilisation. Im Zentrum steht nicht mehr die selbstbestimmte Persönlichkeit, sondern der Kulturauftrag der Frau, die angesichts des 1914 erfolgten Zivilisationsbruches die Aufgabe der Lebensbewahrung zu erfüllen habe. Während sich die männlichen Kräfte in blindem Vertrauen auf den technischen Fortschritt weit von den Lebensgrundlagen entfernt hätten, bleibe es den Frauen vorbehalten, "jene einschränkende Macht zu gewinnen, die dem Strome des zivilisierten Lebens verwehren würde, aus allen Ufern zu treten". Ihr Auftrag sei es, ihre Anliegen aus der privaten Sphäre in den öffentlichen Raum zu tragen. Damit werden die Spielräume wieder preisgegeben, die die "Kritik der Weiblichkeit" eröffnet hatte. Das Gattungswesen trat wieder auf die Szene.
JULIANE VOGEL
Rosa Mayreder: "Zur Kritik der Weiblichkeit". Essays.
Hrsg. von Eva Geber.
Mandelbaum Verlag, Wien 2018. 440 S., br., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hellsichtige Diagnosen: Essays der österreichischen Frauenrechtlerin Rosa Mayreder in neuer Ausgabe
In einer neuen Ausgabe werden die Schriften der österreichischen Frauenrechtlerin Rosa Mayreder zum zweiten Male wiederentdeckt. War es zunächst die feministische Bewegung der späten siebziger Jahre, die erste Anstrengungen unternahm, das Werk der 1858 geborenen Autorin zu sichern, erscheinen ihre Texte nun im Horizont einer durch die Gender Studies nachhaltig veränderten Debatte. Unter dem Titel "Zur Kritik der Weiblichkeit" führt die Herausgeberin Eva Geber die gleichnamige Essaysammlung von 1905 mit der Schrift "Weiblichkeit und Kultur" von 1923 zusammen und dokumentiert das Denken einer Persönlichkeit aus dem bürgerlichen Lager der österreichischen Frauenbewegung für die Vorkriegs- wie für die Nachkriegszeit. Rosa Mayreder kämpfte für den Zugang der Frauen zu den Bildungsinstitutionen. Ihren Schriften ist zu entnehmen, warum sie als Autorin wie als Rednerin erfolgreich war.
In der Schrift "Kritik der Weiblichkeit" ergriff sie in einer von den Autoren Otto Weininger, Max Nordau oder Paul J. Möbius beherrschten Geschlechterdiskussion das Wort. Sie widersprach der Annahme, dass das Weib minderwertig und diese Minderwertigkeit in der Physiologie begründet sei, sie widersprach aber auch Auffassungen der weiblichen Seite, die wie Lou Andreas-Salomé das Weib ausschließlich als Gattungswesen bestimmt sehen wollten. Auch wenn sie zu viel Witz besitzt, um die Polemikerin ganz in sich zu verleugnen, begegnet "Kritik der Weiblichkeit" den Behauptungen ihrer Gegner mit wissenschaftlichen Argumenten. Mayreder geht es darum, die Gleichwertigkeit der Geschlechter im Evolutionsprozess darzulegen und die kulturelle Plastizität von Weiblichkeit in der Geschichte der menschlichen Kultur vorzuführen. Weiblichkeit, so liest man schon hier, ist kein biologisches Schicksal, sondern die Summe aller Rollen, die die Gesellschaft ihr aufnötigt, oder die zu spielen ihr selbst gefalle - begrenzt jedoch durch den Gattungsimperativ der Fortpflanzung, durch Schwangerschaft und Gebärauftrag. Während ihre Gegner den Wert einer Kultur daran ablasen, in welchem Maß sie die Geschlechter polarisierte und die Frauen von der Teilhabe an der Kultur ausschloss, betont Mayreder die Nachrangigkeit der Geschlechterdifferenz für die Evolution der Gattung. Am Anfang der Menschheit wie am Anfang des Individuums herrsche die Ungeschiedenheit der frühen Zellstufen. Erst die Moderne habe die reproduktiven Aufgaben der Frau ins Zentrum ihrer Geschlechtermodelle gerückt, um durch rigorose Funktionszuweisung eine längst überwundene, männliche Machtstruktur aufrechtzuerhalten.
Der Gewalt der Polarisierung begegnet Mayreder aber vor allem dadurch, dass sie die Geschichte weiblicher Individualisierung schreibt. Je weiter sich die Gesellschaft von ihren primitiven Anfängen entferne, desto größer würden die Gestaltungsspielräume auch der modernen Frau. Deren Geschichte beginne dort, wo sich diese "als Persönlichkeit" zu fühlen beginne und selbst entscheide, welche "Form" ihren Anlagen am ehesten entspreche. Diese Form sei das Resultat einer Wahl, je nachdem ob sie sich stärker den Aufgaben der Gattungsreproduktion verpflichtet fühle, ob sie die männlichen Anteile in sich kultivieren oder ihre geistigen Anlagen entwickeln wolle.
Dabei ist Mayreder Nietzscheanerin genug, um die Seltenheit solcher Individualisierungen vorauszusetzen. Im Unterschied zu ihren sozialistischen Mitstreiterinnen und geprägt durch den eigenen bürgerlichen Hintergrund, kämpft sie nicht für die Klasse, sondern für die großen Einzelnen, denen sie selbst sich zurechnet. Ihrer Auffassung nach werden neue Lebensformen auch auf weiblicher Seite nicht durch das kollektive Aufbegehren einer Mehrheit, sondern durch Ausnahmefiguren erkämpft, die weniger Frau als Mensch seien: "Ein Gesetz, das aus einem Mehrzahlphänomen hergeleitet ist, hat keine Gültigkeit gegenüber der Individualität." Im Fluchtpunkt ihrer Überlegungen steht nicht die soziale, sondern die private und die anthropologische Utopie. In der Liebe und im Frieden versöhnen sich die Geschlechter, hier führe weibliche Teilhabe endlich zum Ausgleich uralter Konflikte.
Der Zeitgebundenheit dieser Argumentation ungeachtet, überzeugt die intellektuelle und sprachliche Brillanz von Mayreders Analyse, die über Geschlechterfragen hinaus auch eine Soziologie der Macht vorlegt, die diese umgreift. Allein die Schilderung des Typus des "herrischen Erotikers", der sein Verhältnis zu den Frauen nach Maßgabe feudaler Vorbilder gestalte und somit in ein lächerliches Missverhältnis zur Realität der Moderne trete, wird wohl noch eine Zeitlang aktuell bleiben. Das Nachwort der Herausgeberin verabsäumt es jedoch, aktuelle Gesichtspunkte dieser zweiten Wiederentdeckung zu benennen und begnügt sich damit, in unspezifischer Weise die Radikalität Mayreders zu betonen. Eva Geber, selbst feministische Aktivistin, verzichtet auch auf eine historische Kommentierung der Texte. Mit einem nun durch Judith Butler geschärften Blick hätte man Mayreders Hellsichtigkeit gegenüber den performativen Dimensionen des sogenannten weiblichen "Geschlechtscharakters" stärker herausstellen können. Brisant erscheint aus heutiger Perspektive, mit welcher Eindeutigkeit das Geschlecht zuletzt zu einer ästhetischen Frage beziehungsweise zu einer Frage der Form erklärt wird.
Klarer äußert sich die Herausgeberin zum zweiten Teil der Edition, "Kultur und Geschlecht" von 1923, die die Kritik der Weiblichkeit nach dem ersten Weltkrieg unter veränderten Vorzeichen fortsetzte. Der Argumentationsrahmen Mayreders hat sich in dieser späteren Schrift gänzlich verschoben. Die Geschlechterfrage behandelt sie nun im Spannungsfeld von Kultur und Zivilisation. Im Zentrum steht nicht mehr die selbstbestimmte Persönlichkeit, sondern der Kulturauftrag der Frau, die angesichts des 1914 erfolgten Zivilisationsbruches die Aufgabe der Lebensbewahrung zu erfüllen habe. Während sich die männlichen Kräfte in blindem Vertrauen auf den technischen Fortschritt weit von den Lebensgrundlagen entfernt hätten, bleibe es den Frauen vorbehalten, "jene einschränkende Macht zu gewinnen, die dem Strome des zivilisierten Lebens verwehren würde, aus allen Ufern zu treten". Ihr Auftrag sei es, ihre Anliegen aus der privaten Sphäre in den öffentlichen Raum zu tragen. Damit werden die Spielräume wieder preisgegeben, die die "Kritik der Weiblichkeit" eröffnet hatte. Das Gattungswesen trat wieder auf die Szene.
JULIANE VOGEL
Rosa Mayreder: "Zur Kritik der Weiblichkeit". Essays.
Hrsg. von Eva Geber.
Mandelbaum Verlag, Wien 2018. 440 S., br., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main